Blindenschule

Wer wenig sieht, kann trotzdem viel begreifen

Lernen ist für Kinder mit Sehbehinderung nicht schwieriger, aber anders. BILDUNG SCHWEIZ hat die Blindenschule in Zollikofen besucht, welche die Welt für die Kinder begreifbar macht.

Ein Junge geht mit einem Blindenstock einen Weg entlang.
Dank Karten mit Relief können sehbehinderte Kinder ihren Weg mit dem Blindenstock dennoch finden. Fotos: Claudia Baumberger

«Was ist eine Anleitung?», fragt die Klassenlehrerin Stefanie Müller. Die fünf Schüler und Schülerinnen wissen es: «Das ist eine Information, wie man etwas einrichtet.» «Sie zeigt, wie man etwas baut.» Die Lehrerin ergänzt, dass auch ein Wegbeschrieb eine Anleitung sein kann und genau darum geht es nun: Alle Kinder erhalten ein Blatt mit einer Wegbeschreibung. Der Weg ist für jedes Kind anders, das Ziel ist für alle dasselbe. «Oh, gibt es dort einen Schatz?», fragt eines der Kinder neugierig und aufgeregt. «Vielleicht», antwortet die Lehrerin geheimnisvoll.

Müller unterrichtet an der Blindenschule im bernischen Zollikofen. Vier der fünf Kinder ihrer Klasse haben eine Sehbehinderung mit unterschiedlichen Sehresten und eines ist vollständig blind. Das hält sie aber nicht auf. Alle schlüpfen rasch und selbstständig in ihre Jacken und Schuhe. 

Die Lehrerin gibt jedem Kind ein individuell vorbereitetes Blatt: Drei Kinder erhalten ein vollständig weisses Blatt mit unterschiedlich angeordneten, kleinen hervorstehenden Punkten. Ein Kind erhält ein Blatt, auf dem der Text mit grosser Schrift steht und ein anderes ein Blatt, bei dem vor jedem Abschnitt ein runder Punkt aufgeklebt ist.

Handelnd lernen

In der Schweiz sind rund 1,5 Prozent der Kinder und Jugendlichen unter 20 Jahren sehbehindert oder blind. Die Kinder in Müllers Klasse sind zwischen acht und zwölf Jahren. Ihr Unterricht folgt dem Lehrplan 21. Handelndes Lernen, wie bei der Aufgabe mit der Wegbeschreibung, spielt dabei eine wichtige Rolle. Es soll die Schülerinnen und Schüler handlungsfähig und selbstständig machen.

Bei vollzähliger Klasse ist stets eine Assistenz mit dabei im Klassenzimmer. Die Kinder sind jedoch nur wenige Lektionen bei ihrer Klassenlehrerin, weil sie zusätzlich pädagogische und medizinische Therapien haben. Die Schule bietet auch heilpädagogisches Reiten an. Dazu kommt blinden- oder sehbehindertenspezifischer Fachunterricht. 

Um im Alltag zurechtzukommen, müssen die Kinder lernen, ihre nicht beeinträchtigten Sinne gezielt einzusetzen.

Um im Alltag zurechtzukommen, müssen die Kinder lernen, ihre nicht beeinträchtigten Sinne gezielt einzusetzen. Ein Fach fokussiert dabei zum Beispiel auf Orientierung und Mobilität. Dort lernen sie, sich in ihrer Umwelt zu orientieren, mit dem Lang- oder Signalstock und selbstständig unterwegs zu sein. Ein weiteres Fach ist der Blindenschrift gewidmet, der sogenannten Brailleschrift.

Individuelle Förderung

Der Fachunterricht vermittelt auch lebenspraktische Fähigkeiten wie beispielsweise das Anziehen der Kleidung, Körperhygiene, Putzen und Kochen. Die Kinder lernen zudem den Umgang mit Computer, Tablet und Handy. Diese sind mit Vergrösserungs- und Screenreader-Programmen sowie mit zusätzlichen Geräten für Brailleschrift ausgestattet.

Die Kinder haben zwischen zwei und acht Lektionen Fachunterricht pro Woche. Diese werden an die individuellen Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler angepasst. Dank kleiner Klassen und der vielen Lehr- und Assistenzpersonen können die Kinder in Zollikofen individuell betreut und gefördert werden. Das, findet Müller, wäre eigentlich auch für Kinder in der Volksschule ein Gewinn.

Dank der engen und individuellen Betreuung können Betreuungspersonen der Blindenschule auftauchende Schwierigkeiten und Probleme rasch angehen. Im Team tauschen sich die Erwachsenen zudem rege aus. Das gebündelte Fachwissen und die gegenseitige Unterstützung sind laut Müller im Schulalltag eine Erleichterung. «Wir müssen uns nicht alles immer neu überlegen, wenn jemand schon gute Erfahrungen gemacht hat», sagt die Klassenlehrerin.

Böden erleichtern Orientierung

Im Gang des Schulhauses beschäftigt sich nun jedes Kind mit seiner individuell aufbereiteten Wegbeschreibung. Die einen Kinder tasten mit ihren Fingern über ihr weisses Blatt mit den kleinen Noppen, andere nehmen ihr Blatt sehr nahe an ein Auge und entziffern so die Informationen darauf. Schnell merken alle: Es geht Richtung Pausenplatz. Die zwei Kinder, die noch über Sehresten verfügen, springen schnell hin. 

Die Kinder sind flink unterwegs und können sich in ihrer gewohnten Umgebung sehr gut orientieren. 

Jene, die nur hell und dunkel unterscheiden können, oder ganz blind sind, tasten sich mit dem Blindenstock den Gang entlang. Aber auch diese Kinder sind flink unterwegs und können sich in ihrer gewohnten Umgebung sehr gut orientieren. 

Müller und ihre Klassenassistenz haben stets ein Auge auf die Kinder und beantworten ihre Fragen. Auf dem Pausenplatz trennen sich dann die Wege der Kinder. Dank der unterschiedlich beschaffenen Oberflächen der Böden des Schulhausgeländes finden sich auch die mit dem Blindenstock zurecht. Bald treffen alle am Ziel ein: Auf der Schaukel steht für jedes Kind ein Säckchen mit Süssigkeiten.

Schule stellt Lehrmittel her

Zurück im Schulzimmer arbeitet jedes Kind an seinem Wochenplan für die Fächer Deutsch und Mathematik weiter. Einige Kinder knobeln mit einem Holzdreieck an Rechenspielen oder machen entweder in einem Buch oder mittels Computer ihre Deutschübungen. Einige der verwendeten Lehrmittel wurden spezifisch für den Unterricht an der Blindenschule hergestellt.

Für die Lehrmittel gibt es an der Blindenschule eine eigene Abteilung. Fünf Personen bereiten da Lehrmittel auf, die taktiles Lernen ermöglichen. Sie stellen Modelle, Reliefs, Bücher in Brailleschrift, tastbare Laserkopien und Spiele für den Unterricht her. Für die Kinder ist der Unterricht aber für diesen Vormittag zu Ende. Sie stürmen aus dem Schulzimmer an den Mittagstisch.

Blindenmuseum

Die Blindenschule Zollikofen hat ein interaktives Museum, das den Besucherinnen und Besuchern einen Eindruck von der Welt der Sehbehinderten und Blinden vermittelt. Das Museum hat jeweils an einzelnen Nachmittagen geöffnet. Für Schulklassen können zudem Workshops an beliebigen Tagen gebucht werden. Diese orientieren sich am Lehrplan 21. Der Kurs dauert drei Stunden und kostet 300 Franken. 2025 feiert das Museum 200 Jahre Brailleschrift. Mehr Informationen: blindenmuseum.ch

Autor
Claudia Baumberger

Datum

07.05.2025

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