Eine neue Klasse sitzt im Schulzimmer. Noch weiss die Lehrperson nicht, was die einzelnen Kinder können. Der erste Eindruck hinterlässt aber schon Spuren: Wie wird es wohl jenem Jungen ergehen? Oder diesem Mädchen? Erwartungen von Lehrpersonen sollten jedoch nicht auf ersten Eindrücken, sondern auf leistungsrelevanten Informationen über Schülerinnen und Schüler basieren. Solche Informationen sind zum Beispiel Antworten bei Übungsaufgaben oder mündliche Beiträge.
Das ist wichtig, wie aktuelle Forschungsresultate zeigen. Erwartungen beeinflussen die Wahrnehmung, Entscheidungen und Verhaltensweisen eines Menschen. Für sich allein betrachtet, ist das zwar durchaus sinnvoll: Erwartungen helfen, Komplexität zu reduzieren. Geschehnisse werden eher wahrgenommen, wenn sie erwartet werden, während Unerwartetes eher nicht gesehen wird.
Lehrpersonen begegnen im Unterricht grosser Komplexität. Sie erhalten zeitgleich viele Informationen und müssen diese schnell verarbeiten. Es liegt auf der Hand, dass Erwartungen das Handeln von Lehrpersonen im Unterricht lenken und regulieren. Basieren die Erwartungen auf nicht leistungsrelevanten Merkmalen, kann sich dies jedoch ungünstig auf die Schulkinder auswirken.
Systematische Zuschreibungen
Die Erkenntnisse aus der Forschung legen einen solchen Zusammenhang nahe. Sie entbehren nicht einer gewissen Brisanz: Erwartungen von Lehrpersonen basieren zwar zu einem bedeutsamen Anteil auf tatsächlich gezeigten Leistungen der Schülerinnen und Schüler. Bei einer auf Gruppen bezogenen Betrachtung zeigt sich jedoch, dass es systematische Verzerrungen gibt: Lehrpersonen nehmen oft Kinder aus sozial bessergestellten Familien als besonders leistungsstark wahr. Ebenso werden Mädchen im sprachlichen Bereich und Jungen im Fach Mathematik häufig als besonders leistungsstark wahrgenommen – auch wenn sie in Leistungstests ähnlich abschneiden.
Solche verzerrten Erwartungen können Chancenungleichheiten in der Schule verfestigen. Im Gegensatz dazu begünstigen hohe Erwartungen, die sich am Leistungsstand orientieren, den Ausgleich. Traut eine Lehrperson ihren Schülerinnen und Schülern bedeutsame Leistungssteigerungen zu, lernen sie tatsächlich mehr dazu als jene, deren Lehrperson nicht viel von ihnen erwartet. Bemerkenswerterweise haben erstere auch weniger Angst und sind von ihren Fähigkeiten überzeugter.
Reflexion ist wichtig
Was kann eine Lehrperson nun tun, um hohe Erwartungen an alle Schülerinnen und Schüler zu richten und dies im Unterricht auch zu zeigen?
Wichtig ist dabei, sich mit den eigenen Überzeugungen auseinanderzusetzen und zu überprüfen, ob Erwartungen möglicherweise nicht auf tatsächlich gezeigten Leistungen beruhen. Zudem können Reflexionen des eigenen Verhaltens verzerrten Erwartungen entgegenwirken und eine ungünstige Beeinflussung der Leistung vermeiden helfen. Nützlich sind dabei Fragen wie die folgenden: «Traue ich jedem Kind, egal aus welchem Elternhaus und egal welchen Geschlechts, Leistungssteigerungen zu?» oder «Zeige ich während des Unterrichts allen Schülerinnen und Schülern, dass ich ihnen Leistungssteigerungen zutraue?»
Lehrpersonen sollten weiter darauf achten, zusätzlich zu ihren hohen Erwartungen ein angenehmes Klassenklima zu schaffen. Und sie sollten variable, heterogene Lerngruppen zusammenstellen, klare Lernziele kommunizieren und ein lernzielbezogenes Feedback geben. Wenn dies gelingt, helfen hohe Erwartungen allen Kindern, ihr Leistungspotenzial bestmöglich auszuschöpfen. Was wiederum einen Beitrag zum Ausgleich von Bildungsungleichheiten leistet.