Unterrichtsplanung über die Jahrhunderte

Von den sieben freien Künsten zum Lehrplan 21

Ein Lehrplan auf 15 Seiten? Schwer vorstellbar, berücksichtigt man die rund 500 Seiten des aktuellen Lehrplans 21. Doch haben sich die Erwartungen an den Unterricht im Lauf der Zeit stark verändert, wie Lucien Criblez von der Universität Zürich erklärt.

Gestapelte alte Bücher auf einem Tisch.
Die Zeit brachte verschiedene Lehrmodelle hervor. Bild: Chris Lawton/Unsplash

Der Lehrplan 21 ist ein Koloss: Die Vorlage informiert auf rund 500 Seiten über die Kompetenzen, die in den Schweizer Schulen vermittelt werden sollen. Lehrpläne waren nicht immer so umfangreich. Pro Schuljahr und Schulstufe umfassten sie bis in die 1970er-Jahre nur wenige Seiten. Lucien Criblez, Professor für Historische Bildungsforschung und Steuerung des Bildungssystems an der Universität Zürich, erklärt gegenüber BILDUNG SCHWEIZ, wie sich Lehrpläne und der Fokus des Unterrichts über die Jahrhunderte verändert haben.

Die sieben freien Künste

Eine frühe Art von Lehrplan setzte sich bereits in der frühen Neuzeit durch. Er orientierte sich an den sogenannten sieben freien Künsten, einem antiken Kanon. Sie waren in zwei Gruppen unterteilt. Zum sogenannten Trivium gehörten die Fächer Grammatik, Rhetorik und Dialektik respektive Logik. Zum sogenannten Quadrivium gehörten Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie. Diese «Künste» galten als Vorbereitung auf das Studium in Medizin, Theologie und Jurisprudenz. Sie blieben bis ins 19. Jahrhundert Teil der Vorbildung für die Universität. Erst dann wurden sie zu eigenen vollwertigen Studienfächern, wie Lucien Criblez erklärt.

Doch erhielten nicht nur diejenigen Personen Unterricht, die ein Studium anstrebten. «Unterrichtet wurde in der frühen Neuzeit zunächst der kirchliche Nachwuchs und danach die politische Elite», sagt Lucien Criblez. «Nachher erhielten vor allem Kinder aus dem allmählich entstehenden Bürgertum Unterricht, angefangen mit den Kaufleuten.» Das liegt daran, dass es in Handelskreisen wichtig war, lesen, schreiben und rechnen zu können. «Dann bezog man zuerst in der Stadt und später auf dem Land immer mehr Gruppen von Kindern mit ein.»

Klöster als Bildungsstätten

Parallel zu dem zunehmend breiteren Publikum für Bildung wuchs auch die Zahl der «Anbieter» von Schulen. Zunächst gab es vor allem in Klöstern und im kirchlichen Umfeld Unterricht. Ab dem 12. Jahrhundert entstanden erste Universitäten und ab dem 13. Jahrhundert begannen Städte, Schulen einzurichten. In den Städten entstanden dann auch private Unterrichtsangebote. Ab dem 17. Jahrhundert erhielten auch die Kinder auf dem Land zunehmend Zugang zu Bildung. In den Kantonen Zürich, Bern oder Genf gab es gar bereits eine Art Schulpflicht.

 «Lehrpläne gab es zunächst nur für die höhere Bildung.»

Trotz den wachsenden Möglichkeiten, eine Ausbildung zu erhalten, gab es nicht für alle Schulstufen verschriftlichte Lehrprogramme: «Lehrpläne gab es zunächst nur für die höhere Bildung», sagt Criblez. «Für die Volksbildung existierte eine Art Anweisung für die Lehrerschaft. Das Wichtigste wurde – sehr allgemein – zum Beispiel in den Landschulverordnungen geregelt. Eigentliche Lehrpläne für die Primar- und die Sekundarschule wurden meist erst nach 1830 eingeführt.»

Die Kirche verschwindet aus der Schule

Die Einführung dieser Lehrpläne erfolgte zeitlich ungefähr parallel zu einem Prozess, in welchem der Lehrberuf staatlich zertifiziert wurde. In den 1830er- und 1840er-Jahren übernahmen die Kantone die Verantwortung für das Unterrichten. «Die Kirche wurde allmählich aus der Schule hinausgedrängt», sagt Criblez. «Bestimmten bis dahin weitgehend die Kirchen, was gelehrt und gelernt wurde, übernahmen der Staat respektive die Kantone jetzt diese normative Funktion. Das Instrument dafür waren nun verbindliche Lehrpläne und später auch obligatorische Lehrmittel.» Diese Instrumente sollten zusammen mit der staatlichen Lehrerbildung, den Schulaufsichten und der Unterrichtspflicht die Qualität der Schulen auf eine Art Minimalstandard bringen.

Lehrpläne hatten laut Criblez aber noch eine andere Funktion: Sie garantierten eine bestimmte Einheitlichkeit des Unterrichts im Hinblick auf Selektionen. «Denn wenn allen Kindern dasselbe Recht auf Bildung zukommt, dann lassen sich Selektionen in die höhere Bildung über Geburt und Stand nicht mehr legitimieren.» Selektion nur aufgrund von Leistung hiess die neue Devise. Der Lehrplan wurde zur Richtschnur dafür.

Der Lehrplan auf 15 Seiten

Bis in die 1970er-Jahre umfassten die Lehrpläne in der Regel nur ungefähr 15 bis 40 Seiten – kaum vergleichbar mit dem aktuellen Lehrplan 21. Das hatte aber auch einen guten Grund: Die früheren Pläne informierten lediglich über den Stoff, den die Schülerinnen und Schüler in jedem Schulfach und jedem Schuljahr lernen sollten.

Doch das änderte sich: «In den 1970er- und 1980er-Jahren wurde die Lehrpläne auf Lernzielorientierung umgestellt und waren nun in aller Regel mehrere 100 Seiten dick», erklärt Criblez. Der Lehrplan wurde ergänzt, etwa mit Lernzielen zur Sozial- oder Selbstkompetenz oder mit fächerübergreifenden Kompetenzen, didaktisch-methodischen Inhalten und so weiter. Das zu Lehrende und zu Lernende sollte nicht nur in Form von Lernzielen formuliert werden, sondern das Erreichen dieser Lernziele sollte auch überprüfbar sein. Dabei wurden bereits Diskussionen geführt, die auch bei der Erstellung des Lehrplans 21 beschäftigten: Welches sind in welchem Alter sinnvolle Lerngegenstände? Wie sollen Lernziele gruppiert werden? Wie viel Zeit steht dafür zur Verfügung? Was soll in diesen Zeitgefässen genau gelernt werden?

«Einzelne Kantone wollten, dass Schule in der Bundesverfassung von 1848 zentral geregelt würde, scheiterten damit aber kolossal»

Erste Anläufe zur Harmonisierung

In der Schweiz erschwert der Föderalismus das Finden eines kantonsübergreifenden Konsenses. Harmonisierte Lehrpläne oder Vorgaben zum Bildungswesen waren daher schon immer schwierig. Erste Versuche hin zu einer Harmonisierung gab es während der Helvetik von 1798 bis 1803. Doch fehlte es an Geld, Zeit und an Durchsetzungskraft des Zentralstaates, um umfassende Änderungen nachhaltig zu etablieren. «Einzelne Kantone wollten dann, dass Schule in der Bundesverfassung von 1848 zentral geregelt würde, scheiterten damit aber kolossal», sagt Criblez.

In den kommenden Dekaden erlitten verschiedene weitere Harmonisierungsversuche dasselbe Schicksal oder sie hatten nur wenig Einfluss auf die bildungspolitische Realität. Zumindest gab es ab den 1950er-Jahren eine Lehrplan- und Lehrmittelkoordination zwischen den französischsprachigen und den Zentralschweizer Kantonen. Diese Zusammenarbeit wurde schrittweise auf- und ausgebaut. Trotzdem blieben die Lehrpläne bis zum Lehrplan 21 weitgehend kantonale Angelegenheiten.

Lehrpläne sind Zeitdokumente

Trotz den Veränderungen des Bildungswesens über die Jahrhunderte haben sich einige Lerninhalte bis heute gehalten. Lesen, Schreiben und Rechnen zählen noch immer zur Basis des Lernstoffs der ersten Schuljahre. Zudem haben sich einige gymnasiale Fächer bereits in den Vorformen des Gymnasiums ab dem 16. Jahrhundert herausgebildet.

Heute verfolgen die französischsprechenden Teile der Schweiz den PER (Plan d’Études Romand). Die Deutschschweizer Kantone konnten sich auf den Lehrplan 21 einigen. Wird er überdauern? «Er wird mit Sicherheit früher oder später überarbeitet werden müssen, denn Lehrpläne sind Zeitdokumente», sagt Criblez. «Sie lassen sich nicht einfach wissenschaftlich zeitlos legitimieren, sondern widerspiegeln immer Problemlagen, Herausforderungen und Werte einer Gesellschaft.»

Im Fall einer Revision ist der erneute Streit um die Inhalte des Lehrplans und die Lektionentafeln zudem vorprogrammiert. Was erhofft sich Criblez von künftigen Lehrplänen? «Sie sind hoffentlich weniger umfangreich und enthalten weniger Kompetenzen. Derzeit ist das Werk recht unübersichtlich.»

Autor
Kevin Fischer

Datum

08.08.2023

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