150 Jahre Schulpflicht

Unterricht ist obligatorisch, gratis – und nicht an einen Ort gebunden

Vor 150 Jahren wurde der unentgeltliche obligatorische Unterricht schweizweit eingeführt. Eine schwammige Formulierung hingegen hat Auswirkungen bis heute.

Auf dem Gemälde «Turnstunde in Ins» stehen Kinder in einer Reihe oder sie marschieren auf einem Schulhausplatz. Eine männliche Lehrperson leitet sie an.
Marschieren in Formation: Albert Ankers Gemälde «Turnstunde in Ins» zeigt, wie Sportunterricht früher ausgesehen hat. Bild: «Turnstunde in Ins» von Albert Anker, 1879, Koller Auktionen Zürich

Die Schweizer Bundesverfassung erfuhr 1874 eine Totalrevision. Eine der Neuerungen betraf die Schulen: Die Schulpflicht und das Recht auf unentgeltlichen Unterricht wurde in der Schweiz zum ersten Mal auf nationaler Ebene festgehalten. So hiess es nun in Artikel 27:

  • Die Kantone sorgen für genügenden Primarunterricht, der ausschliesslich unter staatlicher Leitung stehen soll. Dieser ist obligatorisch und in den öffentlichen Schulen unentgeltlich.
  • Die öffentlichen Schulen sollen von den Angehörigen aller Bekenntnisse ohne Beeinträchtigung ihrer Glaubens- und Gewissensfreiheit besucht werden können.
  • Für die Zeit des obligatorischen Schulunterrichts beginnt das Schuljahr zwischen Mitte August und Mitte September.

Es stellen sich zwei Fragen: Wieso wurde die Schulpflicht erst so spät gesetzlich verankert? Und wieso in dieser knappen Form? Mit ihrer nationalen Schulgesetzgebung war die Schweiz im internationalen Vergleich tatsächlich eher spät, sagt Bildungswissenschaftler Lukas Boser Hofmann. Aber: «Auf kantonaler Ebene war das Obligatorium meist schon viel früher Tatsache, zum Teil seit Jahrhunderten.» So führte Genf bereits 1536 eine Schulpflicht ein, Bern 1615 und Zürich 1637. Nur gerade der Kanton Uri kannte 1874 noch keine Schulpflicht.

Die Verankerung der Schulpflicht in der nationalen Verfassung war also eher ein symbolischer Akt. Zugleich war er ein minimaler Konsens. Eine wirkliche Zentralisierung der Schulsysteme gibt es in der Schweiz bis heute nicht. Bildung war und ist Sache der Kantone. Dazu kam die Angst der katholischen Kantone vor der protestantischen Mehrheit. Bildung hing noch stark mit religiösen Werten zusammen. 

Nachdem in der ersten Bundesverfassung von 1848 die Volksschule noch mit keinem Wort erwähnt war, brauchte es mehrere Anläufe bis zur Minimalformulierung von 1874, dass der Primarunterricht obligatorisch, genügend, konfessionslos, kostenlos und von den Kantonen garantiert ist. Die unpräzise Formulierung «genügend» wurde mit der Zeit durch «ausreichend» ersetzt, was die Sache aber kaum konkreter macht.

«Man hatte sicher eine Vorstellung, was das genau heisst, hat es aber nicht näher definiert – aus Angst, dass sich die Kantone dagegen wehren», sagt Boser Hofmann. Symptomatisch ist auch, dass in der Verfassung nicht von einer «Schulpflicht» die Rede ist. «Wir haben in der Schweiz de facto eine Unterrichtspflicht. Wo dieser stattfindet, ist nirgends verbindlich festgelegt», sagt Boser Hofmann. Das hat Auswirkungen bis heute – doch dazu später mehr.

Das Trauma des Schulvogts

Die Minimalformulierung zum Primarunterricht in der Verfassung 1874 war nicht allen genug: Es gab weitere Versuche zur Zentralisierung des Schulsystems. Ende des 19. Jahrhunderts wollte der Bundesrat einen nationalen Erziehungssekretär schaffen. «Dieser hätte erfassen und erheben sollen, was in den Kantonen gemacht wird. Darauf basierend wären später höchstwahrscheinlich ein Minimallehrplan und Vorgaben aus Bern gefolgt», sagt Boser Hofmann.

Dank dem Militär sah man erstmals die kantonalen Unterschiede beim Bildungsstand.

Die Kantone ergriffen das Referendum. So kam es 1882 zur Abstimmung und der «Schulvogt» wurde bachab geschickt: Fast 65 Prozent der Stimmbevölkerung und fast alle Stände sagten Nein. Dies, obwohl eine Mehrheit des Parlaments und auch der Lehrerverband dafür waren. «Dass das Volk einen Beschluss von Parlament und Bundesrat so deutlich ablehnte, hatte starke Signalwirkung», sagt Boser Hofmann. Der Schock hat lange gewirkt: Fast 100 Jahre lang habe die Politik danach die Finger von weiteren Vereinheitlichungen gelassen.

Es brauchte das Militär ...

Der «genügende Primarunterricht» in der Verfassung sagte noch nichts über die tatsächliche Qualität der Bildung aus. Es gab gravierende Qualitätsprobleme, schlecht ausgebildete Lehrer und marode Schulhäuser. Dass es trotzdem zu einer qualitativen Vereinheitlichung des Unterrichts kam, ist dem Militär zu verdanken. Um den Bildungsstand der einrückenden Männer zu prüfen und zu vergleichen, führte die Armee aus eigenem Antrieb Tests durch. Zwischen 1875 und 1914 wurden die Kompetenzen in Lesen, Schreiben, Rechnen und Vaterlandskunde erfasst und vom Bundesamt für Statistik ausgewertet.

«Erstmals gab es Ranglisten und auf Karten sah man die Unterschiede im Bildungsstand zwischen den Kantonen», sagt Boser Hofmann. Mit Folgen: Es führte dazu, dass schlechte Kantone begannen, massiv in die Bildung zu investieren. «Es entstand ein Bildungswettbewerb zwischen den Kantonen, der dazu führte, dass sich diese anglichen», sagt Boser Hofmann. Einheitliche Standards begannen sich durchzusetzen, die Infrastruktur wurde besser und Kantone bemühten sich, dass alle Kinder die Schule besuchten. Gemäss Boser Hofmann beschleunigten die Tests des Militärs alles in allem die Durchsetzung der Schulpflicht.

Zur Person

Lukas Boser Hofmann ist Lehrbeauftragter am Institut für Bildungswissenschaften der Universität Basel. Einer seiner Forschungsschwerpunkte ist schweizerische und internationale Schulgeschichte vom 18. bis ins 20. Jahrhundert.

… und die Wirtschaft

Aus der Geschichte weiss man: Die Schulpflicht kann sich erst durchsetzen, wenn Eltern in der Bildung einen Sinn erkennen. «Lange sahen viele Familien die Schule als Zeitverlust an, während der ihre Kinder nicht arbeiten konnten», sagt Boser Hofmann. Die Einsicht, dass Bildung eine Investition in die Zukunft ist, begann sich erst im späten 19. Jahrhundert durchzusetzen. Entscheidend dafür waren die Einführung der Sozialversicherung und der gesetzliche Schutz der Kinder vor Fabrikarbeit 1877.

Gleichzeitig nahm die Bedeutung der Landwirtschaft ab, wo Kinderarbeit weiter erlaubt war. «Es setzte sich in Familien die Vorstellung durch, dass es sich in Zukunft auszahlen wird, wenn Kinder die Schule besuchen», sagt Boser Hofmann. Auch diese Einsicht hat dazu beigetragen, dass sich die Schulpflicht in den Köpfen und in der Praxis durchgesetzt hat. Bildung wurde nicht mehr als Zwang angesehen, sondern wurde zu einer sinnvollen Alternative zur Arbeit.

Die Schulpflicht bleibt Thema

Heute ist die Schulpflicht längst selbstverständlich, auch wenn wir noch immer 26 verschiedene Schulsysteme kennen. Das wird wohl so bleiben: «Bildungswesen und Schule werden auch in Zukunft Sache der Kantone bleiben. Wir haben kein nationales Bildungsministerium. Der Bund hat gar keine Möglichkeit, hier etwas vorzugeben», sagt Boser Hofmann. Die einzige Möglichkeit wäre, die Verfassung zu ändern. Das geschah letztmals 2012, als der Musikunterricht darin verankert wurde.

Eine kleine Minderheit will ihre Kinder nicht an staatliche Schulen schicken.

Bezüglich Unterrichtspflicht lässt die Verfassung also bis heute grossen Interpretationsspielraum, den die Kantone unterschiedlich handhaben. Dazu zählt wie bereits erwähnt auch der Ort des Unterrichts. Ein Beispiel dafür ist Homeschooling, wo Eltern ihre Kinder daheim unterrichten. Man schätzt die Fälle auf über 4000 Kinder in der Schweiz. «Eine kleine, jedoch in den Medien immer wieder präsente Minderheit will ihre Kinder nicht in staatliche Schulen schicken. Das verstösst nicht gegen die Verfassung, wirft aber die Frage auf, wie sinnvoll das ist und ob es der Intention der Verfassung entspricht», sagt Boser Hofmann.

Dass der Verfassungsauftrag zuweilen interpretiert werden muss, zeigen die ausserschulische Betreuung beziehungsweise vorschulische Kurse. Muss die obligatorische Schule Angebote wie Mittagstisch, Hausaufgabenhilfe oder Ganztagesbetreuung kostenlos anbieten? Dürfen vorschulische Kurse zur Pflicht erklärt und gleichzeitig die Eltern zur Kasse gebeten werden, so wie dies einige Kantone versuchten? Das Bundesgericht schob letzterem einen Riegel vor. Denn dies sei nicht mit dem in der Verfassung garantierten Anspruch auf einen kostenlosen Grundschulunterricht zu vereinbaren, wie es in einem Bundesgerichtsurteil von 2017 im Falle des Kantons Thurgau heisst.

Die Beispiele zeigen: Auch 150 Jahre nach Einführung der Schulpflicht gehen die Meinungen darüber auseinander, wie diese unter veränderten gesellschaftlichen Realitäten interpretiert wird. «Im 19. Jahrhundert waren die Diskussionen von religiösen Vorstellungen geprägt», sagt Lukas Boser Hofmann. «Heute beeinflussen unter anderem sich verändernde Vorstellungen von der Familie und deren Aufgaben die Debatte.»

Autor
Jonas Wydler

Datum

05.02.2024

Themen