Dass Bildschirme für viele Babys und Kleinkinder ein fester Bestandteil ihres Alltags sind, ist ein offenes Geheimnis: Zu Hause läuft für die Kleinen der Fernseher während der elterlichen Homeofficezeiten, in der Kita das Trickfilmchen vor dem Mittagsschlaf, im Auto und im Restaurant das Smartphone der Mutter als Zeitvertreib.
Der Bildschirm als Babysitter und Unterhalter hat sich etabliert. Wie lange die Kleinsten täglich vor dem Bildschirm sitzen, lässt sich nur erahnen. «Die vorhandenen Angaben über die Bildschirmnutzung von Kleinkindern sind Momentaufnahmen und stammen meistens von den Eltern. Das sind subjektive Informationen, geprägt durch das Wissen, was sozial und gesellschaftlich wünschenswert wäre», sagt Eveline Hipeli, Medienpädagogin und Dozentin an der Pädagogischen Hochschule Zürich.
Repräsentative Langzeitstudien, wie sich exzessive Bildschirmzeit von Geburt an auf die Hirnentwicklung von kleinen Kindern auswirkt, haben bis anhin gefehlt. «Solche Erhebungen sind zeitintensiv und teuer. Dazu kommt, dass mobile, leicht zugängliche Touchscreens für Kinder ein relativ neues Phänomen sind», ergänzt Kommunikationswissenschaftlerin Hipeli. Das erste iPhone kam 2007 auf den Markt. Heute benützen laut Statista weltweit 6,92 Milliarden Menschen ein Smartphone – und die Kleinsten nutzen sie mit. «Babys und Kleinkinder kopieren die Menschen in ihrem Umfeld. Schauen diese konstant auf einen Bildschirm, fordern die Kinder das Gleiche», sagt Hipeli. Doch wie beeinflusst eine exzessive frühkindliche Bildschirmnutzung die Hirnentwicklung dieser Kinder?
Bildschirmzeit beeinflusst Hirnbildung
Seit Anfang 2023 stehen an der Stelle von Vermutungen und Einschätzungen klare Fakten. Eine neue Langzeitstudie aus Singapur zeigt auf, dass sich Hirnströme von kleinen Kindern durch häufige Bildschirmzeit verändern. Wer als Kleinkind schon mehrere Stunden am Tag vor dem Bildschirm sitzt, läuft Gefahr, dass die Hirnaktivität langfristig negativ beeinflusst wird. Für die Referenzstudie begleiten Forscherinnen und Forscher 506 Kinder und ihre Mütter von der Schwangerschaft bis zum neunten Lebensjahr.
Im Alter von einem Jahr wurden die Kinder, basierend auf ihrem täglichen Bildschirmkonsum, in vier verschiedene Gruppen eingeteilt: Weniger als eine Stunde, eine bis zwei Stunden, zwei bis vier Stunden und mehr als vier Stunden Bildschirmzeit pro Tag. Mit 12 Monaten, 18 Monaten und neun Jahren absolvierten die Kinder jeweils verschiedene Tests zur Aufmerksamkeitsspanne und Selbstregulierung. Ihre Hirnströme wurden mit einer Elektroenzephalografie (EEG) gemessen.
Die Kinder haben vermehrt Schwierigkeiten, ihre Aufmerksamkeit, das Verarbeiten von Informationen und ihre Emotionen und Impulse zu kontrollieren.
Je höher der durchschnittliche Bildschirmkonsum der Kinder pro Tag war, desto höher war beim Messen der Hirnströme die Frequenz der langsameren Wellen. Diese können für schlechtere Aufmerksamkeitskontrolle und geringere Konzentrationsfähigkeit verantwortlich sein. Die Kinder bekunden dadurch öfter Mühe, sich zu fokussieren, schweifen ab und verlieren schneller das Interesse an einer Aufgabe. Die Kinder haben vermehrt Schwierigkeiten, ihre Aufmerksamkeit, das Verarbeiten von Informationen und ihre Emotionen und Impulse zu kontrollieren. Zusätzlich bedeutet übermässige Bildschirmzeit oft weniger soziale Interaktionen, einen späteren Spracherwerb, weniger Bewegung und weniger freies Spiel.
«Für Kinder unter drei Jahren macht ein Bildschirm noch wenig Sinn. Sie können die Menge an Informationen, noch nicht vollends verarbeiten.»
Zu viel, zu schnell, zu abstrakt
«Für die Erkenntnis, dass vier Stunden Bildschirmzeit pro Tag für ein zweimonatiges Kind und dessen Entwicklung ungesund sind, braucht es kaum eine gross angelegte Studie, sondern gesunden Menschenverstand», sagt Medienexpertin Eveline Hipeli kritisch. Babys und Kleinkinder lernen von Menschen und nicht von Bildschirmen. Dafür braucht es physische Reize und soziale Interaktionen. Kommt hinzu: «Für Kinder unter drei Jahren macht ein Bildschirm noch wenig Sinn. Sie können die Menge an Informationen, die sie über digitale Medien erhalten, noch nicht vollends verarbeiten: Es ist oft zu viel, zu schnell, zu abstrakt. Das Gehirn kommt oft gar nicht hinterher.»
Das singapurische Forscherteam ist sich der Tragweite der präsentierten Resultate bewusst. «Die Studie ergänzt früher durchgeführte Untersuchungen mit der klaren Evidenz, dass die Bildschirmzeit während der frühen Hirnentwicklung von kleinen Kindern genaustens überwacht werden sollte», fassen die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen ihre Arbeit zusammen. Rückgängig kann eine mehrheitlich vor dem Bildschirm erlebte Kindheit nicht gemacht werden. Doch wie beeinflusst eine exzessive Bildschirm-Kindheit die Schullaufbahn der betroffenen Kinder? Hat Luis, der seine vier ersten Lebensjahre überwiegend vor dem Fernseher verbracht hat, eine kleinere Chance, den Sprung ins Gymnasium zu schaffen? Und ist der Grund für Ellas Konzentrationsschwäche der Fakt, dass sie mit zwei Jahren ihr erstes Handy erhalten hat?