Unabhängig davon, welche Neuheiten sich etablierten, gab es an der obligatorischen Schule stets einige Konstanten, zum Beispiel: Eine Lehrperson unterrichtet Schülerinnen und Schüler in einem Klassenzimmer an der Schule – Pandemien ausgenommen. Fortschritte im Bereich der künstlichen Intelligenz (KI) und bei anderen Technologien könnten dieses Konzept aber ins Wanken bringen. ChatGPT hat schon jetzt einen deutlichen Einfluss auf den Unterricht genommen. Wenn Technologie wie KI künftig noch bedeutender für Lehren und Lernen wird, welche Rolle wird dann die Lehrperson in Zukunft noch spielen?
Eine KI erlernt das Lernverhalten
Inwiefern KI den künftigen Unterricht beeinflussen könnte, dazu hat Microsoft-Gründer Bill Gates im Frühling 2023 in seinem Blog «GatesNotes» Überlegungen angestellt. Unter dem Titel «The Age of AI has begun» (übersetzt: Das Zeitalter von KI hat begonnen) widmet er sich der künftigen Bedeutung von KI in verschiedenen Branchen, darunter der Bildung.
Gates geht davon aus, dass Software auf Basis von KI in den nächsten fünf bis zehn Jahren revolutioniert, wie man lehrt und lernt. Die KI werde die Interessen und den Lernstil der Nutzerin oder des Nutzers kennenlernen. Darauf basierend werde sie spezifisch zugeschnittene Lerninhalte erstellen, um das Engagement und das Interesse etwa von individuellen Schülerinnen und Schülern zu wahren und ihr Verständnis des Stoffs zu messen.
KI müsse natürlich noch viel lernen, bis sie so weit sei, schreibt Gates. Doch selbst wenn die Technologie eines Tages perfekt sein sollte: «Das Lernen wird immer noch von den guten Beziehungen zwischen Schülerinnen, Schülern und Lehrpersonen abhängen.» Wie aber die Rolle der Lehrperson aussieht, wenn KI den Stoff lehrt, dazu schreibt er nichts.
Andere Kompetenzen für Lehrpersonen
Darauf ging der Erziehungswissenschaftler Jöran Muuss-Merholz auf Anfrage von BILDUNG SCHWEIZ näher ein. Der Pädagoge ist Co-Geschäftsführer der Agentur J&K, die sich auf zeitgemässes Lernen spezialisiert hat. Auch er schätzt, dass KI-Programme, wie sie Bill Gates in seinem Blog beschrieben hat, in einigen Jahren grossen Einfluss auf den Lehrberuf haben werden. Der deutsche Fachbegriff für solche Programme lautet intelligente tutorielle Systeme.
Das Internet hat schon jetzt begonnen, das Lernverhalten deutlich zu verändern.
Der Pädagoge betont aber, dass eine andere Technologie schon jetzt begonnen hat, das Lernverhalten deutlich zu verändern: das Internet – also Suchmaschinen wie Google und Plattformen wie Tiktok, Youtube oder Wikipedia. Hier stehen massenhaft Informationen zur Verfügung, grösstenteils unsortiert und nicht didaktisch aufbereitet. Trotzdem greifen Leute immer wieder darauf zurück, wenn sie etwas wissen oder lernen müssen.
Das Internet und KI-basierte Lernprogramme nehmen den Lehrpersonen damit zunehmend eine Funktion ab, die sie lange innehatten: die der Wissensträgerin und -vermittlerin. Da sieht der Pädagoge grosses Veränderungspotenzial. «Man kann sich fragen, ob es tatsächlich noch eine der Kernkompetenzen der Lehrperson ist, Wissensträgerin zu sein», sagt er dazu. «Vielleicht wird sie eher zu der Person, die den Überblick darüber hat, wo wer was auf welche Weise am besten lernen kann.»
Gute Materialien alleine bedeuten noch nicht, dass Menschen gut lernen.
Das bestätigt, was einige Lehrpersonen zumindest insgeheim bereits ahnen: Es wird nach wie vor jemanden brauchen, der oder die den Lernprozess begleitet, ihn strukturiert, führt und anleitet. Denn gute Materialien alleine bedeuten noch nicht, dass Menschen auch gut lernen, so Muuss-Merholz.
Neue Möglichkeiten, alte Fragen
Weiter ist nicht sicher, dass Schülerinnen und Schüler tatsächlich alles von einer KI erlernen können, was sie benötigen. Damit werfe KI als neue Technologie alte Fragen neu auf, findet Muuss-Merholz: «Was ist eigentlich die Aufgabe einer Lehrperson? Muss sie nur Fachwissen lehren? Oder gehören auch andere Fähigkeiten dazu, wie etwa die Kommunikation untereinander, das Zusammenarbeiten, Kreativität und Disziplin?»
Auch der technologische Fortschritt stösst also dazu an, Lernziele kontinuierlich zu hinterfragen und immer wieder von Neuem zu entschieden, was ausser fachlichen Inhalten noch vermittelt werden soll – eine Chance für Schule und Bildung. Doch geht damit in den nächsten Jahren auch eine grosse Herausforderung einher, so Muuss-Merholz: Schulen müssen herausfinden, wie genau die Rolle der Lehrperson unter den neuen Umständen aussehen wird.