Schule im Wandel

Können Privatschulen mehr als Volksschulen?

Knapp jedes 20. Kind in der Schweiz besucht eine Privatschule. Die Gründe dafür sind unterschiedlich. Wäre er weniger kostspielig, würden wohl mehr Eltern diesen Schritt erwägen. Eine Spurensuche zur Rolle der Privatschulen in der Schweiz.

Ein Mädchen zeigt einem jüngeren Kind, wie man mit der Laubsäge arbeitet.
An der privaten Grundacherschule lernen jüngere und ältere Kinder gemeinsam. Jahrgangsklassen gibt es nicht. Foto: Grundacherschule

Klassenzimmer gibt’s in der Grundacherschule in Sarnen nicht. Es gibt eine Basisstufe, eine Mittelstufe und eine Oberstufe. Jede hat im 100-jährigen Herrenhaus und dem modernen Anbau gleich neben dem Bahnhof ihren eigenen Bereich. Bei den Kleinen dominieren Kissen, niedrige Tische und Spiele, bei den Grösseren sind es Arbeitsnischen und Computer. Meist stehen die Türen offen, die einen arbeiten für sich, andere in der Gruppe. Eben ging die gemeinsame Pause zu Ende, zu der es draussen auf einem Tisch aufgeschnittene Früchte und Cracker gab. Der gedeckte Aussenbereich wird gemeinsam genutzt, die professionell ausgestattete Bühne ebenfalls – doch dazu später mehr.

Die Grundacherschule im Kanton Obwalden ist eine von 1355 Privatschulen in der Schweiz, Stand Schuljahr 2020/2021. Vor einem Jahr schreckte ein Bericht im «Beobachter» auf, der eine Umfrage der kantonalen Elternmitwirkungsorganisation Zürichs zitierte: Zwei Drittel der befragten Eltern machen sich Sorgen um die Qualität der Volksschule, ein Drittel erwägt, ihr Kind aus der staatlichen Schule zu nehmen. Repräsentativ ist die Studie nicht. Aber das heisst nicht, dass man sie ignorieren soll. Setzt in der Schweiz ein Trend ein, der in Deutschland zu reden gibt? Wandern Schulkinder aus den durchmischten Volksschulen in spezifisch ausgerichtete Privatschulen ab?

Warum Eltern eine Privatschule wählen

Darauf angesprochen findet Karin Anderhalden von der Schulleitung der Grundacherschule das Resultat der Zürcher Umfrage plausibel: «Viele Eltern würden so handeln, wenn sie könnten.» Allerdings werde das nicht passieren, weil sie dann in der Regel die Schulkosten selber tragen müssten. Das sind im Falle der Grundacherschule je nach Stufe und Einkommen zwischen etwas mehr als 10'000 und gut 20'000 Franken pro Jahr. Gleich viel, wie ein Schuljahr pro Kind an der Volksschule kostet, wie Anderhalden betont. Aber dort zahlt der Staat. Wer sein Kind an eine Privatschule schickt, muss also besondere Gründe haben.

Markus Fischer vom Verband Schweizerischer Privatschulen veranschaulicht dies mit einer Kurve: Die Volksschule decke die breite Mitte einer glockenförmigen Kurve ab. Die Kundschaft der Privatschulen befinde sich an den Rändern dieser Verteilung. Auf der einen Seite sind dies hochqualifizierte Leute, welche die Bildungschancen ihrer Kinder in einem internationalen Umfeld optimieren wollen. Sie kennen das Schweizer Bildungssystem oft kaum. Auf der anderen Seite sind es jene, die aus einem spezifischen Grund eine Alternative zur Volksschule suchen. Laut Anderhalden von der Grundacherschule kann das eine flexible und gut ausgebaute Tagesbetreuung sein, ein spezielles pädagogisches Konzept, eine individuelle schlechte Erfahrung mit der Volksschule, der Wunsch nach stärkerer individueller Förderung und Leistungsorientierung oder eine zweite Chance für das Kind, wenn die Probleme am vorherigen Ort zu gross geworden sind.

«Was wir machen, kann überall funktionieren.»

Kein Gegenkonzept, eher ein Labor

Als Betreiberin einer Privatschule ist Anderhalden auf diese Nachfrage angewiesen. Aber sie sieht ihre Schule, die 2022 den Lissa-Preis der Stiftung für hochbegabte Kinder erhielt, nicht als Gegenkonzept zur Volksschule. Viel mehr sei sie ein Labor. Von dessen Erfahrungen sollten alle profitieren können. Denn sie ist überzeugt: «Was wir machen, kann überall funktionieren.» Knapp zusammengefasst geht es darum, dass Kinder ihr eigenes Potenzial entdecken. Sie sollen dieses entwickeln und nicht nach einem Schema X ausgebildet werden. Darum gibt es keine Jahrgangsklassen, keine klassischen Schulzimmer, keinen Stundenplan, keine Instruktionslektionen der Lehrperson, sondern Coaching und einiges mehr.

Privatschulen in der Schweiz

In der Schweiz gibt es 1355 Privatschulen, Stand 2020/2021. Etwa ein Drittel ist subventioniert, der Rest nicht. Die Regeln dazu unterscheiden sich von Kanton zu Kanton. Insgesamt hat etwas mehr als jede zehnte Schule im Land eine private Trägerschaft. Privatschulen sind meist klein und nicht auf jeder Stufe gleich prominent vertreten. Auch regional variiert der Anteil beträchtlich. Am verbreitetsten sind sie dort, wo viele internationale Firmen und Organisationen gut ausgebildete Angestellte aus dem Ausland beschäftigen, also im Grossraum Zürich und in Genf. Dort ist die Zahl der Privatschulen im Zuge der Internationalisierung gewachsen. Insgesamt besuchen laut dem aktuellen Bildungsbericht 4,6 Prozent der Schulkinder eine Privatschule. Inklusive nachobligatorische Bildungsstufen sind es laut einer Statistik von Statista etwas über 6 Prozent. Der Anteil ist im Vergleich zu anderen Staaten niedrig und über die vergangenen zehn Jahre mehr oder weniger stabil geblieben, dies im Unterschied etwa zu Deutschland.

Begonnen hat Anderhalden als Kindergärtnerin innerhalb der staatlichen Schule. Doch dort war ihr der vorgegebene Rahmen zu eng. Die Volksschule passt ihrer Ansicht nach für etwa zwei Drittel der Schülerinnen und Schüler, für ein Drittel sei sie in der einen oder anderen Hinsicht nicht ideal. Hier in ihrem ehemaligen Wohnhaus an der Schule, die sie gemeinsam mit ihrem Mann leitet, hat sie mit einem kleinen Team und 63 Schülerinnen und Schülern ihr Wirkungsfeld gefunden. Sie freut sich, wenn dies andere Schulteams inspiriert – gerade auch solche aus Volksschulen.

«Was ist mit jenen, die sich keine Privatschule leisten können?»

Und die Volksschule?

Wo steht die Volksschule denn von der Warte Anderhaldens aus betrachtet? Sie bewege sich, und dies stärker als früher, attestiert sie. Dass sie hier an ihrer Schule nicht dieselben Herausforderungen zum Beispiel wegen vieler Kinder mit Migrationshintergrund zu bewältigen habe, lässt Anderhalden nur begrenzt als Einwand gelten. Ihr Konzept helfe eben gerade dabei, solche Unterschiede auszugleichen – und es sei nicht teurer als jenes der Volksschule, in der immer mehr Fachpersonen für spezielle Aufgaben angestellt würden.

Der Makel, dass ein Platz an einer Privatschule jenen vorbehalten ist, die sich diesen finanziell leisten können, bleibt dennoch. Für Katharina Maag Merki, Professorin am Institut für Erziehungswissenschaft an der Universität Zürich, stellt sich diese Frage dringlich: «Was ist mit jenen, die sich keine Privatschule leisten können?» Chancengleichheit sehe anders aus. Und daraus etwa den Anspruch auf finanzielle Unterstützung mit öffentlichen Geldern für die Privatschulen abzuleiten, wäre in ihren Augen komplett falsch: Ein höherer Anteil privat beschulter Kindern gehe in jedem Fall mit einer stärkeren Segregation einher. Dies zeigten viele Erfahrungen im Ausland. Darum müsse jeder Franken der öffentlichen Hand auch ins öffentliche Bildungswesen fliessen, fordert sie. Davon profitierten alle. Aus ihrer Sicht sei es auch nicht so, dass die Volksschule zu starr sei für Neuerungen. Der Rahmen sei viel mehr weit gesteckt und lasse manches zu. Insofern sieht Maag Merki auch die Feststellung, Privatschulen seien innovative Labors, skeptisch.

Ebenso zurückhaltend beurteilt sie das Resultat der Umfrage, dass ein Drittel der Eltern sich überlege, ihr Kind aus der Volksschule zu nehmen. Zuerst sei diese offensichtlich nicht repräsentativ. Dies zeige schon nur der Umstand, dass 80 Prozent der Befragten angeben würden, über einen Hochschulabschluss zu verfügen. Machten sich Eltern solche Überlegungen, sei dies aber ein ernst zu nehmender Hinweis, dass etwas nicht gut laufe. «Hier wäre es wichtig, mit der Lehrperson und der Schulleitung den Kontakt zu suchen», rät Maag Merki. Bevor jemand sein Kind aus der Schule nimmt, stellten sich zudem viele Fragen. Sie beginnen bei den Finanzen, gehen über organisatorische Fragen bis hin zu einer Prüfung, ob eine Privatschule letztlich wirklich besser ist und mehr bietet als die Volksschule.

 

Niemand der befragten Fachleute, inklusive jener aus dem Privatschulbereich, sieht derzeit eine Tendenz, dass tatsächlich Eltern breit der Volksschule den Rücken zuwenden würden. Der Anteil an privat beschulten Kindern ist laut aktuellem Bildungsbericht tatsächlich ziemlich stabil. Laut einer darin zitierten repräsentativen Umfrage lehnt es eine Mehrheit der Befragten auch ab, dass Privatschulen Geld vom Staat erhalten. So lange Eltern das Schulgeld selbst aufbringen müssen, bleiben Privatschulen in der Schweiz darum Nischenangebote für besondere Bedürfnisse.

«Ich bin auf der Welt zum Tanzen, Spielen und Lernen.»

Warum bin ich auf der Welt?

In Sarnen neigt sich der Freitagvormittag und damit die Woche dem Ende zu. Von überall im Haus strömen kleine und grosse Kinder, Jugendliche und Lehrpersonen in den verdunkelten Raum mit der Bühne. Sie nehmen auf den bereitgestellten Stühlen Platz, extra angereiste Eltern mischen sich ebenfalls darunter. Zum Wochenabschluss heisst es Vorhang auf für die Freitagsbühne. Unter der Moderation zweier Schüler wird zusammengefasst, was sich in der Woche ereignet hat. Es werden Lieder, Pantomimen, Zeichnungen und Statements präsentiert. Eines dieser Statements ist von Alma. Auf die Frage, weshalb sie eigentlich auf der Welt sei, antwortet sie: «Ich bin auf der Welt zum Tanzen, Spielen und Lernen.» Das ist eine Ansage an alle Lehrerinnen oder Lehrer – egal, wo sie arbeiten.

Autor
Christoph Aebischer

Datum

29.11.2023

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