Zwischen Pädagogik und Digitalisierung

Kein Lehrer alter Schule

Wo andere zurückscheuen, schöpft Philippe Wampfler aus dem Vollen: Online äussert sich der Gymnasiallehrer zur Digitalisierung und zu vielem mehr. Was er postet, provoziert. Aber das ist nicht sein primäres Ziel.

Philippe Wampfler steht vor der Wandtafel
Im Internet könne er Ideen und Gedanken ausprobieren, sagt Philippe Wampfler über seine Online-Aktivitäten. Foto: Florian Bachmann

Philippe Wampfler, 45, Gymnasiallehrer, Blogger, Twitterer, omnipräsent in den Medien. Kaum ein Monat vergeht, in dem der Gymnasiallehrer nicht als Pädagoge, Medien- oder Digitalexperte Auskunft gibt. Als er im Dezember 2022 die Verwendung des N-Worts in Dürrenmatts «Die Physiker» kritisierte, sorgte das sogar in Deutschland und Österreich für Schlagzeilen. Er schrieb: «Ich werde ‹Die Physiker› so lange mit Schüler*innen nicht lesen, bis der Diogenes Verlag eine zeitgemässe Ausgabe herausbringt.» Das sei «furchtbar engstirnig», antwortete ein User darauf. «Schwachsinn», kommentierte ein anderer. Die Medien titelten mit Verbot, Boykott und Verbannung. Die «Weltwoche» bezeichnete ihn als «wachsamen Pauker». Das Online-Portal «Die Ostschweiz» nannte ihn Lehrer Lämpel und unterstellte ihm «Correctness-Wahn».

Wichtige Fragen diskutieren

Wampfler kennt die Mechanismen von Twitter und Co. Er twittert seit fast 15 Jahren, schreibt Blog-Beiträge und veröffentlicht Videos auf YouTube. BILDUNG SCHWEIZ hat ihn getroffen und mit ihm über seine Motivation dahinter gesprochen. ­Vorneweg: Wampfler wirkt nicht wie ein Mensch, der seine Meinung unbedingt allen verkünden muss. Aber auch nicht wie einer, der alles kommentarlos stehenlässt. Im Gespräch lässt er sich Zeit für differenzierte Antworten.

Mit Reaktionen auf seinen Dürrenmatt-Tweet hatte er durchaus gerechnet. Das Ausmass hat ihn dennoch überrascht: «Ich war erstaunt, wie wenig Bereitschaft da ist, das Thema differenziert zu diskutieren.» Wampfler war enttäuscht, dass nur diskutiert wurde, ob er «Die Physiker» im Unterricht besprechen soll oder nicht. «Es ist schade, dass Rassismus und andere, wichtige soziale Themen auf solch uninteressante Fragen reduziert werden», sagt er.

Wampfler exponiert sich bewusst. Darin unterscheidet er sich von vielen seiner Berufskolleginnen und -kollegen. Sie sind lieber vorsichtig, weil Schule politisch neutral sein soll. Wampfler ist nicht weniger vorsichtig. «Ich bin aber auch ein Bürger mit politischer Meinung», räumt er ein. Entscheidend sei, wie er sich im Unterricht verhalte. Dort vermeide er Ungleichbehandlung und versuche nicht, die Lernenden von seiner Meinung zu überzeugen.

Dem Lehrplan voraus

Es war keineswegs ausgemacht, dass Wampfler einmal unterrichten würde. Er studierte Mathematik, Philosophie und Germanistik zunächst ohne klares Berufsziel. Zwar waren schon seine Eltern Lehrpersonen, doch er entschied sich erst nach mehreren Stellvertretungen für den Lehrberuf. «Zu Beginn fühlte ich mich etwas ohnmächtig und fand es schwierig, mich durchzusetzen.» Das habe sich geändert, als er sah, dass er als Lehrer etwas bewirken kann. Zudem arbeitet er gerne mit jungen Menschen. «Mich interessiert, wie sie die Welt wahrnehmen.»

«Meine grösste Angst ist, dass Jugendliche meinen, die Schule habe nichts mit ihrem Leben zu tun.»

Diese Einstellung prägt Wampflers Unterricht, etwa im Umgang mit der Digitalisierung: Schon früh liess er seine Schülerinnen und Schüler Aufsätze als Blogeinträge schreiben. Er verbannte das Smartphone nicht aus dem Schulzimmer, aber er thematisierte den zuweilen problematischen Umgang damit. Wampfler wartet nicht, bis der Lehrplan neue Entwicklungen aufgreift. Lieber greift er vor und bettet Lernstoff in den Alltag der Jugendlichen ein. Das mache die Schule anschlussfähiger, sagt er. «Meine grösste Angst ist, dass Jugendliche meinen, die Schule habe nichts mit ihrem Leben zu tun.»

Wampfler fühlt sich wohl mit den ständigen Veränderungen in dieser schnelllebigen Welt. «Wenn ich immer das Gleiche tun muss, beginne ich mich zu langweilen. Wenn ich etwas Neues mache, bin ich wacher und genauer in meiner Arbeit», sagt er. Er ahnt, dass Anwendungen mit künstlicher Intelligenz (KI) den Schulalltag verändern werden. «Wir werden KI-fiziert», ist er überzeugt. «In welche Richtung das genau führt, ist jedoch noch unklar.» Darum will er an den neusten Entwicklungen dicht dranbleiben.

Die Erkenntnisse sollen seinen Schülerinnen und Schülern zugutekommen. Als passionierter Lehrer ist Wampfler daran gelegen, ihnen beim Lernen zu helfen. Dabei möchte er ihnen auch möglichst viel Freiheit gewähren. «Ich glaube nicht an Noten oder Strafen», sagt er.  An der Stadtzürcher Kantonsschule Enge, wo er derzeit arbeitet, verzichtet er auf Prüfungen. Doch Wampfler wäre nicht Wampfler, würde er seine eigenen Aussagen im Gespräch nicht auch relativieren. «Ich habe meine Überzeugungen, bin aber nicht überzeugt, unbedingt recht zu haben», sagt er und räumt ein, dass eine Strenge im Umgang mit Kindern und Jugendlichen nicht unbedingt von gestern ist. «Sie muss würde- und respektvoll eingesetzt werden. Dann ist sie ein guter Weg. Mein Stil ist es jedoch nicht.»

«Auf Social Media kann ich Gedanken ausprobieren und mit dem Feedback Ideen weiterentwickeln. Das ist meine Art zu denken.»

Woher kommt die Zeit?

Die Ideen und Überzeugungen, die Wampfler jeden Tag mit Posts in den sozialen Medien mit seinen Followerinnen und Followern teilt, lösen Diskussionen aus. Und zwar nicht bloss im Internet, auch bei seinen Kolleginnen und Kollegen. «Ich habe auch ein gewisses Sendebedürfnis», gibt Wampfler zu. Auf Twitter und anderen Plattformen gehe es ihm weniger um Provokation als darum, andere Meinungen zu erfahren. «Auf Social Media kann ich Gedanken ausprobieren und mit dem Feedback Ideen weiterentwickeln. Das ist meine Art zu denken.»

Seine Gedanken hat Wampfler in rund 100 000 Tweets, unzähligen Blogposts und 200 YouTube-Videos festgehalten. Dazu kommen mehrere Fachbücher über Didaktik, Social Media und digitale Bildung. Doch damit nicht genug. Er bietet auch Beratungen, Schulungen und Referate an. Entsprechend oft hört er die Frage, wie viel Zeit er dafür aufwendet. Seine Antwort: «Ich nutze Synergien.» In diesen Synergien vermischt sich die Arbeit an der Kantonsschule mit seiner Tätigkeit als Fachdidaktiker an der Universität Zürich und dem privaten Interesse für Technologie. So greift er in seinen Beiträgen Themen aus dem Fachdidaktikseminar auf.

Sein Konzept auf YouTube beschreibt er als lautes Arbeiten, «working out loud». «Ich lasse mir in den Videos beim Arbeiten zusehen.» Dabei greife er vor allem Themen auf, die seine Studierenden und andere Lehrpersonen auch interessieren könnten. Von seinem Online-Netzwerk wiederum erhalte er Feedback auf seine Ideen für den Unterricht und entwickle diese weiter. Dabei verschmelzen Arbeit und Hobby. Freizeit wird Arbeit und umgekehrt. Das stört Wampfler nicht, auch wenn er manchmal erschöpft sei. «Sobald ich eine Idee habe und daran arbeiten kann, gibt mir das wieder Kraft», sagt er.

Wunsch nach Veränderung

Mit seinen Beiträgen will Wampfler Kollaboration und Austausch fördern. Dennoch klingen seine Aussagen zum N-Wort in der Literatur oder die Forderungen zur Abschaffung der Noten in vielen Ohren extrem. Seine Medienpräsenz ist – neben seiner Arbeit als Fachdidaktiker – seine Art sich für Bildung in der Schweiz zu engagieren. «Ich will Dinge verändern», sagt er. Eine Schule ohne Noten hält auch er im Moment für unrealistisch. «Aber ich glaube, dass Diskussionen darüber uns tatsächlich weiterbringen.»

Wampfler wechselt auf das neue Schuljahr an die Kantonsschule im zürcherischen Uetikon am See. Die Schule hat bereits den stundenplanfreien Dienstag, an dem Lernende selbstständig arbeiten. Das passt auch zu Wampflers pädagogischer Überzeugung: «Schülerinnen und Schüler brauchen Autonomie und Individualität. Es bringt nichts, sie zum Lernen zu zwingen.»

Autor
Patricia Dickson

Datum

16.06.2023

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