Future-Skills

«Gefragt sind Kreativität, Fantasie und kritisches Denken»

Computer können vieles. Denken gehört nicht dazu. Umso wichtiger ist es, dass der Unterricht jene Kompetenzen fördert, in welchen der Mensch der Technik überlegen ist. Wie das gelingt, erzählt der Informatiker und ETH-Professor Juraj Hromkovič im Interview.

Informatikprofessor Juraj Hromkovič sitz am Tisch.
Für Informatik gibt es kein Mindestalter, findet Informatikprofessor Juraj Hromkovič. Fotos: Philipp Baer

Bildung Schweiz: Erinnern Sie sich noch an Ihre erste Begegnung mit einem Computer?

JURAJ HROMKOVIČ: Ja. Das war in den frühen 1970er-Jahren am Gymnasium. Ich bin in der ehemaligen Tschechoslowakei aufgewachsen. Am naturwissenschaftlichen Gymnasium, das ich besuchte, gab es damals schon vier Stunden Informatikunterricht pro Woche. Wir haben Programme auf Lochkarten geschrieben und diese an einem grossen Computer getestet. Der Computer konnte pro Tag nur ungefähr zwölf Stunden in Betrieb sein, mehr schaffte er nicht. Wir mussten sehr sauber arbeiten, weil wir Fehler nicht sofort, sondern erst am nächsten Tag korrigieren konnten.

Und heute, rund 50 Jahre später, ist die Digitalisierung in vollem Gang.

Davon hat man in der Gesellschaft eine falsche Vorstellung. Die Digitalisierung gibt es deutlich länger, als viele Menschen glauben. Sie begann nicht erst mit dem Computerzeitalter, sondern mit der Entstehung der Schrift vor mehr als 5000 Jahren. Damals haben Menschen erstmalig Informationen ausserhalb ihres Gehirns abgespeichert, nämlich digital in Form von Folgen von Symbolen eines Alphabets. Das war eine echte Revolution im Umgang mit Informationen.

Zurzeit kursieren viele Einschätzungen darüber, wie die Technik die künftige Arbeitswelt verändern wird. Was ist Ihre Prognose?

Wir wissen nicht, wie die Jobs der Zukunft aussehen werden. Wir wissen aber, dass alle Tätigkeiten, deren Funktionsweise wir verstanden haben, automatisiert werden. Ein Beispiel aus der Arbeitswelt ist die Schreinerei: Schon heute wird Holz meistens nicht mehr von Hand gefräst, sondern von einer entsprechend programmierten Fräsmaschine.

Für viele Berufsgruppen ist das eine beängstigende Tendenz.

Das sehe ich anders. So, wie uns die Technik einst von schwerer physischer Arbeit befreit hat, so befreien uns Computer heutzutage von nach immer gleichem Muster ablaufender, geistiger Arbeit. Der Computer wird niemals selbst denken können. Er führt nur unsere Programme aus. Damit Kinder und Jugendliche die heutige und die zukünftige Welt verstehen und sich auf die Berufe der Zukunft vorbereiten können, müssen sie in Informatik unterrichtet werden.

Sie kritisieren den Informatikunterricht in der Schweiz. Wieso?

Die Schweiz ist das einzige Land, in dem Informatik nicht als eigenständiges Schulfach unterrichtet wird. Stattdessen gibt es das Fach Medien und Informatik, bei dem die Informatik oft vernachlässigt wird.

Wo liegt dabei das Problem?

Die Medien gehören zu den Kommunikationswissenschaften. Dort geht es unter anderem darum, Aussagen und ihnen zugrunde liegende Absichten zu analysieren oder die ungeschützte Verbreitung von privaten Informationen zu diskutieren. Informatik dagegen ist ein MINT-Fach. Sie ist mathematisch exakt und fokussiert auf die Entwicklung der Technologien zur automatischen Informationsverarbeitung. Bei der Entwicklung des Lehrplans 21 habe ich mich dafür eingesetzt, Kompetenzen für Medien und Informatik separat aufzulisten. Die Umsetzung ist aber gescheitert. Viele pädagogische Hochschulen hatten keine Informatikerinnen und Informatiker und überliessen die Weiterbildung der Lehrpersonen ausschliesslich Medienexpertinnen und Medienexperten. Diese haben die Informatik dabei nur oberflächlich thematisiert.

Sie sagen, dass der Lehrplan 21 in der Zeit der industriellen Revolution verharrt. Was meinen Sie damit?

In der Zeit der industriellen Revolution, bevor es Computer gab, mussten komplexe Vorgehensweisen noch von Menschen ausgeführt werden. In der Bildung ging es also darum, diese Methoden zu erlernen. Heute kann die Informationstechnologie viele Tätigkeiten schneller und zuverlässiger ausführen als die Menschen. Somit muss die Bildung auf die Förderung jener Fähigkeiten fokussieren, in welchen die Menschen der Technologie überlegen sind. Das sind vor allem Kreativität, Fantasie und kritisches Denken. Die Grundidee des Lehrplans 21 ist gut. Er fokussiert auf Kompetenzen. Leider blieb es bei der Grundidee. Zu viele Autorinnen und Autoren interpretierten den Kompetenzbegriff inkonsequent. So wie der Lehrplan sich jetzt präsentiert, ist er als Reform nicht umsetzbar. Es fehlen vollständige Instrumente zur Messung der erreichten kompetenzorientierten Bildungsziele. Die meisten Lehrmittel streben diese Ziele gar nicht an.

Was muss sich ändern?

Wir sollten nicht vorwiegend die bereits fertigen Produkte der Wissenschaft wie Modelle, Fakten und Methoden und ihre Anwendungen unterrichten, sondern die Prozesse, die dahinterstecken, also die Entdeckungen und Entwicklungen. Erst dann können wir von Kompetenzen sprechen, wie sie im Lehrplan 21 ursprünglich vorgesehen waren.

Können Sie dazu ein Beispiel nennen?

Im Informatikunterricht zum Beispiel sind Geheimschriften ein beliebtes Thema. Die meisten Lehrmittel setzen dies häufig wie folgt um: Sie zeigen den Kindern zwei, drei historische Beispiele und bringen ihnen bei, nach diesen Mustern zu chiffrieren und zu dechiffrieren. Das ist keine Kompetenz. Kompetenz ist eine Expertise, die es ermöglicht, auf intelligente Weise eigenes Wissen und Erfahrungen einzusetzen, um neue Situationen und Herausforderungen zu meistern. Diese erreichen wir erst, wenn die Schülerinnen und Schüler die Vorgehensweisen bei der Entwicklung der Geheimschriften so gut verstehen, dass sie eigene originelle Geheimschriften entwickeln und deren Stärken und Schwächen selbstständig beurteilen können.

Was macht ein gutes Lehrmittel aus?

Wichtig ist es, die Neugier zu wecken. Noch wichtiger ist es, Schülerinnen und Schüler zur selbständigen, produktiven Tätigkeit anzuleiten, die ihnen Erfolgserlebnisse beschert. Ein Thema kann man mit spannenden Rätseln oder lustigen Spielen einleiten. Danach kann man die Kinder auf eine geschickt gelenkte Entdeckungsreise mitnehmen. Diese Reise sollte es ermöglichen, vieles auszuprobieren und aus gescheiterten Versuchen viel zu lernen. Die höchste Kunst ist es, die Entdeckungsreise auf kleine, aufeinander abgestimmte Schritte zu verteilen – so, dass es die Schülerinnen und Schüler schaffen, die einzelnen Schritte selbständig zu bewältigen.

Welche Ausrüstung benötigen Schulen für einen guten Informatikunterricht?

Die Ausrüstung ist zweitrangig. Im Kindergarten oder in der Primarschule kann mehr als die Hälfte des Unterrichts ohne Computer geschehen, beispielsweise mittels Spielen oder dem Lösen von Rätseln. Um mit einer Klasse programmieren zu lernen, reicht ein Computerzimmer pro Schule. Mobiltelefone und iPads sind dafür nicht geeignet, weil deren Bildschirme zu klein sind. Man braucht Platz für die Tastatur, für das geschriebene Programm und für das Beobachten der Ausführung des Programms. Man muss nachvollziehen können, wie und ob es funktioniert.

Gibt es ein Mindestalter für den Informatikunterricht?

Für mich nicht. An der ETH Zürich entwickeln wir Lehrmittel, die sich für alle Schulstufen vom Kindergarten bis zur Matura eignen. Ein Kind lässt sich an die Informatik heranführen, ohne dass es lesen und schreiben kann. Für die Jüngsten eignen sich die erwähnten Spiele und Rätsel. Im Kindergarten beispielsweise ist Ordnung und Suche ein grosses Thema. Das beschäftigt Informatikerinnen und Informatiker nämlich stärker als das Rechnen. Mit ihren Spielsachen lernen die Kinder so die Grundprinzipien der effizienten Verwaltung digitaler Daten. Diese basiert auf einer gut ausgewählten Ordnung, dank derer man alles schnell finden kann. Geht man die Informatik auf spielerische und kreative Weise an, lassen sich auch Kinder und Jugendliche dafür begeistern, die sonst wenig Interesse an den naturwissenschaftlichen Fächern haben. Das Schöne an der Informatik und vor allem am Programmieren ist: Die Kinder können eigene Produkte herstellen, die eine Funktionalität haben, die sie vorführen können. So erleben sie Erfolge und Anerkennung.

ZUR PERSON

Juraj Hromkovič ist Professor für Informationstechnologie und Ausbildung an der ETH Zürich. Er hat rund 40 Lehrbücher geschrieben, um Studentinnen und Studenten komplexe Sachverhalte der Informatik näherzubringen. Zudem arbeitet er mit anderen Fachpersonen laufend an neuen Informatiklehrmitteln für alle Schulstufen. Um die Einführung der Informatik als Schulfach in der Schweiz zu fördern, gründete er 2005 das Ausbildungs- und Beratungszentrum für den Informatikunterricht und leitet die Ausbildung für das Lehrdiplom Informatik an der ETH.

Für viele Berufsgruppen ist das eine beängstigende Tendenz.

Das sehe ich anders. So, wie uns die Technik einst von schwerer physischer Arbeit befreit hat, so befreien uns Computer heutzutage von nach immer gleichem Muster ablaufender, geistiger Arbeit. Der Computer wird niemals selbst denken können. Er führt nur unsere Programme aus. Damit Kinder und Jugendliche die heutige und die zukünftige Welt verstehen und sich auf die Berufe der Zukunft vorbereiten können, müssen sie in Informatik unterrichtet werden.

«Die Schweiz ist das einzige Land, in dem Informatik nicht als eigenständiges Schulfach unterrichtet wird.»

Sie kritisieren den Informatikunterricht in der Schweiz. Wieso?

Die Schweiz ist das einzige Land, in dem Informatik nicht als eigenständiges Schulfach unterrichtet wird. Stattdessen gibt es das Fach Medien und Informatik, bei dem die Informatik oft vernachlässigt wird.

Wo liegt dabei das Problem?

Die Medien gehören zu den Kommunikationswissenschaften. Dort geht es unter anderem darum, Aussagen und ihnen zugrunde liegende Absichten zu analysieren oder die ungeschützte Verbreitung von privaten Informationen zu diskutieren. Informatik dagegen ist ein MINT-Fach. Sie ist mathematisch exakt und fokussiert auf die Entwicklung der Technologien zur automatischen Informationsverarbeitung. Bei der Entwicklung des Lehrplans 21 habe ich mich dafür eingesetzt, Kompetenzen für Medien und Informatik separat aufzulisten. Die Umsetzung ist aber gescheitert. Viele pädagogische Hochschulen hatten keine Informatikerinnen und Informatiker und überliessen die Weiterbildung der Lehrpersonen ausschliesslich Medienexpertinnen und Medienexperten. Diese haben die Informatik dabei nur oberflächlich thematisiert.

Sie sagen, dass der Lehrplan 21 in der Zeit der industriellen Revolution verharrt. Was meinen Sie damit?

In der Zeit der industriellen Revolution, bevor es Computer gab, mussten komplexe Vorgehensweisen noch von Menschen ausgeführt werden. In der Bildung ging es also darum, diese Methoden zu erlernen. Heute kann die Informationstechnologie viele Tätigkeiten schneller und zuverlässiger ausführen als die Menschen. Somit muss die Bildung auf die Förderung jener Fähigkeiten fokussieren, in welchen die Menschen der Technologie überlegen sind. Das sind vor allem Kreativität, Fantasie und kritisches Denken. Die Grundidee des Lehrplans 21 ist gut. Er fokussiert auf Kompetenzen. Leider blieb es bei der Grundidee. Zu viele Autorinnen und Autoren interpretierten den Kompetenzbegriff inkonsequent. So wie der Lehrplan sich jetzt präsentiert, ist er als Reform nicht umsetzbar. Es fehlen vollständige Instrumente zur Messung der erreichten kompetenzorientierten Bildungsziele. Die meisten Lehrmittel streben diese Ziele gar nicht an.

Was muss sich ändern?

Wir sollten nicht vorwiegend die bereits fertigen Produkte der Wissenschaft wie Modelle, Fakten und Methoden und ihre Anwendungen unterrichten, sondern die Prozesse, die dahinterstecken, also die Entdeckungen und Entwicklungen. Erst dann können wir von Kompetenzen sprechen, wie sie im Lehrplan 21 ursprünglich vorgesehen waren.

Können Sie dazu ein Beispiel nennen?

Im Informatikunterricht zum Beispiel sind Geheimschriften ein beliebtes Thema. Die meisten Lehrmittel setzen dies häufig wie folgt um: Sie zeigen den Kindern zwei, drei historische Beispiele und bringen ihnen bei, nach diesen Mustern zu chiffrieren und zu dechiffrieren. Das ist keine Kompetenz. Kompetenz ist eine Expertise, die es ermöglicht, auf intelligente Weise eigenes Wissen und Erfahrungen einzusetzen, um neue Situationen und Herausforderungen zu meistern. Diese erreichen wir erst, wenn die Schülerinnen und Schüler die Vorgehensweisen bei der Entwicklung der Geheimschriften so gut verstehen, dass sie eigene originelle Geheimschriften entwickeln und deren Stärken und Schwächen selbstständig beurteilen können.

Was macht ein gutes Lehrmittel aus?

Wichtig ist es, die Neugier zu wecken. Noch wichtiger ist es, Schülerinnen und Schüler zur selbständigen, produktiven Tätigkeit anzuleiten, die ihnen Erfolgserlebnisse beschert. Ein Thema kann man mit spannenden Rätseln oder lustigen Spielen einleiten. Danach kann man die Kinder auf eine geschickt gelenkte Entdeckungsreise mitnehmen. Diese Reise sollte es ermöglichen, vieles auszuprobieren und aus gescheiterten Versuchen viel zu lernen. Die höchste Kunst ist es, die Entdeckungsreise auf kleine, aufeinander abgestimmte Schritte zu verteilen – so, dass es die Schülerinnen und Schüler schaffen, die einzelnen Schritte selbständig zu bewältigen.

Welche Ausrüstung benötigen Schulen für einen guten Informatikunterricht?

Die Ausrüstung ist zweitrangig. Im Kindergarten oder in der Primarschule kann mehr als die Hälfte des Unterrichts ohne Computer geschehen, beispielsweise mittels Spielen oder dem Lösen von Rätseln. Um mit einer Klasse programmieren zu lernen, reicht ein Computerzimmer pro Schule. Mobiltelefone und iPads sind dafür nicht geeignet, weil deren Bildschirme zu klein sind. Man braucht Platz für die Tastatur, für das geschriebene Programm und für das Beobachten der Ausführung des Programms. Man muss nachvollziehen können, wie und ob es funktioniert.

«Ein Kind lässt sich an die Informatik heranführen, ohne dass es lesen oder schreiben kann.»

Gibt es ein Mindestalter für den Informatikunterricht?

Für mich nicht. An der ETH Zürich entwickeln wir Lehrmittel, die sich für alle Schulstufen vom Kindergarten bis zur Matura eignen. Ein Kind lässt sich an die Informatik heranführen, ohne dass es lesen und schreiben kann. Für die Jüngsten eignen sich die erwähnten Spiele und Rätsel. Im Kindergarten beispielsweise ist Ordnung und Suche ein grosses Thema. Das beschäftigt Informatikerinnen und Informatiker nämlich stärker als das Rechnen. Mit ihren Spielsachen lernen die Kinder so die Grundprinzipien der effizienten Verwaltung digitaler Daten. Diese basiert auf einer gut ausgewählten Ordnung, dank derer man alles schnell finden kann. Geht man die Informatik auf spielerische und kreative Weise an, lassen sich auch Kinder und Jugendliche dafür begeistern, die sonst wenig Interesse an den naturwissenschaftlichen Fächern haben. Das Schöne an der Informatik und vor allem am Programmieren ist: Die Kinder können eigene Produkte herstellen, die eine Funktionalität haben, die sie vorführen können. So erleben sie Erfolge und Anerkennung.

 

Autor
Caroline Kienberger

Datum

02.05.2023

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