Bildung international

Englands Schulen im Ratingstress

In England gibt es öffentliche Ranglisten für Schulen. Nationale Tests sollen zeigen, wie erfolgreich deren Schülerinnen und Schüler sind. Doch die Transparenz hat Schattenseiten.

Primarschulkinder in Schuluniformen stehen vor der Schule.
An welche Schule englische Eltern ihre Kinder schicken, hängt auch davon ab, wie gut die Schule in nationalen Tests abschneidet. Foto: iStock/monkeybusinessimages

«Das Schulhaus ist ein ausgesprochen schöner viktorianischer Backsteinbau und wurde lange Zeit unter ‹special measures› (besondere Massnahmen) geführt – ein Urteil der Schulaufsichtsbehörde Ofsted und die niedrigste Bewertung, die eine staatliche Schule bekommen kann. Naturgemäss geraten viele Eltern in Panik, wenn sie ein solches Urteil sehen, und nehmen ihre Kinder von der Schule», schreibt Zadie Smith, eine der bekanntesten britischen Autorinnen der Gegenwart, mit Blick auf ihre ehemalige Schule im Nordwesten Londons. An einer solchen Schule blieben nur die Kinder der Familien, die kein Englisch können, kein Internet zu Hause haben, die Ratings nicht verstehen oder die Einschätzung der Schulaufsichtsbehörde nicht gewichten, wie Smith 2018 in einem Essay schreibt.

Erfolgreiche Schulen ziehen «weisse Familien» an

Ofsted wurde 1992 gegründet und steht für «Office for Standards in Education». Das festgelegte Inspektionsraster fokussiert sich auf Schulleitung und Management, Unterrichtsqualität, Lehr- und Lernfortschritte, die Leistung der Schülerschaft sowie auf Chancengleichheit. Öffentliche Schulen in England, Schottland, Wales und Nordirland werden im Durchschnitt alle vier Jahre besucht und in vier Kategorien eingeteilt: hervorragend, gut, Verbesserungen gefordert und inadäquat. Inoffiziell gibt es eine fünfte Kategorie: «Besondere Massnahmen» ist den schlechtesten inadäquaten Schulen vorbehalten.

Die Ofsted-Beurteilung prägt das Prestige der Schule, die Entscheidungsfindung der Eltern und ganze Stadtteile. «Wird die Schule von Ofsted offiziell als gut eingestuft, dürfte dies wohl bedeuten, dass viele mittelständische und in aller Regel weisse Eltern das von ihnen empfundene Risiko eingehen, in den Einzugsbereich der Schule zu ziehen», analysiert Autorin Smith die gesellschaftliche Dynamik, die durch das Bewertungssystem entsteht.

«Wir haben als Schulkinder genau gewusst, wenn Inspektoren vor Ort waren. Die Lehrpersonen waren nervös.»

Momentaufnahmen mit Dauerwirkung

Im Alltag ist sich die Bevölkerung der Wirkung der ständigen Testerei bewusst, wie Gespräche im persönlichen Umfeld der Autorin dieses Beitrags zeigen. Die zitierten Personen treten aus diesem Grund nur mit Vornamen auf. «Wir haben als Schulkinder genau gewusst, wenn Inspektoren vor Ort waren. Die Lehrpersonen waren nervös und Kinder mit dreckiger oder nicht kompletter Uniform wurden nach Hause geschickt», erzählt Alisha C., eine heute 22-jährige Studentin. Dass Ofsted nur eine Momentaufnahme wiedergibt, rückt in der ratinggeprägten Mentalität der Britinnen und Briten in den Hintergrund. Kaum Gewicht bei Inspektionen haben soziale Faktoren, sei es die Herkunft der Schülerinnen und Schüler oder deren sozioökonomischer Hintergrund. Die National Education Union (NEU) beschreibt das Wirken von Ofsted als ein plumpes Instrument mit einer «mehrheitlich negativen Präsenz». Laut einer Umfrage der Union sprachen sich im April 2021 über drei Viertel der 10 000 Befragten dafür aus, die dominierende Rolle von Ofsted zu reduzieren. Die Inspektionen seien undurchdachte Momentaufnahmen, durchgeführt ohne jegliches Gespür für den lokalen und sozialen Kontext, schreibt die NEU.

Tests dominieren den Schulalltag

Als entscheidender Faktor bei der Schulwahl gilt ein weiteres Rating: die School League Tables. Diese Rangliste berücksichtigt die Leistungen bei national durchgeführten Prüfungen (siehe Box auf Seite 29): die Standard Assessment Tests und die Prüfungen für das General Certificate of Secondary Education (GCSE). Am besten schneiden die Schulen ab, deren Schülerinnen und Schüler die besten Resultate erzielen. Diese Schulen führen die School League an. Die Tests dominieren oft den Schulalltag der Lehrpersonen, der Schülerschaft und der Eltern.

«Der Unterricht in der öffentlichen Schule scheint mir divers und abwechslungsreich, mit Bezug zur Aktualität und den Interessen der Kids», umschreibt Christine P., eine alleinerziehende Mutter von drei Teenagern aus Ostlondon, ihre Erfahrungen. Ab der 9. Klasse sei dies jedoch vorbei. Die Schulen konzentrierten sich dann vermehrt auf den GCSE-Teststoff, damit die Schülerinnen und Schüler möglichst viele Punkte erzielen, erklärt Christine P.

«Solange für gute Resultate nicht die Bedürfnisse der Lernenden geopfert werden, sehe ich kein Problem.»

Für Neugier und Kreativität bleibe wenig Platz, findet die Mutter. Diese Meinung teilt auch Studentin Alisha C. «Der Fokus liegt sehr stark auf den GCSE-Fächern. Der Rest wird vernachlässigt. Weil Französisch in meiner Schule nicht als GCSE-Fach zählte, fand der Unterricht nur noch alle zwei Wochen statt.» Wieder aus einer anderen Warte betrachtet Mona T. das Thema. Sie ist Schulleiterin an einer privaten Sekundarschule in Westlondon. Der Druck, den die Tests erzeugen, sei Teil ihrer Arbeit. «Egal in welchem System wir als Lehrpersonen wirken, Schulinspektionen und Leistungstests gehören dazu. So lange für gute Resultate nicht die Bedürfnisse der Lernenden geopfert werden, sehe ich darin kein Problem», sagt sie.

Private Schulen haben die Wahl

Was für das School League Rating zählt, ist die Leistung der Lernenden am Testtag. Dieses Resultat steht später in der Rangliste stellvertretend für die Qualität der Schule und das Potenzial der Lernenden. Eine eindimensional anmutende Wertungssicht, die Schulen in gut und schlecht einteilt. Die öffentlichen, staatlich finanzierten Schulen sind ins Test- und Ratingsystem fest integriert. Private Schulen haben die Wahl. Immer öfter entscheiden sich private Schulen gegen den Wertungsdruck. Die Benenden School, eine prestigeträchtige englische Mädchenschule, verzichtet auf das Erscheinen in den League Tables. Sie gibt ihre Testresultate nicht weiter. Dafür seien verschiedene Gründe verantwortlich, erklärt die Schulleiterin auf der Website der Schule. Gerade weil sich private Topschulen zunehmend gegen die League Tables entscheiden, sei das Rating nicht mehr aussagekräftig. Zusätzlich ist die Schule überzeugt, dass solche Ranglisten nicht der einzige Massstab seien, um Schulen und ihre Leistung zu bewerten. Bildung sei mehr als nur Noten und Tests.

Ohne Tests wurden Schulen nicht besser

Die Chance, dass England in Zukunft auf Testsysteme und Ratings verzichtet, bleibt jedoch klein. Dafür sorgen im Vereinigten Königreich eine tief verwurzelte «Klassifizierungstradition» und ein Blick nach Norden. Wales und Nordirland schafften 2001 die Veröffentlichung der nationalen Testresultate ab. Schottland zog nach und verzichtet seit 2003 auf die Publikation der School League Tables. Von Dauer und Erfolg waren diese Entscheidungen nicht geprägt: Eine Studie der Universität Bristol zeigte 2010 auf, dass sich die Leistungen der Sekundarschulen in Wales durch den Verzicht auf die Veröffentlichung der League-Daten nicht verbessert hatten. Durch das Fehlen des öffentlichen Blossstellens durch «naming and shaming» sei der Druck weggefallen, sich als Schule verbessern zu müssen. Seit 2015 publiziert Wales wieder «Performance-Informationen» und Schottland stellt seit 2017 wieder Daten betreffend Lese-, Schreibe- und Mathefähigkeiten der Schülerschaft online.

Schulen des Königreichs bröckeln

Die Ratingkultur ist nicht die einzige Baustelle des britischen Schulwesens. Aktuell machen der ehemaligen Grossmacht baufällige Schulhäuser zu schaffen. Viele Gebäude wurden Mitte der 1950er- bis Mitte der 1980er-Jahre mit einem Porenbeton gebaut, dessen Lebensdauer auf rund 30 Jahre geschätzt wird. Die Gebäude drohen nun einzustürzen. Über 200 Schulen sind betroffen und müssen zum Teil den Unterricht verlegen. Zusätzlich herrscht Personalmangel und die Zufriedenheit der verbleibenden Lehrpersonen ist auf einem Dauertief. Nach monatelangen Demonstrationen und Streiks erhalten die Lehrerinnen und Lehrer ab September 2023 mehr Lohn. Beim Berufseinstieg verdienen Lehrkräfte nun im Minimum 30 000 Pfund pro Jahr. Nach Abzug von Steuern und Versicherung entspricht dies einem Monatsgehalt von knapp 2000 Pfund. In London mit diesem Lohn über die Runden zu kommen, ist eine Herausforderung. Die Durchschnittsmiete für ein Zimmer in der Hauptstadt lag 2023 bei 989 Pfund pro Monat.

Unter den steigenden Kosten für Miete, Heizung und Lebensmittel leiden auch viele Familien und ihre schulpflichtigen Kinder. Drei Millionen Haushalte mit einem niedrigen Einkommen konnten vergangenen Winter ihre Wohnungen nicht heizen. Auch im kommenden Winter stehen viele vor der Entscheidung: heat or eat – heizen oder essen. Vom Verzicht auf warmes Duschen, saubere Schuluniformen oder gesunde Snacks spricht kaum jemand.

Mangelnde Repräsentation verzerrte Pisa-Resultat

Wie England nun in der ersten Pisa-Studie nach Corona, monatelangem Lockdown sowie sozialen und politischen Turbulenzen abschneidet, wird mit einer Mischung aus Spannung und Unbehagen erwartet – vergleichbar mit dem Gefühl vor dem Beginn eines Horrorfilms. Dies obwohl die Resultate der letzten Pisa-Studie 2019 zunächst hoffen liessen. Damals erreichte England bei den Lesekompetenzen 505 Punkte (Schweiz 484 Punkte), in der Mathematik 504 Punkte (Schweiz 515) und in den Naturwissenschaften 507 Punkte (Schweiz 495). England lag damit in allen Fächern über dem Durchschnitt der Mitgliedsländer der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Die Resultate stellten eine Verbesserung zu den vorangehenden Pisa-Erhebungen dar und wurden im Land der weltbesten Universitäten als Erfolg gewertet, wenn auch nur für kurze Zeit. Im April 2022 machte eine Studie publik, dass zu wenig Schülerinnen und Schüler an der Pisa-Studie teilgenommen hatten und schwächere Lernende unterrepräsentiert waren. Die neu berechneten Resultate warfen England in der Mathematik um elf Ränge zurück und unter den OCDE-Durchschnitt. Nicht verändert hat sich das Ranking zur Lebenszufriedenheit: Dort liegt England auf dem drittletzten Platz. Unter anderem gibt mehr als jeder vierte Teilnehmende an, gemobbt zu werden.

Die Lehrergewerkschaften nannten Rishi Sunaks Pläne realitätsfremd.

Ein politisches Luftschloss für die Bildung

Derweil versucht Premierminister Rishi Sunak Zukunftsvisionen aufzuzeigen. Anfang Oktober kündigte er die Einführung des «Advanced British Standards» an, einer neuen konkurrenzfähigeren englischen Matura. Es handelt sich dabei um ein einheitliches Format für die technischen und akademischen Schullaufbahnen – mit mehr Wissen, mehr Fächern, mehr Schullektionen und mehr Lehrpersonen. Der Start ist auf 2033 geplant. Die Lehrergewerkschaften nannten Rishi Sunaks Pläne realitätsfremd. Sie fordern stattdessen Lösungen für das krisengeplagte Bildungssystem, den Lehrermangel, die Arbeitsüberbelastung und die zu tiefen Löhne. Die neuesten Ankündigungen seien reine «Pie in the sky»-Pläne. Was übersetzt so viel bedeutet wie: «alles nur ein Luftschloss».

Nationale Schultests in England

Für die School League Tables werden nationale Tests in jeweils drei verschiedenen Altersgruppen durchgeführt: Im sechsten Schuljahr im Alter von 10 und 11 Jahren sind es die SATS (Standard Assessment Tests). Ende Sekundarschule im Alter von 15 bis 16 Jahren steht das GCSE (General Certificate of Secondary Education) an. Im Alter von 17 bis 18 Jahren sind es die A-Levels, vergleichbar mit einer Matura. Veröffentlicht werden die Rankings jeweils im Januar.

 

Weiter im Text

Zadie Smith: «Freiheiten. Essays», 2019, Kiepenheuer & Witsch

Autor
Text: Christa Wüthrich, London

Datum

13.12.2023

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