Unterrichten mit Migrationshintergrund

«Du bist nicht von hier. Also beweise, dass du besser bist»

Immer noch sind Lehrpersonen mit Migrationshintergrund relativ selten. Simina Stana und Özcan Azak sind zwei von ihnen. Sie unterrichten in einem Dorf mit vielen Kindern, die eine ähnliche Lebensgeschichte haben wie sie.

Simina Stana, Primarlehrerin im aargauischen Neuenhof, blickt selbstbewusst in die Kamera. Im Hintergrund sind eine Wandtafel, ein Bücherregal und ein Pult zu sehen.
Noch während ihres Studiums trat Simina Stana im aargauischen Neuenhof ihre Stelle als Primarlehrerin an. Fotos: Roger Wehrli

Das im aargauischen Limmattal gelegene Neuenhof gilt zwar als Dorf – seine Bildungsstätte ist aber alles andere als eine kleine Dorfschule. Auf grosszügigem Gelände verteilen sich mehrere Schulhäuser aus drei Epochen. Das älteste Schulhaus wurde um 1917 errichtet, einer Zeit, als Neuenhof ein Bauerndorf war. Die rasende wirtschaftliche Entwicklung, die nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzte, verwandelte den kleinen Ort in eine gesichtslose Schlafstadt mit grossem ausländischen Bevölkerungsanteil.

Diese Entwicklung machte auch vor der Schule nicht halt. Von den rund 1000 Kindern, die in Neuenhof zur Schule gehen, haben mindestens achtzig Prozent einen Migrationshintergrund. Es werden mehr als 40 Sprachen gesprochen. Zudem befindet sich in Neuenhof eine kantonale Asylunterkunft. Die Kinder von dort gilt es ebenfalls in die Schule zu integrieren.

Wer hier unterrichtet, braucht darum eine gehörige Portion Einfühlungsvermögen.

Wer hier unterrichtet, braucht darum eine gehörige Portion Einfühlungsvermögen und ein ausgeprägtes Verständnis für andere Kulturen. Özcan Azak und Simina Stana, zwei junge Lehrpersonen mit Mi-grationshintergrund, haben beides. Sie lieben die Herausforderungen, welche die Arbeit an sie stellt.

Beweisen, dass man besser ist

«Beim Bewerbungsgespräch warnte mich der zuständige Schulleiter eindringlich vor den örtlichen Gegebenheiten», erinnert sich Stana. Nachdem er der jungen Studentin ausführlich dargelegt hatte, auf was sie sich gefasst machen muss, falls sie hier unterrichten will, schob er ihr den Arbeitsvertrag über den Tisch und fragte, ob sie noch immer an dieser Schule arbeiten wolle. «Na klar», sagte Stana und unterschrieb den Vertrag. Die 26-jährige, frischgebackene Lehrerin trat ihre Stelle schon während des Studiums an. Sie unterrichtet eine vierte Klasse und liebte ihren Beruf vom ersten Tag an.

Die Dynamik, die von der Klasse ausgeht, entspricht ihrem Temperament. Beim Unterrichten brauche es die richtige Mischung aus Strenge und Grosszügigkeit. Stana wuchs in Waltenschwil auf, einem kleinen Dorf im aargauischen Freiamt. Als sie in die Schweiz kam, war sie fünf Jahre alt. Sie stammt aus Rumänien. Obwohl die Eltern als Chemieingenieure arbeiteten, reichte das Einkommen kaum zum Leben. Die Mutter beschloss daher, in der Schweiz eine neue Existenz aufzubauen. Der Vater hingegen wollte in Rumänien bleiben. Das Kind blieb vorerst bei ihm.

«Als mich meine Mutter als Fünfjährige in die Schweiz holte, war da zu meinem Erstaunen ein kleiner Halbbruder», erinnert sie sich. Und ein Stiefvater. Er half ihr dabei, schnell Deutsch und Schweizerdeutsch zu lernen. Wichtig waren aber auch die Kinder in der Nachbarschaft, die meisten davon Schweizerinnen oder Schweizer.

«Nach zwei Jahren im Kindergarten sprach ich perfekt Deutsch.» Die Primarschule absolvierte sie in der Schule im Dorf. Dort arbeitete ihre Mutter als Reinigungskraft. Das sei schlimm gewesen – aber nicht etwa, weil sie sich geschämt hätte, sondern weil ihre Mutter zu allen dort anwesenden Lehrpersonen ein geradezu kollegiales Verhältnis gehabt habe. So sei sie immer darüber im Bilde gewesen, was ihre Tochter gerade anstellte.

«Meine Mutter war streng und ehrgeizig», erzählt Stana weiter. «Sie fand sich irgendwann damit ab, dass sie in der Schweiz niemals einer Arbeit nachgehen konnte, die ihrem Bildungsniveau entsprach. Dafür schaute sie umso mehr, dass ich es schaffte.» Ihr Motto lautete: «Du bist nicht von hier. Also beweise, dass du besser bist.»

Einer von ihnen – beinahe

Unweit der jungen Lehrerin befindet sich das Schulzimmer von Özcan Azak. Auch er unterrichtet eine vierte Klassse. Azak ist gleich alt wie Stana. Die beiden kennen sich aus der gemeinsamen Studienzeit an der Fachhochschule Nordwestschweiz, wo sie sich zu Lehrpersonen ausbilden liessen. Azak wuchs in einer türkisch-kurdischen Familie auf. Geboren wurde er in der Schweiz. Seine Eltern kamen als politische Flüchtlinge ins Land. Die Jugend verbrachte er im aargauischen Wettingen. Die meisten seiner Freunde waren ausländischer Herkunft.

«Für mich ist es nichts Spezielles, dass ich Lehrer geworden bin», meint er zu seinem Werdegang. «Aber in meinem Freundeskreis war ich der Einzige, der studiert hat.» Das Schöne am Bildungssystem hierzulande sei jedoch, dass es viele Möglichkeiten für Weiterbildungen gebe, sagt der junge Lehrer. Viele seiner Freunde hätten diesen kleinen Umweg genommen.

Langsame Entwicklung

Gemäss Bundesamt für Statistik (BFS) hatten in der Schweiz 2022 knapp 40 Prozent der Wohnbevölkerung einen Migrationshintergrund. Dazu zählt das BFS Personen, die in die Schweiz eingewandert sind (1. Generation) und Kinder eingewanderter Personen (2. Generation). Wobei in der zweitgenannten Gruppe der Anteil der Eingebürgerten mit Schweizer Pass dann höher liegt.

Wie viele Lehrerinnen und Lehrer einen Migrationshintergrund haben, lässt sich statistisch nicht sagen. Erhoben wird lediglich die Anzahl Lehrpersonen mit einem ausländischen Pass, die nicht Doppelbürger sind. Im Schuljahr 2010/2011 waren dies an den obligatorischen Volksschulen 4,1 Prozent aller Lehrpersonen, im Schuljahr 2021/2022 gemäss BFS 6,5 Prozent.

Auch unter den angehenden Lehrpersonen liegt der Anteil mit Migrationshintergrund tiefer als in der Bevölkerung. Der Bildungsbericht 2023 hält sogar generell fest: «Personen mit Migrationshintergrund sind an Hochschulen unterrepräsentiert.» Innerhalb der verschiedenen Hochschultypen haben die Pädagogischen Hochschulen den tiefsten Anteil von Studierenden mit Migrationshintergrund. (ca)

Den Umgang mit Kindern und Jugendlichen lernte Azak schon im örtlichen Jugendklub. Dass er die Kinder mag und ernst nimmt, entgeht ihnen natürlich nicht. Ihrerseits machen sie denn auch kein Geheimnis aus ihren Sympathien für den jungen Lehrer. Ein bisschen haben die Kinder das Gefühl, dass Herr Azak einer von ihnen sei, also ein Ausländer und obendrein ein Moslem. «Allerdings», erinnert sich Azak, «waren die einen dann doch etwas enttäuscht, als ich ihnen erklärte, dass ich eigentlich kein richtiger Moslem, sondern ein Alevit, also quasi ein Ungläubiger bin.»

Die Sorgen und Nöte seiner Klasse sind dem jungen Lehrer nicht fremd. Vieles davon hat mit Kultur und Sprache zu tun. «Manche Lehrpersonen denken vielleicht nicht immer daran, dass ausländische Kinder nebst allen anderen Hürden auch noch die Sprachhürde zu überwinden haben», sagt er. «Wenn ein ausländisches Kind gut, aber nicht perfekt deutsch spricht, ist das leistungmässig eigentlich ähnlich zu werten wie ein Kind mit Muttersprache Deutsch, das die Sprache sehr gut beherrscht.»

An der Schule in Neuenhof sei die Sensibilität für dieses Thema sehr hoch, betont Azak. Er ist selber sehr interessiert an fremden Sprachen und Kulturen, Sitten, Bräuchen und Religionen. Das spüren auch die Viertklässler, von denen noch das stillste Kind aufblüht, wenn es von seinem Herkunftsland und den dortigen Gepflogenheiten berichten darf.

Schule als Spiegel der Gesellschaft

Dass immer mehr Lehrpersonen mit Migrationshintergrund vor den Schulklassen stehen, bewertet Renate Baschek als sehr positiv. Die oberste Schulleiterin der Neuenhofer Schule versichert jedoch, dass Lehrpersonen ausländischer Herkunft nicht aktiv gesucht würden. «Die vermehrte kulturelle Durchmischung der Lehrpersonen korrespondiert mit der Durchmischung der Schülerschaft», sagt Baschek. «Genauso wie zum Beispiel in einem Parlament die Durchmischung als Spiegel der Bevölkerung wünschenswert ist, gilt dies für ein Kollegium von Lehrpersonen.»

«Die vermehrte kulturelle Durchmischung der Lehrpersonen korrespondiert mit der Durchmischung der Schülerschaft»

Die Schulleiterin ist überzeugt, dass sämtliche Lehrpersonen an dieser Schule die nötige Sensibilität im Umgang mit ausländischen Kindern mitbringen. «Aber im Einzelfall», fügt Renate Baschek hinzu, «kann eine Lehrerin oder ein Lehrer mit Migrationshintergrund einzelne Verhaltensweisen möglicherweise schneller einordnen.»

Ob mit oder ohne Migrationshintergrund: Das Geheimnis erfüllter Schulstunden hat mit der Lust am Unterrichten zu tun. Özcan Azak bereitet das Vermitteln von Wissen eine tiefe Zufriedenheit.

Nicht anders empfindet es seine Kollegin Simina Stana. Sie sagt: «Ich wusste schon als Primarschülerin, dass ich Lehrerin werden wollte.» In der Schule habe sie ab und zu ein Schulheft mitgehen lassen. Die Hefte habe sie gebraucht, um an den freien Nachmittagen mit den kleinen Kindern aus der Nachbarschaft Schule zu spielen. «Ich glaube, dort habe ich viel gelernt für meinen Beruf.»

Autor
Roger Wehrli

Datum

27.01.2024

Publikation
BILDUNG SCHWEIZ

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