Das im aargauischen Limmattal gelegene Neuenhof gilt zwar als Dorf – seine Bildungsstätte ist aber alles andere als eine kleine Dorfschule. Auf grosszügigem Gelände verteilen sich mehrere Schulhäuser aus drei Epochen. Das älteste Schulhaus wurde um 1917 errichtet, einer Zeit, als Neuenhof ein Bauerndorf war. Die rasende wirtschaftliche Entwicklung, die nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzte, verwandelte den kleinen Ort in eine gesichtslose Schlafstadt mit grossem ausländischen Bevölkerungsanteil.
Diese Entwicklung machte auch vor der Schule nicht halt. Von den rund 1000 Kindern, die in Neuenhof zur Schule gehen, haben mindestens achtzig Prozent einen Migrationshintergrund. Es werden mehr als 40 Sprachen gesprochen. Zudem befindet sich in Neuenhof eine kantonale Asylunterkunft. Die Kinder von dort gilt es ebenfalls in die Schule zu integrieren.
Wer hier unterrichtet, braucht darum eine gehörige Portion Einfühlungsvermögen.
Wer hier unterrichtet, braucht darum eine gehörige Portion Einfühlungsvermögen und ein ausgeprägtes Verständnis für andere Kulturen. Özcan Azak und Simina Stana, zwei junge Lehrpersonen mit Mi-grationshintergrund, haben beides. Sie lieben die Herausforderungen, welche die Arbeit an sie stellt.
Beweisen, dass man besser ist
«Beim Bewerbungsgespräch warnte mich der zuständige Schulleiter eindringlich vor den örtlichen Gegebenheiten», erinnert sich Stana. Nachdem er der jungen Studentin ausführlich dargelegt hatte, auf was sie sich gefasst machen muss, falls sie hier unterrichten will, schob er ihr den Arbeitsvertrag über den Tisch und fragte, ob sie noch immer an dieser Schule arbeiten wolle. «Na klar», sagte Stana und unterschrieb den Vertrag. Die 26-jährige, frischgebackene Lehrerin trat ihre Stelle schon während des Studiums an. Sie unterrichtet eine vierte Klasse und liebte ihren Beruf vom ersten Tag an.
Die Dynamik, die von der Klasse ausgeht, entspricht ihrem Temperament. Beim Unterrichten brauche es die richtige Mischung aus Strenge und Grosszügigkeit. Stana wuchs in Waltenschwil auf, einem kleinen Dorf im aargauischen Freiamt. Als sie in die Schweiz kam, war sie fünf Jahre alt. Sie stammt aus Rumänien. Obwohl die Eltern als Chemieingenieure arbeiteten, reichte das Einkommen kaum zum Leben. Die Mutter beschloss daher, in der Schweiz eine neue Existenz aufzubauen. Der Vater hingegen wollte in Rumänien bleiben. Das Kind blieb vorerst bei ihm.
«Als mich meine Mutter als Fünfjährige in die Schweiz holte, war da zu meinem Erstaunen ein kleiner Halbbruder», erinnert sie sich. Und ein Stiefvater. Er half ihr dabei, schnell Deutsch und Schweizerdeutsch zu lernen. Wichtig waren aber auch die Kinder in der Nachbarschaft, die meisten davon Schweizerinnen oder Schweizer.
«Nach zwei Jahren im Kindergarten sprach ich perfekt Deutsch.» Die Primarschule absolvierte sie in der Schule im Dorf. Dort arbeitete ihre Mutter als Reinigungskraft. Das sei schlimm gewesen – aber nicht etwa, weil sie sich geschämt hätte, sondern weil ihre Mutter zu allen dort anwesenden Lehrpersonen ein geradezu kollegiales Verhältnis gehabt habe. So sei sie immer darüber im Bilde gewesen, was ihre Tochter gerade anstellte.
«Meine Mutter war streng und ehrgeizig», erzählt Stana weiter. «Sie fand sich irgendwann damit ab, dass sie in der Schweiz niemals einer Arbeit nachgehen konnte, die ihrem Bildungsniveau entsprach. Dafür schaute sie umso mehr, dass ich es schaffte.» Ihr Motto lautete: «Du bist nicht von hier. Also beweise, dass du besser bist.»
Einer von ihnen – beinahe
Unweit der jungen Lehrerin befindet sich das Schulzimmer von Özcan Azak. Auch er unterrichtet eine vierte Klassse. Azak ist gleich alt wie Stana. Die beiden kennen sich aus der gemeinsamen Studienzeit an der Fachhochschule Nordwestschweiz, wo sie sich zu Lehrpersonen ausbilden liessen. Azak wuchs in einer türkisch-kurdischen Familie auf. Geboren wurde er in der Schweiz. Seine Eltern kamen als politische Flüchtlinge ins Land. Die Jugend verbrachte er im aargauischen Wettingen. Die meisten seiner Freunde waren ausländischer Herkunft.
«Für mich ist es nichts Spezielles, dass ich Lehrer geworden bin», meint er zu seinem Werdegang. «Aber in meinem Freundeskreis war ich der Einzige, der studiert hat.» Das Schöne am Bildungssystem hierzulande sei jedoch, dass es viele Möglichkeiten für Weiterbildungen gebe, sagt der junge Lehrer. Viele seiner Freunde hätten diesen kleinen Umweg genommen.