SELEKTION

Der Übertritt ins Gymnasium erhitzt die Gemüter

Für viele Eltern gilt das Gymnasium als Königsweg. Entsprechend hoch ist der Druck auf Kinder und Lehrpersonen – vor allem, wenn Erwartungen enttäuscht werden. Das birgt Konfliktpotenzial.

Jugendliche steht am Geländer und blickt auf die Stadt hinunter.
Oft schüren falsche Erwartungen den Wunsch, ans Gymnasium zu gehen. Foto: iStock/Imagesby Trista

Bildungsthemen sind selten Stoff für filmreife Geschichten – ausser es geht um den Übertritt ins Gymnasium. Die Komödie «Frau Müller muss weg» verhandelt diese verhärteten Fronten im Schulalltag, wo Eltern der Lehrerin unverhohlen ein Ultimatum stellen. Das Stück ist fiktiv, zeigt aber ein echtes Problem auf: Wenn es um die Selektion und die Zukunft ihrer Kinder geht, sind Eltern zu vielem bereit – koste es, was es wolle.

Werden sich Lehrperson, Eltern und Kinder nicht einig, entscheidet je nach Kanton eine Prüfung, die Schulpflege, eine Schlichtungsstelle oder gar ein Gericht. Letzteres kommt jedoch selten vor. Für Aufsehen sorgte allerdings kürzlich eine Aussage der Lernforscherin Elsbeth Stern. Sie sagt, dass rund ein Drittel der Mittelschülerinnen und Mittelschüler nicht ans Gymnasium gehören. Diese seien nur dort, weil akademisch gebildete Eltern ihre Kinder pushen.

«Der Druck von Eltern auf Lehrpersonen hat massiv zugenommen.»

Die Geschütze der Eltern

Werden Konflikte rund um Übertritte nun tatsächlich häufiger oder handelt es sich um medial aufgeblasene Einzelfälle? Roland Näf sieht jedenfalls viel Konfliktpotenzial. «Der Druck von Eltern auf Lehrpersonen hat massiv zugenommen», bestätigt der ehemalige Schulleiter. Er kennt die Bildungspolitik noch aus seiner Zeit als Grossrat für die Berner SP und Präsident der kantonalen Bildungskommission. Als Pensionierter verfolgt er das Thema weiterhin. Näf kann gut nachvollziehen, wenn Lehrpersonen den Übertritt ans Gymnasium empfehlen, um Auseinandersetzungen zu vermeiden: «Sie können sich nicht vorstellen, welches Geschütz Eltern auffahren und wie aggressiv manche mit Anwälten drohen.»

Für Näf ist die Popularität der gymnasialen Bildung Ausdruck einer gesellschaftlichen Entwicklung, wo Prestige eine grössere Rolle spielt und den Konkurrenzkampf fördert: «Wir ertragen es nicht, wenn es die Kinder des Nachbarn ans Gymnasium schaffen und unsere nicht.» Er sieht das Problem nicht darin, dass zu viele Jugendliche ans Gymnasium wollen, sondern die falschen. «Es ist heute eine Frage der sozialen Schicht und nicht der intellektuellen Voraussetzung. Wir brauchen am Gymnasium jene mit der nötigen intellektuellen Kreativität und mit analytischen Fähigkeiten.» Das jetzige System erlaube es, sich auch ohne mathematische und analytische Begabung bis zur Matur zu «wursteln». Man müsse dafür einfach in anderen Fächern fleissig genug sein.

«Vor lauter Testen und Beurteilen geht das Fördern vergessen.»

Die Fixierung auf den «Königsweg Gymnasium» ist problematisch. Das beschäftigt auch Schulleiter Daniel Gebauer, der ausserdem Geschäftsleitungsmitglied des Dachverbands Lehrerinnen und Lehrer Schweiz LCH ist. «Die Erwartungshaltungen der Schülerinnen und Schüler und vor allem der Eltern nehmen bei der Wahl der Wunschlaufbahn mehr Platz ein als das Ergründen des tatsächlich vorliegenden Potenzials.» Er weist darauf hin, dass so ein wesentliches Ziel der Schulbildung vernachlässigt wird. «Ich habe manchmal fast den Eindruck, dass vor lauter Testen und Beurteilen das Fördern vergessen geht.»

Konflikte selten, aber belastend

Einer ruft in der Debatte zu Besonnenheit auf: «In meiner Wahrnehmung gibt es selten Konflikte. In der Regel wird eine einvernehmliche Lösung gefunden und generell ist die Akzeptanz der Schule bei der Elternschaft nach wie vor hoch.» Dies sagt Markus Neuenschwander, Leiter des Zentrums Lernen und Sozialisation der Pädagogischen Hochschule FHNW. Bei den Konflikten handle es sich um Einzelfälle, die für Lehrpersonen sehr belastend sein können und Angst vor zukünftigen Gesprächen wecken können.

Neuenschwander sieht in der Debatte um Übertritte ans Gymnasium vor allem ein Stadtphänomen, das besonders in Kantonen wie Zürich, Basel-Stadt und Genf auffällt. «Dass Akademikereltern für ihre Kinder ähnliche Abschlüsse wollen, findet sich überall, wird aber in Städten besonders intensiv diskutiert», sagt er. In ländlichen Kantonen wie Bern, Aargau oder Solothurn seien solche Konflikte viel seltener, was mit dem höheren Stellenwert der Berufsbildung zu tun haben könnte.

Jedem Kanton sein Gymnasium

Jeder Kanton hat sein eigenes System: In einigen gibt es Langzeit-, in anderen nur Kurzzeitgymnasien. Die einen regeln Übertritte mit Empfehlungen und Notenschnitt, andere kennen die Aufnahmeprüfung ans Gymnasium. Was sinnvoller ist, darüber scheiden sich die Geister.

Beim Übergang von der Primar- in die Sekundarstufe praktiziert der Kanton Bern eine hybride Form. Diese habe sich bewährt, sagt Gebauer. «Sind die Eltern mit dem Übertrittsentscheid nicht einverstanden, können sie ihr Kind für eine Kontrollprüfung anmelden.» Er ist überzeugt, dass Transparenz in der Beurteilung Streitfälle vermeiden kann.

Entspannt ins Kurzzeitgymnasium

Für Neuenschwander hängt die Selektion eng mit dem jeweiligen Bildungssystem zusammen. Die Kantone Bern, Aargau und Solothurn beispielsweise führen keine Langzeitgymnasien mehr – und kennen dementsprechend auch keinen Gymnasiumsübertritt nach sechs Jahren Primarschule wie Zürich oder Luzern. Die Frage nach dem Übertritt ins Kurzzeitgymnasium stellt sich erst nach neun Schuljahren. «In diesem Alter entspannt sich die Selektionsfrage in der Regel. Ein solches System ist also möglich, wie die Systeme in diesen Kantonen beweisen», sagt er.

«Können wir uns eine Schulform leisten, die zum Nachteil der Mehrheit der Jugendlichen ist?»

Neuenschwander verweist auf Studien, die zeigen, dass die Leistungen der Schülerinnen und Schüler in Kantonen ohne Langzeitgymnasien nicht schlechter seien. Es ist ausserdem eine Frage der Chancengleichheit. «Langzeitgymnasien dienen einer kleinen Gruppe von Schülerinnen und Schüler», sagt er und fragt deshalb: «Können wir uns eine Schulform leisten, die zum Nachteil der Mehrheit der Jugendlichen ist?» Ein Bildungssystem ohne frühe Selektion erhöhe die Chancengleichheit, wie das Beispiel Tessin zeige. Der Kanton führt bis zur 9. Klasse eine integrierte Schule mit Leistungskursen im 8. und 9. Schuljahr.

«Hervorragende Alternativen»

Wichtig findet Neuenschwander zudem, dass Eltern besser über die Bildungsmöglichkeiten informiert werden. «Das Gymnasium ist nicht für alle der beste Weg.» Das Schweizer System sei durchlässig und der Zugang zu Hochschulen auch nach einer Berufslehre möglich.

Auch Gebauer bedauert, dass fälschlicherweise viele Eltern die Selektionsentscheide als «endgültiges Stellen von Weichen für die Zukunft ihrer Sprösslinge» auffassen. Der gymnasiale Weg gelte noch immer als «Königsweg», besonders bei Akademikerinnen und Akademikern. «Dass die Schweiz mit ihrem dualen Bildungsweg und durchlässigen Bildungssystem über hervorragende Alternativen verfügt, wird leider ausgeblendet», so Gebauer.

«Den Spruch vom Königsweg können wir streichen. Da wird heute viel zu oft repetitives Wissen bis zum geht nicht mehr gefragt.»

Intellektuelle Kreativität fördern

Für Näf lässt sich der Konkurrenzkampf ums Gymnasium rational nicht rechtfertigen. «Die Berufsbildung ist wesentlich effizienter und die Erfolgschance ist statistisch gesehen grösser. Die Abgängerinnen und Abgänger sind wesentlich gefragter als die meisten von der Uni.» Darum fordert Näf eine Neuausrichtung der Gymnasien: «Den Spruch vom Königsweg können wir streichen. Da wird heute viel zu oft repetitives Wissen bis zum geht nicht mehr gefragt, das reicht in der heutigen Zeit der Digitalisierung nicht mehr.»

Aus seiner Sicht müsste im Gymnasium die intellektuelle Kreativität viel stärker gefördert werden. «Die Berufsausbildung ist da viel näher an der Berufswelt und hat sich darum viel geschickter entwickelt.» Ein reformiertes Gymnasium werde auf Dauer automatisch auch eine andere Klientel anziehen, ist Näf überzeugt. «Wir müssen der Öffentlichkeit stärker klarmachen, was es dafür braucht – und irgendwann wird es durchschlagen.»

Autor
Jonas Wydler

Datum

31.01.2023

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