Bildung International

Der Krieg beeinträchtigt Vietnams Schulen bis heute

Das Aufarbeiten des Kriegs in Vietnam läuft schleppend. Schulen sollen das Narrativ der Regierung vermitteln. Gleichzeitig helfen sie mit, Leid zu lindern. Eine Reportage.

Eine Schulklasse während des Besuchs im Literaturtempel in Hanoi, der fast 1000 Jahre alten ersten Universität des Landes. Fotos: Roland Schmid

Die zehnjährige Kieu ist ein schüchternes Mädchen und trägt wie alle hier eine blauweisse Schuluniform. Im Unterricht hört sie gerade fürchterliche Geschichten. Kieu lebt im Dorf Cam Tuyen in der Provinz Quang Tri. Diese liegt an der ehemaligen Demarkationslinie zwischen Nord- und Südvietnam. Sie war eine der am schwersten umkämpften und bombardierten Regionen der Geschichte. Die Provinz wurde mit Millionen Tonnen von Bomben, Landminen, Granaten und anderen Waffen terrorisiert. Das US-Verteidigungsministerium schätzt, dass etwa zehn Prozent der Munition nicht explodierten. Seit Kriegsende verletzten oder töteten Blindgänger allein in der Provinz Quang Tri fast 8000 Menschen. Ein Drittel der Blindgängeropfer von Quang Tri sind Kinder. Die Schülerin Kieu gesteht, sie habe auf ihrem Schulweg wegen der Blindgänger manchmal Angst.

Lernen, mit der Bombe zu leben. Auf keinen Fall berühren, Abstand halten und sofort die «Renew-Hotline» anrufen. Dies wird den Kindern eingeschärft. «Project Renew» ist eine hauptsächlich von Norwegen finanzierte Nichtregierungsorganisation. Das Blindgänger-Team der Organisation besteht aus mehr als 1500 Personen. Es zeigt den Schülerinnen und Schülern grossformatige Bilder von den vielen Arten von Blindgängern, die hier im Boden lauern.

Das Lehrpersonal im Dienst der Partei

In ihrem sehr empfehlenswerten Buch «Gesang der Berge» erzählt die vietnamesische Schriftstellerin Nguyen Phan Que Mai von den Kriegstagen. In Dialogen lässt sie eine Grossmutter, die früher Lehrerin war, mit ihrer Enkelin sprechen.

«In deinen Schulbüchern wirst du nichts über die Landreform und die Kämpfe innerhalb der Viet Minh finden.»

Die Grossmutter erzählt, weshalb sie damals den Kindern zuliebe ihren Beruf aufgegeben habe: «Ich ertrage es nicht, ihren unschuldigen Geist mit Propaganda vollzustopfen.» Sie wolle keine Dienerin der Partei sein. «In deinen Schulbüchern wirst du nichts über die Landreform und die Kämpfe innerhalb der Viet Minh finden», sagt die Grossmutter. Viet Minh hiess die Befreiungsfront während der französischen Kolonialzeit in Vietnam. In der sogenannten Landreform haben die Viet Minh Zehntausende von Bauern enteignet, inhaftiert oder hingerichtet. Die Grossmutter erzählt: «Dieser Teil der Geschichte unseres Landes ist ausgelöscht worden, zusammen mit den Leben zahlloser Menschen. Es ist verboten, über Dinge zu sprechen, die mit Fehlern der Vergangenheit oder Verbrechen der Machthaber zu tun haben, denn sie nehmen sich das Recht, die Geschichte umzuschreiben.» Das historische Narrativ im Schulunterricht hat sich dem Diktat der kommunistischen Partei zu fügen.

Der Schriftsteller und ehemalige BBC-Reporter Nguyen Qui Duc, den der Autor dieser Reportage in Ho-Chi-Minh-Stadt trifft, dem früheren Saigon, spricht von einer Propaganda im sowjetischen Stil, «in der die Soldaten stets Helden sind, fast ohne menschliche Gefühle. Aber die reale Geschichte handelt von Müttern und Soldaten, die leiden. In den letzten 15, 20 Jahren wurden nur wenige Bücher darüber zugelassen. Ansonsten wird in den Schulen noch immer die alte Geschichte gelehrt.»

Schweigen – eine Form der Lüge

Über den amerikanischen Krieg (1965 bis 1975) werde vieles verschwiegen, schreibt die in Berlin lebende Schriftstellerin und Übersetzerin Pham Thi Hoai dem Autoren dieser Reportage. Etwa dass der Vietnamkrieg ein Stellvertreterkrieg im Kalten Krieg war. Es werde auch nicht darüber gesprochen, dass es einen Bürgerkrieg zwischen Nord- und Südvietnam gab, in dem der kommunistische Norden von Südvietnamesen als Aggressor wahrgenommen wurde. Verschwiegen werden die Bemühungen Südvietnams um nationale Unabhängigkeit. Verschwiegen werden ebenfalls Kriegsverbrechen wie das Massaker von Hue von 1968: Ein Kriegsverbrechen, bei dem die Kommunistische Partei Nordvietnams und die Nationale Befreiungsfront die politische und intellektuelle Elite umbringen liess. Etwa 3000 Menschen wurden hingerichtet, zu Tode gefoltert und nochmals so viele verschleppt.

Verschwiegen im Schulunterricht wird auch die Flucht von rund zwei Millionen südvietnamesischen Menschen ins Ausland, die als «Boat people» in die Geschichte eingingen. «Alles, was auch nur den geringsten Eindruck erweckt, dass die Partei Fehler gemacht haben könnte, oder sie in einem negativen Licht erscheinen lässt, wird verschwiegen», schreibt Pham Thi Hoai. Und vor allem auch alles über die äusserst komplizierte Beziehung zwischen der Kommunistischen Partei Vietnam und jener von China. Nichts davon erfahren Vietnams Schülerinnen und Schüler. «Selbst die chinesische Frau von Ho Chi Minh wurde bis jetzt totgeschwiegen.»

Böse Schulen – gute Schulen

In den Bergen von Zentralvietnam lebt der deutsche Auswanderer Ulf Karstein. Sein richtiger Name und Wohnort sind aus Sicherheitsgründen geändert. Er würde sonst riskieren, des Landes verwiesen zu werden. Karstein zieht einen Vergleich mit Russland: «Wer dort den Krieg in der Ukraine beim Namen nennt, riskiert bis zu 15 Jahre Gefängnis. Dass wir in Vietnam Ähnliches haben, ist in meiner Heimat Deutschland kaum bekannt. Die fast 60 Dissidentinnen und Dissidenten, die gerade in Vietnam eingesperrt sind, haben nämlich nichts anderes getan, als die Wahrheit zu berichten.» Kritik an der Regierung ist vollkommen tabu. Wer es trotzdem wagt, muss mit hohen Geldstrafen oder Gefängnis rechnen. Im Ranking der Pressefreiheit der «Reporter ohne Grenzen» steht Vietnam derzeit auf dem 174. von 180 Plätzen. All dies bestreitet Hanoi und spricht von westlicher Verleumdung.

«Die Wiedervereinigung ist eine Art Märchenerzählung.»

Karstein ist Vater einer Tochter, die in Vietnam zur Schule geht. So hat er auch vieles aus dem Innenleben des vietnamesischen Schulwesens kennengelernt. Der vietnamesische Durchschnittsmensch teile Schulen und Lehrpersonal in gut und böse ein. Als böse und schlecht würden Lehrende angesehen, deren Vorfahren einst im Süden gewohnt und auf der Seite der südvietnamesischen Regierung und der verbündeten USA gestanden hätten. Als gute Schule gelten jene, in denen das Personal nordvietnamesische Wurzeln habe, erzählt Karstein. Diese Geschichte zeigt für manche politischen Beobachterinnen und Beobachter, dass es im Grunde nie eine integrale Vereinigung von Nord- und Südvietnam gegeben hat und dass sich noch immer ein tiefer Graben durch die Gesellschaft zieht. «Die Wiedervereinigung ist eine Art Märchenerzählung», sagte zum Beispiel ein US-Kriegsveteran, der in Vietnam humanitär tätig ist und dem Autoren erzählte, wie es nordvietnamesischen und südvietnamesischen Kriegsveteranen heute ergeht. Wer oder wessen Familie damals auf der Seite der USA stand, sei meist mausarm. Diese Kriegsopfer bekämen viel zu wenig Hilfe vom Staat. Wer hingegen auf der Seite des Vietcongs und des Nordens gewesen sei, dem gehe es heute gut.

Nutzlose Menschen

ACDC mit Sitz in der Hauptstadt Hanoi ist eine Nichtregierungsorganisation, die sich für Kinder und Erwachsene einsetzt, die mit einem Handicap leben. Gegründet hat diese Organisation Thi Lan Anh. Sie berät auch die Regierung. Eine heimtückische Knochenkrankheit zwingt sie in den Rollstuhl. Das Schwierigste sei die Einstellung der einheimischen Politszene. «Viele Politiker glauben nämlich, dass Menschen mit einer Behinderung nutzlos sind, dass sie keinen Beitrag an die Gesellschaft leisten.» Diese Einstellung müsse sich unbedingt ändern. «Eine sehr, sehr schwierige Aufgabe.»

Die Geringschätzung für Menschen mit einer Behinderung ist vermutlich mit ein Grund, weshalb deren Bildungschancen ziemlich gering sind. So gibt es zum Beispiel in den 63 Provinzen Vietnams insgesamt nur drei Schulen für blinde und sehbehinderte Schülerinnen und Schüler. «Behinderte Kinder setzt man oft einfach auf die Schulbank und dort sitzen sie dann untätig herum», sagt Thi Lan Anh. «Sie lernen nichts.» Das Lehrpersonal sei für diese besondere Aufgabe nicht ausgebildet.

Die Hürden seien zahlreich. So seien Beschäftigungsmöglichkeiten für behinderte Menschen so gut wie inexistent. Gebäude seien für Menschen im Rollstuhl nur in wenigen grossen Städten zugänglich. Mit Pilotschulen versucht ACDC die Lage zu verbessern. «Wir zeigen dem Lehrpersonal zum Beispiel, wie es betroffene Kinder unterstützen kann, und wir schaffen geeignete Unterrichtsmaterialien.» Leider habe man viel zu wenig Personal und es fehle an allen Ecken und Enden an Geld.

Die Schule im Krieg

Kriege produzieren Traumata – bei allen, die ihn nahe miterlebten. Der Historiker und Journalist Gerhard Feldbauer, heute 89 Jahre alt, war damals in Vietnam zusammen mit seiner Frau Irene als Kriegsreporter für die DDR unterwegs.

«Wir sehen die zerfetzten Schulbücher, Kinder, die auf Bombentrichter schauten, wo ihre Hütten standen.»

«Noch heute haben wir die blutbefleckten Kleider vor Augen», berichtet er im vergangenen August dem Autor dieses Beitrags. «Wir sehen die zerfetzten Schulbücher, Kinder, die auf Bombentrichter schauten, wo ihre Hütten standen, Krankenbetten, die aus Trümmern ragten, verstümmelte Menschen, Arme, Beine abgerissen, die vielen, vielen Toten, Opfer in der Zivilbevölkerung, vor allem immer wieder Frauen, Kinder, alte Menschen.» Sämtliche Städte Nordvietnams seien bombardiert worden, die Hälfte völlig zerstört – darunter 29 234 Schulen, so Feldbauer. Alles in allem ein Leid, das man als Reporter kaum habe beschreiben können. Und trotzdem: Schulen funktionierten weiter. In Unterständen und Tunneln.

Während die offiziellen USA ihre Soldaten und Soldatinnen des Vietnamkriegs noch immer als Superpatrioten feiern (Ex-Präsident Obama: «wahre Helden»), sehen das heute viele anders. Zum Beispiel der Kriegsveteran David E. Clark. Mit 19 Jahren meldete er sich freiwillig zum Marinekorps der Vereinigten Staaten. Heute spricht er von Schlachten, die nie hätten stattfinden dürfen. Er habe damals seiner Regierung geglaubt, die diesen Krieg als Verteidigung der Freiheit verkauft habe. Zurückgekehrt ist er mit einem Trauma, das den jetzt 73-Jährigen bis heute verfolgt – mehr als 50 Jahre später. Clark wohnt in Zentralvietnam und ist mit einer Vietnamesin verheiratet. Dort setzt er sich für die Opfer von «Agent Orange» ein. Die USA und ihre Verbündeten versprühten über Südvietnam Millionen von Litern des dioxinhaltigen Herbizids. Dies sollte dem Feind die Deckung rauben und seine Fruchtfelder vernichten – mit grauenhaften Folgen. In «Agent Orange» war das hochgiftige Dioxin TCDD enthalten. Es schädigt das Erbgut. Heute kommen deswegen bereits Kinder in der vierten Generation mit Fehlbildungen zur Welt.

Betroffene Familien sind meist sehr arm. «Wenn ihre Kinder weit weg vom Schulhaus wohnen und kein Fahrrad haben, bekommen sie keine Bildung», sagt Clark. «Sie gehen dann einfach nicht zur Schule.» Zusammen mit anderen US-amerikanischen Kriegsveteranen hat er bisher fast 2000 Fahrräder finanziert. Seinen eigenen Zustand schildert Clark so: «Das Herz der Veteranen ist vergleichbar mit einem Ort ohne Parkplatz. Wenn Sie das erste Mal Liebe machen – dafür gibt es in Ihrem Herzen einen kleinen Parkplatz. Wann immer Sie möchten, können Sie dieses Plätzchen besuchen. Wenn Sie zum ersten Mal Ihr Kind in den Armen halten – auch dafür gibt es einen Parkplatz. Es gibt viele solche Parkplätze, nicht wahr? Wenn Sie hingegen im Krieg waren – dafür gibt es keinen Parkplatz. Es ist vielmehr so, wie wenn Sie ein Leben lang herumfahren und nie einen Parkplatz finden.»

Der Vietnamkrieg

Der als Vietnamkrieg bezeichnete Konflikt dauerte von 1955 bis 1975. Er begann mit der Teilung Vietnams 1954. Darauf brach ein Bürgerkrieg aus. Der kommunistische Norden versuchte die antikommunistische Regierung im Süden zu stürzen. 1964 weitete sich der Krieg auf Laos und Kambodscha aus. 1965 griff die USA aktiv in den Konflikt ein. Im Februar liess Präsident Johnson das Land erstmals bombardieren – angeblich weil Nordvietnam ein US-Kriegsschiff angegriffen hatte. Dies stellte sich jedoch später als Lüge heraus. Als wichtigste Kriegsparteien standen Nordvietnam und die als «Vietcong» bezeichnete Nationale Front für die Befreiung Südvietnams den USA und Südvietnam gegenüber. 1975 endete der Krieg mit dem Sieg Nordvietnams und der ersten militärischen Niederlage in der US-Geschichte. Rechnet man den acht Jahre dauernden französischen Kolonialkrieg davor und den Bürgerkrieg dazu, war es mit rund drei Jahrzehnten die längste kriegerische Auseinandersetzung des 20. Jahrhunderts mit Millionen von Toten. Je nach Standpunkt wurde der «freie Westen» gegen den Kommunismus verteidigt oder ein Befreiungskrieg gegen ausländische Mächte geführt.

Autor
Peter Jaeggi

Datum

03.01.2023

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