Interview zum Bildungsbericht 2023

Darum schneiden einige Kantone in Pisa-Tests so gut ab

Der Bildungsbericht 2023 ist da. Es ist bereits der fünfte Bericht, der unter Stefan Wolter erscheint. Im Interview erzählt der Direktor der SKBF, welche Erkenntnisse ihn dieses Mal überrascht haben und warum es sich gelohnt hat, den Bericht zu verschieben. 

Stefan Wolter, Direktor der Schweizerischen Koordinationsstelle für Bildungsforschung und Professor für Bildungsökonomie.
Trotz seiner jahrelangen Erfahrung hat Stefan Wolter auch bei diesem Bildungsbericht wieder dazugelernt. Foto: Eleni Kougionis

Der fünfte Bildungsbericht unter Ihrer Leitung ist da. Gibt es noch Erkenntnisse, die Sie überraschen?

Stefan Wolter: Man lernt auch nach 20 Jahren dazu. Mir war zum Beispiel nicht bewusst, dass Schülerinnen und Schüler in gewissen Kantonen trotz eigentlich guten Leistungen das letzte Schuljahr repetieren können, und zwar dasselbe Jahr im gleichen Schultyp. Dies mit dem Zweck, es in einem zweiten Anlauf doch noch ans Gymnasium zu schaffen. 

Finden Sie das stossend?

Es geht nicht primär darum, ob ich das stossend finde. Aber in einigen Kantonen ist der Anteil solcher Repetitionen beachtlich hoch. Einer davon schnitt in Pisa-Vergleichstests immer gut ab. Den beteiligten Forscherinnen und Forscher war aber nicht bewusst, dass ein Zehntel der Schülerinnen und Schüler den Stoff zum zweiten Mal sah und also besser kannte als die anderen.

Um welchen Kanton geht es?

Es geht um den Kanton Freiburg, aber auch im Wallis, Luzern oder in der Waadt sind solche Repetitionen üblich. Einige Kantonen lassen solche Wiederholungen hingegen gar nicht zu. Das hat neben der bereits geschilderten Auswirkung auch individuelle Folgen. In Kantonen ohne diese Option heisst es: Wer die obligatorische Schulzeit durchlaufen hat, muss weiterziehen. 

Wegen der Coronapandemie wurde der Bildungsbericht acht Monate später publiziert. Hat sich die Verschiebung gelohnt?

Ja. 2020 erweist sich in vielen Statistiken als Extremjahr. Hätten wir den Bericht wie vorgesehen im Juni 2022 veröffentlicht, wäre nur dieses Jahr in die Auswertungen eingeflossen. Nun konnten wir auch 2021 berücksichtigen, was eine erste Einordnung der Pandemie ermöglicht. 

Haben Sie ein Beispiel?

2020 fielen die Maturitäts- und die Lehrabschlussprüfungen deutlich besser aus als üblich, die Durchfallquote bei den gymnasialen Maturitäten halbierte sich gar. Dank dem Einbezug der Periode bis zum Sommer 2022 lässt sich nun sagen, dass dies ein Ausreisser war: Die Durchfallquote hat sich wieder auf dem Niveau von vor der Pandemie eingependelt.

Sie befürchteten in der ersten Phase der Pandemie, Schul- sowie Lehrabgängerinnen und -abgänger würden Schwierigkeiten bekommen. Es kam nicht so. Weshalb?

Die wirtschaftliche Situation entwickelte sich komplett anders als vom Staatssekretariat für Wirtschaft prognostiziert. Beim Bruttoinlandprodukt resultierte statt einem Minus von 6 Prozent bloss ein Minus von 2,4 Prozent. Zudem entschärften begleitende Massnahmen wie das Betreibungsverbot oder der Ausbau der Kurzzeitentschädigung die Situation. In einer normalen Rezession hätten wir aber die befürchteten Auswirkungen gesehen. 

2022 provozierten Sie mit der Forderung, Teilzeit arbeitende Absolventinnen und Absolventen von tertiären Ausbildungen sollten dem Staat Ausbildungskosten zurückerstatten. Sie machten sich damit unbeliebt.

Ich exponiere mich eigentlich selten. Der Bildungsbericht enthält explizit keine Empfehlungen. Um zu erklären, weshalb ich es bei diesem Thema tat, muss ich etwas ausholen: Zuweilen wird mir vorgeworfen, es sei billig, immer nur aufzuzeigen, was nicht funktioniert. In diesem Fall waren wir gehalten, Lösungen zu präsentieren. Dazu wurden zwölf Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu sechs Themen angefragt. Der Vorschlag, den ich zusammen mit Professorin Conny Wunsch einbrachte, basiert aber auf einer Analyse im Bildungsbericht 2018: Bisher zahlten sich auch längere Ausbildungen für die öffentliche Hand aus. Dies weil Absolventinnen und Absolventen im Verlaufe ihres Lebens die Kosten der subventionierten Ausbildungen in Form von höheren Steuern abgelten. Doch die Erwerbstätigen in der Schweiz reduzieren ihren Beschäftigungsgrad laufend. Im Bildungsbericht 2018 zeigten wir, wenn dieser unter einen bestimmten Wert fällt, müssen andere für diese teuren Ausbildungen bezahlen – was nicht gerecht ist. 

2018 rechneten Sie im Bildungsbericht vor: Würden Lehrpersonen im Schnitt 10 Prozent mehr arbeiten, gäbe es keinen Mangel. Gilt dieses Rezept weiterhin?

Ja. Aus individueller Sicht kann ich zwar nachvollziehen, dass sich Leute anders entscheiden. Eine Reduktion des Pensums ist wegen verschiedenen Anreizen sogar eine rationale Entscheidung. In der Summe schaden diese aber der Gesellschaft. Im konkreten Fall fehlen eben Lehrpersonen. Für die Eltern eines Kindes sind erfahrene, schon ausgebildete Lehrpersonen mit höheren Pensen die bessere Lösung, als ungenügend ausgebildete Personen oder einfach nur grössere Klassen. Mein Vorschlag entfaltet zudem rasch Wirkung. Dies im Unterschied zur aktuell im Bundesparlament diskutierten Senkung der Zulassungshürden für die Ausbildung. Bis diese Massnahme greift, vergehen Jahre.

Zum Schluss noch ein Lesetipp: Welches Kapitel empfehlen Sie Lehrerinnen und Lehrer der Volksschule besonders zur Lektüre?

Ich empfehle, den ganzen Bericht zu lesen. Nein, Spass beiseite. Meist ist es ja so, dass man sich vor allem für seinen Bereich interessiert; ein Hochschulprofessor wie ich also für Universitäten, Primarlehrpersonen für die Volksschule und so weiter. Dann wird einem aber nicht bewusst, wie alles zusammenhängt. Wir sollten insbesondere über jene Bereiche mehr wissen, von denen wir Schülerinnen und Schüler übernehmen oder an die wir sie abgeben. Der einfachste Weg dazu ist, die entsprechenden Kapitel im Bildungsbericht zu lesen.

Das ist der erste Teil des Interviews mit Stefan Wolter. Der zweite Teil erscheint Ende März.

Autor
Christoph Aebischer und Kevin Fischer

Datum

07.03.2023

Themen