Lehren und betreuen

An der Ganztagesschule sind die Tage lang – aber bereichernd

Am Morgen unterrichten, nach der Schule betreuen: An der Ganztagesschule Wabern haben die Lehrpersonen verschiedene Rollen inne. Das ist anspruchsvoll, stärkt aber auch die Beziehung zu den Schülerinnen und Schülern.

Kinder beladen Teller mit Essen. Dabei stehen zwei Frauen.
Zur Ganztagesschule gehört auch die Betreuung in der unterrichtsfreien Zeit. Fotos: Marion Bernet

Im Arbeitsraum der Ganztagesschule im bernischen Wabern sitzt eine Lehrerin und bereitet den Unterricht vor. Wenige Meter nebenan, im Pausenraum der Mitarbeitenden, schneidet eine pädagogisch ausgebildete Betreuerin Papier zurecht. Ein Stockwerk höher machen sich die Kinder der Basisstufenklasse bereit für den Turnunterricht, im Schulzimmer nebenan arbeitet eine Klasse an ihrem Mathematikdossier.

Es ist ein normaler Vormittag an der Ganztagesschule Wabern, so wie er an anderen Schulen auch vorkommt. Und doch ist hier einiges anders: «Wir dürfen die Lehrerinnen duzen», sagt die Schülerin Aruna. Das Duzen der Lehrerinnen fällt nicht gross auf – dennoch steht das Du symbolisch für etwas Grösseres: die Annäherung und letztlich Verknüpfung zweier Berufsfelder. «In der Betreuung ist es üblich, dass die Kinder ihre Betreuungspersonen duzen», sagt Schulleiter Jürg Kaufmann. In der Schule ist dies normalerweise kein Thema. Bei der Projektausarbeitung der Ganztagesschule vor vier Jahren mussten sich die Betreuungspersonen und Lehrkräfte deshalb in diesem Punkt finden.

Vom Kindergarten bis zur vierten Klasse

Die Ganztagesschule Wabern ist ein Pilotprojekt der Gemeinde Köniz. Sie wurde 2020 eröffnet. 2022 wurde das Projekt um zwei Jahre verlängert. Gemeinsam mit einer Projektgruppe und mit externer Begleitung haben der Schulleiter und die Tagesschulleiterin der Gemeinde Köniz die Ganztagesschule entwickelt. Sie steht Kindern ab dem Kindergarten bis zur vierten Klasse offen und ist ein Angebot für Familien mit einem hohen, schulergänzenden Betreuungsbedarf.

Julia Arm arbeitet seit der Gründung der Ganztagesschule als Lehrerin in der Basisstufe. Zusammen mit Jürg Kaufmann sitzt sie im Aufenthaltsraum der Lehrpersonen. Im ersten Stock schaut nun eine Kollegin, die als Betreuerin arbeitet, zur Klasse. Sie ist dafür extra früher in die Schule gekommen. «Wenn ich in meiner Klasse kurzfristig Unterstützung brauche, ist immer jemand da, der hilft», sagt Arm. Das funktioniert sogar ohne vorherige Absprache. Denn: In der Ganztagesschule Wabern erledigen die Lehr- und Betreuungspersonen die Unterrichts- und Tagesvorbereitungen stets in den Arbeitsräumen vor Ort. Dies ist Teil des Konzepts.

Beziehungsarbeit ist das Herzstück

Arm hat vor ihrer Ausbildung zur Lehrerin den Beruf der Kleinkinderzieherin erlernt. «Eigentlich wollte ich nicht mehr in der Betreuung arbeiten», sagt sie. Nun ist sie dennoch zu einem kleinen Prozentsatz auch als Betreuerin angestellt. In der Ganztagesschule Wabern übernehmen die Lehrpersonen nämlich auch Betreuungsarbeit.

Heute sagt Arm: «Für mich ist die Betreuung ein Gewinn. Das Herzstück dieser Schule ist die Beziehung zu den Schülerinnen und Schülern.» Die Zeit, die man ausserhalb des Unterrichts zusammen verbringe, stärke diese Beziehung, ist sie überzeugt. «Ist im Unterricht beispielsweise etwas Negatives vorgefallen, können wir beim gemeinsamen Essen bereits wieder ganz anders darüber sprechen.»

Die Lehrpersonen sind um sieben Uhr in der Schule, denn dann treffen die ersten Schülerinnen und Schüler ein. Ab elf Uhr kommt eine Betreuungsperson hinzu. Diese Teamarbeit setzt sich über den Mittag hin fort. Im Verlauf des späteren Nachmittags liegt der Lead bei den Betreuungspersonen. Die Lehrerinnen und Lehrer ziehen sich dann in ein Büro zurück und bereiten ihren Unterricht vor. Die Tage an der Ganztagesschule sind lang. Für Arm hat dies zumindest einen Vorteil: «Wenn ich nach Hause komme, habe ich wirklich Feierabend.»

Begleitstudie zeigt, worauf es ankommt

Lange Arbeitstage, hohe Flexibilität, intensive Zusammenarbeit: Die Arbeitsintensität an einer Ganztagesschule ist hoch. Das ist auch das Resultat einer Begleitstudie zur ersten Ganztagesschule in der Nachbargemeinde von Wabern, der Stadt Bern. Michelle Jutzi ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Pädagogischen Hochschule Bern und Mitautorin der Studie.

Aus der Studie lassen sich allgemein gültige Schlüsse ziehen: «Um das Konzept einer Ganztagesschule umzusetzen, braucht es sehr engagierte Menschen, die bereit sind, viel zu geben», sagt Jutzi. Eine der grössten Herausforderungen dabei ist das Rollenverständnis. Denn an der Ganztagesschule arbeiten Fachpersonen aus unterschiedlichen Berufsfeldern. «Diese müssen sich trotz verschiedener Sichtweisen auf einen richtigen Weg für das Kind oder die Klasse einigen. Es kann eine Bereicherung sein, unterschiedliche Sichtweisen zu integrieren.»

Da eine enge Zusammenarbeit von Lehr- und Betreuungspersonen in der Ganztagesschule unabdingbar sei, erfordere das unterschiedliche pädagogische Verständnis eine hohe Kooperationsbereitschaft, sagt Jutzi. Die Studie hat zudem ergeben, dass ein Teil der Mitarbeitenden in der Ganztagesschule weiterhin in ihrem angestammten Kompetenzbereich tätig sein wolle. «Es gibt Lehrpersonen, die beim Lehren bleiben möchten und sich die Betreuung nicht zutrauen», so Jutzi. Anderen falle es leicht, zwischen den Rollen als Lehr- und Betreuungsperson hin und her zu wechseln.

Zusammenarbeit ist intensiv

In der Ganztagesschule Wabern hat das Team nach drei Jahren Zusammenarbeit zu einer gemeinsamen Sprache und Haltung gefunden. Unterricht und Betreuung greifen ineinander. Ein Austausch zwischen Tür und Angel genügt für diese intensive, pädagogische Arbeit allerdings nicht. Deshalb kommen die Klassenteams einmal pro Woche für eine einstündige Sitzung zusammen. Das gesamte Team arbeitet zudem an sechs Samstagen im Jahr und an vier Tagen in den Ferien.

«Die Verzahnung der beiden Berufsfelder und die Interdisziplinarität sind das A und O in der Ganztagesschule», sagt Schulleiter Kaufmann. Auch in einer der ältesten Ganztagesschulen der Schweiz, der Tagesschule Ländli im aargauischen Baden, ist die interdisziplinäre Zusammenarbeit einer der wichtigsten Pfeiler. «Die Mitarbeitenden schätzen diese Zusammenarbeit und die entsprechenden Austauschgefässe an der Tagesschule», sagt Schulleiter Oliver Pfister. Es gebe aber auch solche, die deswegen die Schule verlassen hätten. «Es war ihnen zu viel. Die Präsenzzeiten bei uns sind lang.» Auch in Baden arbeiten die Lehrpersonen in der Betreuung mit. «Die meisten machen das gerne.»

Ausbildungsmöglichkeiten fehlen

Für die Wissenschaftlerin Jutzi ist klar: Sollten die Ganztagesschulen als eigenständiges Schulmodell breiter Einzug halten, müsste unter anderem eine Ausbildungsdiskussion geführt und über die Strukturen geredet werden. «Für Lehrpersonen, die an einer Ganztagesschule arbeiten wollen, gibt es kaum spezifische Aus- oder Weiterbildungsangebote.» Sinnvollerweise könnten Betreuungspersonen in einer Ganztagesschule auch Lerneinheiten übernehmen, doch auch dafür fehlten bislang Weiterbildungs- wie auch Anstellungsmöglichkeiten.

In der Ganztagesschule Wabern ist es mittlerweile Mittag geworden. Viertklässler Ben freut sich schon aufs Essen. «Mittags in der Schule zu bleiben ist cool», findet er. Milan hingegen gefällt ein anderer Aspekt des Konzepts: «Bevor man isst, darf man am Mittag zuerst rausgehen und sich austoben.»

Weiter im Netz

Studie: «Erfahrung Ganztagesschule. Koordination von Unterricht und ausserunterrichtlichen Angeboten in der Schule Schwabgut, Stadt Bern»

Lohn variiert je nach Funktion

Die Übernahme von Betreuungsarbeit durch die Lehrpersonen gehört in der Ganztagesschule Wabern zu den Anstellungsbedingungen. Für diese Arbeit werden sie von der Gemeinde analog den Mitarbeitenden in den Tagesschulen angestellt. Die Entschädigung dafür fällt etwas tiefer aus als der Lohn für ihren Einsatz als Lehrkräfte. Die Berufsgruppen der Betreuungspersonen und Lehrkräfte sind unterschiedlichen Lohnklassen zugeteilt. Umgekehrt erhalten Betreuungspersonen, die Unterrichtslektionen übernehmen, etwas mehr Lohn als in der Betreuung. Die unterschiedliche Entlöhnung werde den Angestellten vor ihrer Anstellung aufgezeigt, erläutert Schulleiter Jürg Kaufmann. Auch an der Ganztagesschule Baden im Kanton Aargau sind die Lehrpersonen für ihre Betreuungsarbeit zusätzlich angestellt, wie diese auf Anfrage mitteilt. Die Entschädigung dafür erfolgt analog den Lehrkräften in Wabern. Und auch in Baden müssen die Lehrpersonen bereit sein, Betreuungsarbeit zu leisten.

Autor
Mireille Guggenbühler

Datum

16.10.2023

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