So oft es geht, gemeinsam unterwegs

Zwei Schulen gehen neue Wege bei Inklusion

Im bernischen Utzenstorf setzen zwei Schulen auf ein neues Integrationsmodell. Kinder aus heilpädagogischen Klassen nehmen am Unterricht in Regelklassen teil. Sie werden dabei eng begleitet. Bei einem Schulbesuch erfährt BILDUNG SCHWEIZ, wie dies funktioniert.

Zwei Mädchen sitzen an einem Tisch und malen.
Schülerinnen und Schüler von Regel- und heilpädagogischen Klassen haben in Utzensdorf regelmässig gemeinsam Unterricht. Fotos: Marion Bernet

Im Tiefparterre des Gotthelfschulhauses in Utzenstorf (BE) trennt eine weisse Tür im Korridor das dahinterliegende Klassenzimmer vom restlichen Schulhaus. So sind die Kinder der heilpädagogischen Klasse etwas vom Lärm und Trubel der anderen Schulkinder getrennt und können sich zurückziehen. Sie gehören zu einer von drei Klassen der besonderen Volksschule (BVS) Unteres Emmental, die im Zyklus I und II mit der Regelschule zusammenarbeitet.

Das Pilotprojekt folgt dem Grundsatz «integriert und separiert zugleich». Diese neue Form der integrativen Beschulung kombiniert für Schülerinnen und Schüler mit besonderem Bildungsbedarf den Unterricht in einer heilpädagogischen Klasse mit dem Besuch einer Regelschule. Die heilpädagogischen Klassen werden im eigenen Klassenzimmer von Lehrpersonen und heilpädagogischen Fachleuten der BVS unterrichtet. Für einzelne Lektionen wechseln sie aber in ihre Partnerklassen der Regelschule, wo sie gemeinsam unterrichtet werden.

Schulreisen oder Anlässe wie das Weihnachtskonzert und die Veloprüfung werden ebenfalls gemeinsam durchgeführt. Auf dem Pausenhof oder in der Bibliothek können die Schülerinnen und Schüler Kontakte knüpfen. «So funktioniert Teilhabe», ist BVS-Schulleiter Bernhard Wahlen überzeugt.

Verschiedene Partnerklassen

Es ist zehn Uhr. Bryan und eine Mitschülerin kommen aus dem Musikunterricht mit ihrer Partnerklasse zurück. Für die Pause und den restlichen Vormittag bleiben sie nun in ihrer eigenen Klasse, wo sie von der Heilpädagogin und der Assistenz unterrichtet werden.

Für Bryan ist es nicht komisch, dass die Klasse immer wieder aufgeteilt wird.

Währenddessen gehen Ajana und ein anderer Mitschüler in Begleitung ihrer Lehrerin in den Kindergarten zu ihrer Partnerklasse. Dort nehmen sie am Znüni-Essen und am freien Spielen teil. Da die BVS, anders als die Regelschule, ihre Klassen nach Zyklen einteilt, kommt es vor, dass die Kinder der gleichen heilpädagogischen Klasse unterschiedliche Partnerklassen in der Regelschule haben. Zudem werden für die Zuteilung auch die unterschiedlichen Stärken der Kinder berücksichtigt.

Für Bryan ist es nicht komisch, dass die Klasse immer wieder aufgeteilt wird. Er mag die Abwechslung. Das bestätigt auch Klassenlehrerin Angela Vögeli: «Die Kinder haben sich schnell daran gewöhnt und mittlerweile ist es selbstverständlich.» Es brauche aber mehr Organisation, viele Absprachen und Flexibilität. So kommt es auch mal vor, dass sich ein Kind nicht gut auf die veränderte Situation einlassen kann. Dann geht es zurück in die eigene Klasse. An der Wandtafel im Klassenzimmer hängt ein Wochenplan mit Piktogrammen und den Namen der Kinder. Dieser hilft den Schülerinnen und Schülern dabei, den Überblick zu behalten.

Freundschaften knüpfen

Ajana und ihr Mitschüler haben mittlerweile Jacke und Schuhe angezogen. Mit der Lehrerin an der Hand laufen sie quer über den Schulhof in Richtung Kindergarten. Ajana hat in ihrer Partnerklasse eine gute Freundin gefunden. Sie freut sich auf das gemeinsame Spielen. Zweimal in der Woche besuchen die beiden Kinder ihre Partnerklasse.

Im Kindergarten angekommen, setzen sie sich auf die mit ihrem Namen versehenen Stühle im Kreis. Dort essen sie ihr Znüni und mischen sich danach unter die anderen Kinder, für die diese Besuche ebenfalls zur Selbstverständlichkeit geworden sind.

So, dass alle profitieren

Das Zimmer der Klasse Zyklus II ist leer. Drei der Kinder sind im Sportunterricht der Partnerklasse und Sophia ist zusammen mit ihrer Klassenlehrerin im textilen und technischen Gestalten ihrer Regelklasse. Heute beginnt diese mit einem neuen Projekt: ein Spielsäckchen mit selbst bestickten Spielfeldern für Mühle und Tic-Tac-Toe.

Im Austausch liegt die Stärke dieser Form.

Nachdem die Fachlehrperson der Partnerklasse das Vorgehen erklärt hat, beginnen die Kinder selbstständig, die Stoffe zurechtzuschneiden. Sophias Klassenlehrerin unterstützt sie gezielt bei den Arbeiten, die ihr Schwierigkeiten bereiten. Auch die anderen wenden sich mit Fragen an die Lehrerin. Als sie gerade einer anderen Schülerin hilft, fragt Sophias Sitznachbarin: «Soll ich dir beim Ausschneiden helfen?»

Im Austausch liegt die Stärke dieser neuen Form der schulischen Integration, findet Anna-Katharina Schwab, die Schulleiterin der Schule untere Emme. Sie sieht, wie die Schülerinnen und Schüler der BVS von jenen der Regelschule profitieren. «Auf dem Pausenplatz ist mir zum Beispiel schon oft aufgefallen, wie sie die Spiele der anderen kopiert haben», sagt Schwab. Umgekehrt würden auch die Kinder der Regelschule vom gemischten Unterricht profitieren. So lernten sie den Umgang mit allen Menschen sowie all ihren Qualitäten und Eigenschaften. «Das braucht es für eine offenere Gesellschaft», sagt Schwab.

Auch für die Lehrpersonen ergeben sich aus dieser Art der Zusammenarbeit beider Schulen Vorteile. Während bei der integrativen Beschulung pro Kind eine gewisse Anzahl Lektionen gesprochen wird, in denen eine Heilpädagogin oder ein Heilpädagoge die Lehrperson unterstützt, sind in Utzenstorf im gemischten Unterricht immer jeweils eine Lehrperson der Regelschule und eine der BVS im Zimmer. Sie können sich gegenseitig unterstützen und entlasten. Die Verantwortung für die Kinder mit besonderem Bildungsbedarf liegt jeweils, anders als bei der integrativen Beschulung, bei der BVS.

Knackpunkt Oberstufe

Das Pilotprojekt in Utzenstorf gibt es seit fünf Jahren. Mittlerweile besteht es aus drei heilpädagogischen Klassen und sieben Partnerklassen. Schwab und Wahlen ziehen eine durchweg positive Bilanz. Der einzige Knackpunkt sei die Oberstufe, sagt Wahlen. Die Schülerinnen und Schüler der BVS, die während der Primarschulzeit ins Regelschulhaus gingen, wechseln für die Oberstufe ins Schulhaus der BVS nach Burgdorf.

«Das System funktioniert besser in der Primarschule. In der Oberstufe ist die Stigmatisierung grösser.»

Für den Zyklus III gibt es keine Partnerklassen. Ob sich das in Zukunft ändern wird, ist fraglich. «Dieses System funktioniert besser in der Primarschule», sagt Wahlen dazu. «In der Oberstufe ist die Stigmatisierung grösser.» Die Andersartigkeit sei für jüngere Kinder interessant, für Jugendliche jedoch oft anspruchsvoll.

Manchmal braucht es etwas Zuspruch

Es ist laut in der Sporthalle. Mit Matten, Bänken, Leitern, Pedalos, einem Trampolin und was eine Sporthalle sonst noch alles hergibt, wurde ein Parcours aufgebaut, den die Kinder eines nach dem anderen absolvieren. Die einen sind schneller beim Sprossenwandklettern, andere sind flinker auf dem Pedalo. Wieder andere brauchen etwas Mut und Zuspruch, um die schräg gestellte Bank runterzurutschen. Und manche brauchen eben etwas mehr Führung.

Im Sportunterricht sind die Unterschiede kaum merkbar. Um ihre Schülerinnen und Schüler auf die unterschiedlichen Bedürfnisse der Kinder zu sensibilisieren, hat die Lehrerin der Partnerklasse zuvor das Buch «Irgendwie anders» von Kathryn Cave gelesen. Es erzählt die Geschichte eines Aussenseiters, der Freundschaft findet. Die Kinder hätten mit der Geschichte sehr schnell verstanden, dass es andere Kinder gibt, die mehr Unterstützung brauchen. Das sei für sie mittlerweile normal.

Autor
Jacqueline Schreier

Datum

24.02.2025

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