Dieser Lehrerin folgen rund 30'000 Menschen
«Wir sollten Tiktok nicht verteufeln»
Mehrere zehntausend Menschen folgen der Aargauer Primarlehrerin Judith Suter auf Tiktok. Sie will dazu beitragen, dass Kinder einen gesunden Umgang mit sozialen Medien finden. Lehrpersonen und Eltern müssten dafür am gleichen Strick ziehen, sagt sie.
BILDUNG SCHWEIZ: Frau Suter, Ihnen folgen fast 30'000 Menschen auf Tiktok. Wie schafften Sie das?
JUDITH SUTER: Ehrlich gesagt kann ich mir den Erfolg auch nicht erklären. Erst vor wenigen Jahren begann ich damit, Videos zu erstellen und auf Tiktok zu veröffentlichen. Darin berichte ich jeweils über die kleinen Dinge aus meinem Alltag als Lehrerin einer sechsten Klasse. Einerseits können sich wohl viele mit meinen Inhalten identifizieren, da alle schon mal in der Schule waren. Andererseits ist es für jene, die nicht im Bildungsbereich arbeiten, spannend, einen Blick hinter die Kulissen des Lehrberufs zu erhalten.
Haben Sie die Veröffentlichung eines Beitrags nachträglich schon einmal bereut?
Eigentlich nicht. Schon bei der Produktion frage ich mich, ob meine Schulkinder es schätzen würden, wenn ich auf Tiktok über dieses oder jenes Thema spreche.
«Meine Beziehung zu den Kindern will ich nicht aufs Spiel setzen.»
Ich gehe also davon aus, dass sie es früher oder später sehen werden. Die von mir definierten Grenzen befolge ich strikt.
Wo liegen diese Grenzen?
Ich spreche auf Tiktok beispielsweise nicht über Probleme mit der Klasse. Zwar lasse ich meine Followerinnen und Follower wissen, wenn ich einen anstrengenden Vormittag hatte, bleibe dabei aber vage. Direkt betroffene Kinder würden sich allenfalls vor den Kopf gestossen oder gar blossgestellt fühlen. Meine Beziehung zu den Kindern will ich nicht aufs Spiel setzen, da sie für ihren Lernerfolg äusserst wichtig ist. Die Schülerinnen und Schüler sollen nicht in der Angst leben müssen, Tiktok-Material zu werden, wenn sie im Unterricht mal nicht richtig aufgepasst haben.
Zur Person
Judith Suter ist 30 Jahre alt und schloss 2023 ihre Ausbildung an der pädagogischen Hochschule der Fachhochschule Nordwestschweiz ab. Aktuell unterrichtet sie an einer Primarschule im Kanton Aargau und veröffentlicht auf Tiktok unter «Frau Suter – 6. Kl. Lehrerin» regelmässig Videos, in denen sie über ihren Alltag berichtet. Rund 30'000 Personen folgen ihr. Aus Gründen der Privatsphäre will sie nicht, dass der Standort der Schule veröffentlicht wird.
Und Auseinandersetzungen mit Eltern?
Auf Social Media würden Probleme bei der Elternarbeit sicher prima ankommen. Denn der Austausch ist oftmals nicht einfach und würde – besonders vonseiten anderer Lehrpersonen – wohl viele Reaktionen auf Tiktok erzeugen. Aber ich bespreche auch solche Probleme nicht auf meinem Kanal, da die Nachteile überwiegen würden. Mir ist eine gute Beziehung mit den Eltern meiner aktuellen und künftigen Schülerinnen und Schüler sehr wichtig. Mein Content soll fröhlich und leichtfüssig sein.
Was gibt Ihnen Tiktok?
Ich mache Social Media, weil ich es gerne mache und nicht, weil ich etwas Spezifisches damit erreichen will. Wenn ich einen schwierigen Tag hatte oder es mir grundsätzlich nicht sehr gut geht, gibt es halt kein Video. Das war am Anfang meiner Tiktok-Laufbahn anders, weil ich damals strategischer dachte. Ich postete jeden Tag zu vorteilhaften Zeitpunkten für den Algorithmus. Darauf verzichte ich nun aber, weil es mir zu anstrengend wurde.
Wie sensibilisieren Sie Ihre Schulkinder auf den Umgang mit Tiktok?
Bereits früh besprach ich mit meiner aktuellen Klasse Themen wie Datenschutz und Privatsphäre. Die Relevanz kann ich an eigenen Beispielen gut illustrieren. So fand ich etwa unter meinen Tiktok-Videos Kommentare, in denen Name und Standort meines Schulhauses zu lesen waren. Dies, nur kurz nachdem ich mich der Klasse als ihre neue Lehrperson vorgestellt hatte. Dabei hatte ich mich schon lange davor entschieden, diese Informationen nicht öffentlich zu machen, um meine und die Privatsphäre meiner Schulkinder zu schützen.
Wie reagierten Sie?
Ich aktivierte einen Wortfilter, mit dem gewisse Stichworte aus den Kommentaren zu meinen Videos aussortiert und somit nicht veröffentlicht werden. Die Diskussion in der Klasse darüber, warum ich diese persönlichen Informationen nicht auf Social Media verbreiten will und wie ich mit Informationen über meine Schülerinnen und Schüler umgehe, war sehr wertvoll.
Wie reagierten die Kinder auf solche Fragen?
Für manche war es sicher ungewohnt. Doch stelle ich fest, dass die Sechstklässler und Sechstklässlerinnen, die ich derzeit unterrichte, bereits ein Verständnis für Fragen zur Privatsphäre haben. Sie sind in einem Alter, in dem sie verstehen, dass dieses Thema wichtig ist.
Wann wird Tiktok für Kinder gefährlich?
Generell birgt die Nutzung von Social Media viele Gefahren. Zum Beispiel wenn Inhalte für einen anderen Zweck als den ursprünglich gedachten verwendet werden. Dies musste ich auch schon am eigenen Leib erfahren. Vor einigen Jahren veröffentlichte eine mir unbekannte Person auf der Plattform Reddit gefälschte, sexualisierte Bilder von mir. Die Person hatte dafür unverfängliche, harmlose Fotos von meinen Kanälen abgeändert. Dabei kamen Fragen auf, die ich auch mit meinen Schülerinnen und Schülern bespreche: Was poste ich? Stelle ich meine Profile auf öffentlich oder privat? Und was kann mit meinen Inhalten geschehen?
Tiktok stellt aber auch eine Gefahr für die psychische Gesundheit dar. Etwa, wenn der Algorithmus traurige oder brutale Videos auswählt.
Ja, denn der Algorithmus ist so ausgelegt, dass er vermeintliche Interessen durch das ständige Empfehlen neuer, ähnlicher Videos befeuert. Zwar bestehen Richtlinien, was beispielsweise die Verherrlichung von Gewalt angeht, doch erhalten problematische Inhalte oftmals eine grosse Reichweite. Ich denke da etwa an den Influencer Andrew Tate, der mit seiner frauenfeindlichen Haltung ein riesiges Publikum erreicht. Es ist gefährlich, wenn junge Buben nach einem Vorbild suchen und im Sog von solchen Influencern landen. Was man aber nicht vergessen darf: Diese Algorithmen können auch in eine positive Richtung zeigen. Viele Seiten verbreiten optimistische Inhalte, die ein gutes Gefühl vermitteln.
Wen sehen Sie in der Verantwortung, die Kinder zu schützen?
Dazu braucht es eine Zusammenarbeit von Eltern und Schule. Im Fach «Medien und Informatik» gehen wir im Unterricht auf die Möglichkeiten, aber auch auf die Gefahren der digitalen Medien ein. Doch besonders hinsichtlich der Kontrolle der Handyzeit oder der Nutzung altersbeschränkter Apps sind den Schulen die Hände gebunden.
«Eltern müssen sich auch unangenehmen Diskussionen mit ihren Kindern stellen.»
Eltern müssen sich auch unangenehmen Diskussionen mit ihren Kindern stellen und über die Risiken Bescheid wissen. Wir sollten die digitalen Medien – insbesondere Tiktok – aber nicht verteufeln, da sie in vielen Bereichen grosse Chancen bieten. Zahlreiche Kinder konsumieren Lernvideos und erfahren so in ihrer Freizeit spielerisch etwas Neues.
Wollen Sie sich hier ein wenig aus der Verantwortung nehmen?
Nein, denn die Aufgabenteilung scheint mir klar geregelt. Schulen müssen über die Chancen und Risiken der digitalen Möglichkeiten informieren. Lehrpersonen, die sich davor verschliessen, blenden die Lebensrealität der Schülerinnen und Schüler aus. Geht es aber darum zu kontrollieren, wie die Kinder diese Möglichkeiten nutzen, sind ganz klar die Eltern in der Verantwortung. Wäre es anders, müssten wir Lehrpersonen in die Privatsphäre der Kinder eingreifen. Es braucht deshalb eine enge Zusammenarbeit zwischen Eltern und Schule.
Die Folgen von stundenlangem Bildschirmkonsum auf ein Kinderhirn sind noch unklar. In verschiedenen Ländern wird nun der Ruf nach einem Handyverbot an Schulen laut. Was sagen Sie dazu?
Das muss man differenziert anschauen. Manche Schulen stellen bereits ab der ersten Klasse Tablets zur Verfügung, mit denen spielerisch Lerninhalte vermittelt werden. Die Digitalisierung im Bildungswesen ist wichtig, da wir die Schülerinnen und Schüler für die Zukunft rüsten müssen. Aber ich kann verstehen, warum ein Handyverbot an Schulen verlockend sein kann. Mit einem Verbot würde der Druck auf Eltern wohl spürbar abnehmen. Sie würden gegenüber ihren Kindern weniger in Erklärungsnot geraten und könnten auf eine feste Regel verweisen, die für alle gilt.
Wie sieht ein gesunder Umgang mit den sozialen Medien aus?
Wer problemlos einen Tag ohne auskommt, hat für mich eine gute Handhabung gefunden. Ich halte beispielsweise wenig davon, auf Parameter wie Bildschirmzeit oder App-Nutzung zu schauen. Stelle ich fest, dass ich alle paar Minuten auf das Handy schauen muss, um Benachrichtigungen zu lesen, muss ich mir die Frage stellen: Bin ich abhängig? Bei Kindern hingegen ist die Begrenzung der Bildschirmzeit ein geeignetes Mittel, da es einfach ist und klare Grenzen aufzeigt.
Haben Sie Ihre eigene Nutzung im Griff?
Es gibt Tage, an denen ich viel am Handy bin und dann gibt es wieder Tage, an denen ich es weniger häufig nutze. Dass dies variiert, ist normal. Ich befolge zwar keine spezifischen Regeln, hinterfrage mich aber regelmässig.
Sie wurden 1994 geboren und wuchsen grösstenteils mit Social Media und Handy auf. Was raten Sie älteren Kolleginnen und Kollegen, die mit diesen Dingen nicht so natürlich umgehen?
Sich vor dem Thema Social Media zu verschliessen, halte ich für falsch. Denn wir Lehrpersonen müssen uns immer wieder aufs Neue über Themen informieren, die relevant sind für unsere Schülerinnen und Schüler. Dass für sie die sozialen Medien ab einer gewissen Schulstufe wichtig sind, ist unbestritten. Aus diesem Grund sollten sich auch ältere Lehrpersonen auf die Suche nach Anknüpfungspunkten machen. Allenfalls kann man auch versiertere Kolleginnen und Kollegen befragen.
Autor
Alex Rudolf
Datum
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