Interview

«Wir müssen uns überlegen, wie Lernen mit KI stattfinden soll»

Was bringt künstliche Intelligenz im Unterricht? Mit einem Chatbot zum Englischlernen hat die ­Sprachwissenschaftlerin Luzia Sauer erforscht, wie sich das Potenzial der Technologie nutzen lässt.

Frau sitzt an einem Tisch
Luzia Sauer lotet die didaktischen Möglichkeiten aus, die sich mit KI bieten. Foto: Gion Pfander

BILDUNG SCHWEIZ: Die Sprachlernapp Duolingo hat eingeschlagen wie eine Bombe. Ist das der Durchbruch beim Sprachenlernen?

LUZIA SAUER: Ein Durchbruch? Eher nicht. Apps wie Duolingo können das Sprachenlernen nur um einen Aspekt erweitern: den spielerischen. Duolingo lebt von der Gamification. Inhaltlich geschieht, wenn man das genau anschaut, nichts Spannendes.

Das spielerische Element ist jedoch ein sehr motivierender Faktor.

Es ist sicher verlockend, beim Lernen auch Punkte sammeln zu können. Apps wie Duolingo wenden ansonsten aber alte Methoden an. Sie reproduzieren lediglich traditionelle Übungsformate. Man lernt isolierte Sätze mit Übersetzungen und zusammengewürfelten Lückentexten.

Sie haben einen Chatbot mitentwickelt, der auf künstlicher Intelligenz (KI) basiert. Was macht dieser besser?

Unser Prototyp kann individuell auf sein Gegenüber eingehen und sich dessen Bedürfnissen anpassen. Im Schulzimmer kommt das eher zu kurz. Individueller, mündlicher Austausch ist in grossen Klassen nur begrenzt möglich.

«KI entfaltet so unglaublich viel Potenzial für eine wichtige Form des Sprachenlernens.»

Wir haben das Sprachmodell für den Bot gezielt mit Audiomaterial trainiert, damit er Kinder versteht, die noch nicht gut Englisch sprechen. Und weil er zudem auf generativer Sprachproduktion basiert, kann er auf die Konversation mit den Lernenden reagieren.

Inwiefern?

Er holt sie bei ihren individuellen Inte­ressen und Sprechkompetenzen ab. Er kann zum Beispiel mit einem Schüler über seine Comicsammlung sprechen oder mit einer Schülerin über ihre Lieblingssportlerin. Das ist eine Revolution. KI entfaltet so unglaublich viel Potenzial für eine wichtige Form des Sprachenlernens: die mündliche Kommunikation.

Waren Sie als Sprachwissenschaftlerin skeptisch, ob eine Maschine so etwas Menschliches wie ein Gespräch meistern kann?

Ich hielt das Imitieren menschlicher Dialoge mit einem Chatbot durchaus für möglich. Skeptisch waren wir als Team, ob wir die nötige technische Struktur bauen können. Wir benötigten Modelle, die Kinderstimmen und fehlerhafte Aussagen verstehen, korrigieren und sich verschiedenen Lernstufen anpassen können.

Haben Sie da vom Durchbruch von Chat-GPT profitiert?

Zunächst nicht. Wir begannen noch vor dem Durchbruch von Chat-GPT. Wir arbeiteten mit einem bestehenden Sprachmodell und trainierten es mit Schülerinnen und Schülern aus der Schweiz. Für das Generieren der automatischen Antworten hingegen konnten wir dann das Feedbackmodell von Chat-GPT verwenden. Beim Gespräch mit dem Chatbot bleiben die Kinderstimmen aber auf einem sicheren Server in der Schweiz, um den Datenschutz zu gewährleisten.

Zur Person

Luzia Sauer ist Dozentin für Englisch als Fremdsprache an der Pädagogischen Hochschule Zürich. Ihr Fokus liegt auf der mündlichen Zweitsprachentwicklung bei Kindern und Jugendlichen. Dabei erforscht sie auch Sprachlernmotivation und den Einsatz von Bildungstechnologien.

Ihr Chatbot heisst Talky Walky und richtet sich spezifisch an Kinder auf Primarstufe. Sind diese nicht zu jung, um schon mit KI zu lernen?

Das sehe ich nicht so. Wichtig ist, dass die KI-Anwendung einen sicheren Rahmen bietet, in dem sich die Kinder sprachlich austoben können. Ausserdem fällt den Kindern der Umgang mit technischen Anwendungen leicht. Sie gehen sehr intuitiv mit Technologie um. Ein Chatbot kann so auch die Entwicklung digitaler Kompetenzen fördern.

Wie reagierten  die Kinder auf den Bot?

Sie waren begeistert. Der Chatbot interagiert mit ihnen und geht auf ihre Aussagen ein. So fühlen sie sich ernst genommen und finden es toll, dass Talky Walky sich für sie «interessiert». Ein Mädchen hatte speziell Spass daran, den Bot zu korrigieren, wenn er etwas falsch verstand. Er entschuldigte sich dann jeweils für sein Versehen.

Kann er auch die Hemmschwelle, eine Fremdsprache zu sprechen, senken?

Ich denke schon. Insbesondere nimmt er Kindern die Angst davor, Fehler zu machen. Das hemmt viele Lernende beim Sprechen einer Fremdsprache – besonders wenn andere zuhören. Im Gespräch mit dem Bot fällt diese Scham weg.

Obwohl Talky Walky die Fehler hört und diese dann korrigiert?

Der Chatbot korrigiert zwar, aber er bewertet nicht. Wie Chat-GPT bleibt er immer extrem freundlich. So gibt es auch bei Fehlern keinen Gesichtsverlust.

«Im Gespräch mit dem Bot fällt die Scham, Fehler zu ­machen, weg.»

Ein Gespräch mit dem Bot ist ein sicherer Spielplatz für Konversation. Inwiefern sich das Gelernte auf echte Gesprächssituationen übertragen lässt, und ob dann womöglich Ängste zurückkehren, müssen wir aber noch herausfinden.

Eröffnen Chatbots neben dem freien Sprechen noch andere didaktische Möglichkeiten?

Auf jeden Fall. Besonders für den Schulunterricht, wo die Zeit zu knapp ist, braucht es mehr als das offene Gespräch. Ein Chatbot kann ein Lerngespräch lenken, damit die Kinder zum Beispiel spezifische Strukturen üben können. Ob das klappt, steht und fällt allerdings mit dem Design der Aufgaben.

Die Lehrperson gestaltet dann also die Aufgaben und der Bot übernimmt den Unterricht?

Die Lehrperson soll unbedingt auch für den Unterricht verantwortlich bleiben. Wir wollen zum Beispiel unseren Prototypen noch so weit ausbauen, dass Lehrpersonen eine Auswahl an Lernangeboten haben. So kann sie Aufgaben für einzelne Lektionen erstellen oder das ganze Semester planen. Vielleicht will sie den Chatbot auch nur punktuell für individuelles Lernen und Sprechmotivation verwenden. Sie kann jene Aufgaben für ihre Klasse aktivieren, die gerade geübt werden sollen.

Was raten Sie skeptischen Lehrerinnen und Lehrern angesichts der technologischen Veränderungen?

Sie sollen versuchen, die Chancen zu sehen. Es geht auch bei unserem Projekt nicht darum, die Lehrpersonen zu ersetzen. Gute Tools können den Unterricht ergänzen. Damit Lehrpersonen gezielt mit diesen arbeiten können, braucht es aber auch entsprechende Trainings und die Aneignung von KI-spezifischen Kompetenzen. Sie müssen Tools nicht nur anwenden, sondern auch verstehen und hinterfragen können.

Welche drei Punkte sind dabei besonders wichtig?

Lehrpersonen brauchen die Kompetenz, didaktisch sinnvolle Tools zu erkennen. Sie dürfen sich nicht von Marketingversprechen blenden lassen. Eine weitere Kompetenz ist das qualitative Einordnen. KI-Modelle sind nicht unfehlbar. Lehrpersonen müssen darum die Resultate der Tools kritisch einordnen können. Ein dritter, wichtiger Punkt ist der Umgang mit Lernanalytika: Lehrpersonen müssen die Analysen, die ein Tool generiert, verstehen und darauf basierend weiterführende Lektionen entwickeln können.

Eine Sprache zu lernen, ist anstrengend. Lohnt sich das Büffeln überhaupt noch, wenn es Tools wie Chat-GPT und Deepl gibt?

Ohne Engagement findet Lernen nicht statt. Aber Lernen kan n sich auch leicht anfühlen, wenn es motiviert und Sinn macht. Wir müssen uns im Zuge der KI-Revolution überlegen, wie Lernen künftig stattfinden soll. Technologische Neuerungen führen zu Verschiebungen bei den Kompetenzen, die man sich aneignen muss. Maschinen sollen den Menschen in seinen Tätigkeiten unterstützen – nicht ersetzen. In Gesprächen, aber auch in anderen Situationen, wird es schnell umständlich, wenn Maschinen immer als Übersetzer dazwischengeschaltet sind. Ich glaube nicht, dass das erstrebenswert ist.

Sprachen sind etwas zutiefst Menschliches. Woran scheitern Maschinen?

Zur Natur der Sprache gehören immer auch etwas Chaos und Spontanität. Die Technologie und ihre Sprachmodelle hingegen beherrschen nur eine stilisierte Sprache. Das bewährt sich in formellen Settings gut, aber nicht unbedingt in sozialen Situationen.

«Lehrpersonen müssen KI auch hinterfragen können.»

Wie geht es mit dem Chatbot weiter? Die Konkurrenz ist gross.

Wir wollen unseren Prototypen auf jeden Fall weiterentwickeln. Dafür sind wir jedoch auf Fördergelder angewiesen. Die Tech-Branche ist zwar schnell, aber ihre Produkte sind häufig auf Skalierung und Profit optimiert. So überzeugen sie oft nur oberflächlich mit hübschen Funktionen und bequemem Lernen. Zum Beispiel mit Antwortauswahl und automatischen Übersetzungen. 

Wie halten Sie dagegen?

Wir wollen nicht unbedingt gegensteuern, aber mitwirken. Gerade fachdidaktisch sehe ich noch viel Potenzial. Vieles, was im Klassenzimmer geschieht, kann nicht so einfach eins zu eins mit einem Chatbot reproduziert werden. Denn erfahrene Lehrpersonen reagieren im Unterricht sehr intuitiv. Dem müssen Lernapps noch gerechter werden.

Autor
Patricia Dickson

Datum

27.05.2025

Publikation
BILDUNG SCHWEIZ

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