HIRN- UND LERNFORSCHUNG

Wie Wissen entsteht

In das Gehirn eines Kindes kann niemand blicken. Muss man auch nicht. Ein paar Dinge sollten Lehrpersonen aber wissen. Eine Spurensuche mit Lehr- und Lernforscherin Elsbeth Stern.

Synapse und Neuronen.
Synapsen sind Schnittstellen zwischen Neuronen. Damit es funkt, muss chemisch-elektrisch ein kleiner Spalt überwunden werden. Foto: iStock/Animean

Für den Anfang tut’s eine einfache Rechnung, etwa die Addition 3 plus 4. Unmittelbar stellt sich die Erkenntnis ein: Das ergibt 7. Unser Gehirn lernte das einmal – und im Laufe der gesamten Bildungskarriere noch weit komplexere Dinge. Wie macht es das? Und müssen Lehrpersonen verstehen, was für Prozesse dabei ablaufen, damit sie gut unterrichten können? Zuerst zu den Fakten:

Die Wissenschaft geht davon aus, dass unser Gehirn 86 Milliarden Nervenzellen hat. Jede von ihnen hat rund 10'000 Verbindungen mit anderen Nervenzellen. Diese sogenannten Synapsen verbinden Neuronen, sind also Schnittstellen. Die Verbindung ist eigentlich ein Spalt. Er wird mit komplexen chemisch-elektrischen Prozessen überwunden. Je häufiger solche Prozesse angeregt werden, desto wichtiger wird eine bestimmte Verbindung. Dieser Vorgang bedeutet letztlich Lernen.

Wie kommt das Wissen in den Kopf und vor allem: Wie bleibt es dort?

Doch welche Reize braucht es, um diese kleine Barriere zu überwinden? Kann schulisches Lernen überhaupt hirnphysiologisch erklärt werden?

Elsbeth Stern, seit Kurzem emeritierte Professorin für Lehr- und Lernforschung an der ETH Zürich, hat dazu eine klare Meinung: Nein, kann man nicht, sagt sie im Gespräch. Aber: «Wer lehren will, muss das Lernen verstehen.» Wie aus einem flüchtigen Ereignis in den Neuronen bleibendes Wissen wird, muss eine Lehrperson also nicht im Detail wissen. Eine Vorstellung zur Funktionsweise des Arbeitsgedächtnisses oder eine Idee des prozeduralen und des konzeptionellen Gedächtnisses sollte sie aber schon haben. Solches Wissen hilft laut Stern dabei, «zu verstehen, weshalb Lernen manchmal funktioniert und manchmal nicht».

«Wer lehren will, muss das Lernen verstehen.»

Dann also zu den Begriffen und dort zuerst zum Arbeitsgedächtnis. Es spielt eine zentrale Rolle beim Lernen und funktioniert quasi als Zwischenspeicher. Je nachdem werden Informationen aufrechterhalten, verändert oder gehen wieder verloren. Letzteres kennen alle, wenn sie eine Telefonnummer nachschlagen und diese nach dem Wählen sofort wieder vergessen. Es wird deshalb auch Kurzzeitgedächtnis genannt. Dessen Kapazität ist beschränkt. Parallel laufende Dinge überfordern es rasch. Damit es dennoch komplexe Aufgaben lösen kann, braucht es Unterstützung beziehungsweise Entlastung.

Hier kommen das prozedurale und das konzeptionelle Gedächtnis ins Spiel, beide gehören zum Langzeitgedächtnis. Im ersteren ist vereinfacht gesagt Prozesswissen gespeichert. Dazu werden automatisierte Handlungsabläufe gezählt oder Bewegungen, beispielsweise das Schreiben. Im konzeptionellen Gedächtnis sind Inhalte abgelegt, die sich mit Worten beschreiben lassen. Das heisst, Wissen, das durch das Bilden von Zusammenhängen erschlossen werden kann.

Das Vorwissen spielt beim Lernen eine entscheidende Rolle

Das Wissen aus dem Langzeitgedächtnis bildet die Basis, auf dem neue Lerninhalte aufbauen. Das Arbeitsgedächtnis mit seiner beschränkten Verarbeitungskapazität wird leistungsfähiger, wenn Vorwissen mobilisiert wird. Vereinfacht ausgedrückt: Automatisiert zur Verfügung stehendes Vorwissen beansprucht weniger Arbeitsspeicher, entsprechend mehr Platz bleibt für Denkprozesse. Beispiele dafür sind das Einmaleins oder die binomischen Formeln. Ist der Aufwand klein, um auf dieses Vorwissen zugreifen zu können, lassen sich auch schwierigere mathematische Aufgaben lösen.

Doch wie lässt sich mit solchen Erkenntnissen schulisches Lernen verbessern? Für Elsbeth Stern ist die Mobilisierung von Vorwissen beim Einstieg in ein neues Thema «das Wichtigste überhaupt». Es lohnt sich also, sich Zeit dafür zu nehmen. Die Mobilisierung kann mit Fragen oder spielerisch geschehen. Etwa, indem ein Satz mit einem Fehler an die Wandtafel geschrieben wird, den die Kinder dann finden sollen. Kindern eine Aufgabe zu stellen, die ein Prinzip veranschaulicht, ist ein weiterer Weg, um das bereits abgelegte Wissen ins Bewusstsein zu holen.

Sterns Beispiel dazu: «Aus einer Abfolge von Additionen derselben Zahl lässt sich ableiten, dass eine Multiplikation den Weg zur Lösung vereinfacht.» Dass 5 plus 5 plus 5 plus 5 plus 5 einfacher als 5 mal 5 ausgedrückt werden kann, leuchtet dann plötzlich ein. Damit dieser Umstand als Vorwissen zur Verfügung steht, muss es aber zuerst den Weg ins Langzeitgedächtnis finden. Dorthin gelangen Erkenntnisse wie jene aus der beschriebenen Aufgabe durch Wiederholung. Das klassische Üben ist aber nur ein Weg dazu. Ebenso wichtig sind abgewandelte Anwendungen. Denn ohne Anregung und Aufmerksamkeit, perlt der Lernstoff ab und bleibt nicht hängen.

Warum Belohnen und Bestrafen nur ausnahmsweise funktionieren

Auf Belohnung und Bestrafung reagiert das Gehirn zwar auch. Hier hat die Lernforschung jedoch zu einer Relativierung früherer pädagogischer Vorstellungen geführt. Mit Belohnung und Bestrafung, so Stern, lasse sich bereits vorhandenes Verhalten verändern. Zum Beispiel eine Klasse dazu zu bewegen, endlich die Hausschuhe anzuziehen, bevor sie das Klassenzimmer betritt.

Zur Vermittlung von neuem Wissen eignen sich Belohnen und Bestrafen nicht.

Zum Vermitteln von neuem Wissen hingegen eigne sich diese Methode nicht. Dazu muss eine motivierende Lernatmosphäre geschaffen werden, die Neugier weckt und in der Fehler toleriert werden. Eine gute Lehrkraft schafft es deshalb, vorschnellen Abwehrreaktionen der Lernenden ein Schnippchen zu schlagen. Sei dies nun jene der Schülerin, die alles schon weiss und deshalb nicht zuhört, oder jene des Schülers, der die Lösung schon auf den ersten Blick sehen will – und sonst sofort aufgibt.

Sichtbar machen lässt sich der Lernfortschritt mit einem regelmässig stattfindenden «formativen Assessment». Hinter dem Begriff verbirgt sich nichts anderes als ein Abfragen des Erlernten. Dabei geht es nicht um eine Bewertung der Antworten, sondern allein darum, den Wissensaufbau zu erfassen. «Das funktioniert beispielsweise mit einem Quiz auf der App Kahoot auf eine Weise, die auch Kinder und Jugendliche attraktiv finden», sagt Stern. Sogar Lehrmittelverlage setzen darauf und bieten vorgefertigte Fragen für die kostenlose Plattform an.

«Die Intelligenz kann sich im Schulalter noch verändern», Interview mit Intelligenzforscherin Elsbeth Stern, BILDUNG SCHWEIZ, März 2025

Vom geschickten Umgang mit einem breiten Leistungsspektrum

Dass dabei in heterogenen Jahrgangsklassen notgedrungen die Ergebnisse auseinanderklaffen, spricht für Stern nicht für eine stärkere Unterteilung in Leistungsgruppen beziehungsweise für mehr Separation. Mit guten Aufgabenstellungen, ist sie überzeugt, könne trotz eines breiten Leistungsspektrums allen passende Lerngelegenheiten geboten werden. Stern hat auch hier ein Beispiel aus der Mathematik: Die Schulkinder erhalten den Auftrag, alle möglichen Multiplikationen zu finden, die ein vorgegebenes Resultat ergeben. Einige werden im Verlaufe der Arbeit bei ungeraden Zahlen eventuell das Prinzip der Primzahlen erkennen. Andere stossen darauf, dass grössere Zahlen mehr Rechnungen ermöglichen. Und für alle gilt, dass sie bei dieser Aufgabenstellung das Einmaleins üben.

In der Schweiz wird an der Schnittstelle von Primar- und Sekundarschule dann dennoch selektioniert. Die Kinder werden unterschiedlichen Leistungszügen zugeordnet. Eine Abkehr davon ist in naher Zukunft nicht zu erwarten. Das weiss auch Stern. Umso wichtiger ist für sie, dass solche von Lehrpersonen getroffene oder durch Prüfungen eruierte Zuweisungsentscheide umkehrbar sind. «Denn jeder kann sich täuschen», mahnt sie. Fehle diese Durchlässigkeit, nehme man in Kauf, Kinder an der Entfaltung ihres Potenzials zu hindern.

Irrtum beim Sprachenlernen

Denn Intelligenz ist kein fixer Wert. Sie kann sich im Verlauf der Schulzeit entwickeln. Dasselbe gilt für personale Fähigkeiten: Mit Erkenntnissen der Hirnforschung lässt sich belegen, dass Kinder und Jugendliche häufig impulsiver und unreflektierter entscheiden als Erwachsene und deshalb bei Multiple-Choice-Aufgaben dazu neigen, die erstbeste Lösung anzukreuzen oder bei einer Textaufgabe diese nicht zu Ende zu lesen. Der Tipp der Lehrerin oder des Lehrers, die Aufgabe doch bitte gut zu studieren, macht darum absolut Sinn – und sei es zum wiederholten Mal.

Kritisch sieht Stern hingegen die Tendenz etwa im Sprachunterricht, Unkorrektes unkommentiert zu lassen. Wird wegen der Ausdrucksfähigkeit die Rechtschreibung vernachlässigt, werden im Gedächtnis fehlerhafte Repräsentationen abgelegt, die später beim weiteren Wissensaufbau hinderlich sind. Das heisst nicht, dass zuerst der Wortschatz zu lernen ist, dann die Grammatik und zuletzt alles zusammengefügt werden soll, wie Stern klarstellt. Sie erinnert sich in diesem Zusammenhang gern an ihre Englischlehrerin: Im Englischen gibt es über 160 unregelmässige Verben. Ihre Lehrerin hat diese in handliche Dreierpakete portioniert. Diese wurden dann geübt und gleich in realitätsnahen Zusammenhängen angewandt.

Fokus auf Pathologisches verzerrt Sicht auf Kinder

Bleibt nun die Frage, ob es überhaupt neue Erkenntnisse aus der Hirnforschung gibt, die sich unmittelbar auf die Schule auswirken beziehungsweise auswirken sollten. Sterns nüchternes Fazit aus ihrer langen Karriere als Lern- und Lehrforscherin lautet: In jüngster Zeit gab es keine, die eine Anpassung bekannter Unterrichtsmethoden verlangen würde.

«Ich habe ein Problem damit, wenn sich Medizinerinnen und Mediziner vermehrt ins schulische Lernen einmischen.»

Vielmehr warnt Stern sogar ausdrücklich vor einer zu starken Fokussierung darauf: «Ich habe ein Problem damit, wenn sich Medizinerinnen und Mediziner vermehrt ins schulische Lernen einmischen.» Deren Fokus liege auf dem Pathologischen. Dabei könne untergehen, dass das Spektrum der Normalität breit sei.

Autor
Christoph Aebischer

Datum

28.11.2025

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