Die Sommerferien sind vorbei und viele Schülerinnen und Schüler haben ihre ersten Wochen in einer neuen Klasse vor sich. Während die einen die meisten Gesichter bereits kennen, finden andere vielleicht gar keine bekannten da-runter. Auch die Lehrperson kennt die Klasse noch nicht und steht nun vor der Aufgabe, diesen zusammengewürfelten Haufen zu einer funktionierenden Gemeinschaft zu formen – zu einem Team. Doch wie funktioniert das eigentlich? Und wie gelingt es am besten? BILDUNG SCHWEIZ hat drei Lehrpersonen und einen Berater von schulentwicklung.ch nach ihren Erfahrungen gefragt.
Zeit als Schlüssel zum Team
Auf die Frage, ob eine Klasse überhaupt zu einem Team zusammenwachsen muss, antwortet Primarlehrer Mattia Mordasini vom Beratungsteam schulentwicklung.ch: «Echtes und tiefes Lernen in einer Schulklasse kann nur stattfinden, wenn ein Grundvertrauen gegenüber den beteiligten Personen da ist.»
Dieses Grundvertrauen müsse durch das Kennenlernen aller Beteiligten sowie durch Beziehungs- und Gruppenbildung erarbeitet werden. Das sei eine Voraussetzung für eine positive Fehlerkultur. Positiv ist sie dann, wenn die Beteiligten aus den Fehlern, die sie gemacht haben, lernen können.
Um ein Team zu schaffen, ist gemäss Mordasini vor allem eines wichtig: Zeit. «Als Junglehrer nahm ich mir für die Teambildung manchmal etwas zu wenig Zeit und Raum, da ich ja sonst noch so viele Aufgaben zu bewältigen hatte», sagt er. Auch als Berater trifft er viele Lehrpersonen an, die aufgrund anderer Pflichten und Aufgaben das Formen eines Teams vernachlässigen.
Mordasini, der weiterhin als Lehrer auf der Unterstufe tätig ist, nimmt sich unterdessen die dafür notwendige Zeit. Erst, wenn das Team steht, gibt er mit dem Stoff Vollgas. Das zahlt sich aus: «In einer meiner Klassen habe ich im Fach Natur, Mensch, Gesellschaft die ersten sechs Wochen lang nur an der Gruppenbildung, dem Mindset, der Fehlerkultur und der Stärkenorientierung gearbeitet», erzählt Mordasini. Heute sei seine Klasse in Jegenstorf (BE), die unterdessen die 4. Primarstufe erreicht hat, als «Lernteam» unterwegs: Fehler gehörten bei diesen Schülerinnen und Schülern zur Lernkultur und alle würden anspruchsvolle und reichhaltige Aufgaben mögen. Ausserdem seien sich die Kinder ihrer Stärken und Ressourcen bewusst und könnten diese angstfrei einbringen.
Intensive Beziehungsarbeit lohnt sich
Auch die anderen befragten Lehrpersonen räumen neuen Klassen Zeit für das Kennenlernen und Schaffen von Vertrauen ein. Melinda Kodric, Kindergartenlehrerin in Steinhausen (ZG), sagt dazu: «Eine lose Gruppe kann nur zu einem Team werden, wenn jedes einzelne Kind gesehen, gehört und akzeptiert wird – und zwar von den anderen Kindern, aber auch von den Lehrpersonen.» Das helfe den Kindern, sich selbst zu spüren und die eigenen Stärken, Schwächen und Grenzen zu entdecken. Deswegen leistet Kodric viel Beziehungsarbeit.
Das ist nicht immer einfach, denn ihre Schülerinnen und Schüler kommen mit unterschiedlichen Voraussetzungen in den Kindergarten. Einige haben zum Beispiel schon etwas erlebt, was sie im Unterricht oder im Miteinander mit anderen Kindern beeinflusst. Andere haben bisher keine Grenzen aufgezeigt bekommen, haben eine Entwicklungsstörung oder sonstige Einschränkungen. Auch zeigen die Kinder manchmal ein auffälliges Verhalten, etwa wenn sie mit ihren Emotionen bisher allein gelassen worden sind.
Um solche Hürden anzugehen, pflegt Kodric einen engen Kontakt mit der schulischen Heilpädagogin, der Lehrperson für Deutsch als Zweitsprache und ihrem Schulleiter. Auch der Austausch mit dem Kollegium, mit der Klasse und besonders mit den Eltern findet die Lehrerin wichtig. Unter diesen Umständen sei die Beziehungsarbeit mit den Kindern zwar intensiv und erfordere viel Geduld, doch ist Kodric sicher, dass sie sich lohnt. Ihr Ziel ist erreicht, wenn sie sieht, dass die Kinder miteinander respektvoll und hilfsbereit umgehen, neugierig sind und die Arbeit anderer wertschätzen. «Das ist Gold wert», sagt die Lehrerin.
Mehr Selbstwert für mehr Vertrauen
Zeno Hürlimann, Oberstufenlehrer in Steinhausen (ZG), nimmt sich ebenfalls viel Zeit fürs Kennenlernen seiner Klasse und das Schaffen von Vertrauen. Er möchte den Schülerinnen und Schülern ein verlässlicher Partner sein, der konsequent ist, aber auch zeigt, dass er an sie glaubt. Das ist in seinen Klassen wichtig, wie er betont. Denn: «Viele Jugendliche in meinen Klassen haben im Selektionsverfahren auf der Primarstufe eher schlechte Erfahrungen gemacht.» Deshalb seien seine Realschülerinnen und -schüler oft verunsichert und haben ein tiefes Selbstwertgefühl. Das versucht der Klassenlehrer von Beginn weg zu korrigieren. Er möchte den Jugendlichen das Gefühl geben, dass sie der Gesellschaft genügen und mit all ihren Stärken und Schwächen wertvoll sind.
Dazu gehört, dass er gerade zu Anfang sehr zurückhaltend ist, wenn sich seine Schülerinnen und Schüler aufspielen und auf destruktive Weise versuchen, Stärke zu demonstrieren. Hürlimann findet solche sozialen Momente auch sehr wertvoll, da er sie später in seiner Klasse diskutieren und gemeinsam mit ihr reflektieren kann. Sein Ziel ist, dass die Jugendlichen am Ende offen über ihre Schwächen sprechen können, sich gegenseitig unterstützen und sich wohlfühlen.
Eine weitere Herausforderung für den Reallehrer ist, dass die Jugendlichen oft verschiedene Ängste mit sich herumtragen, auch hinsichtlich der anstehenden Berufslehre: «Diese Ängste gilt es zu entschlüsseln», so Hürlimann. Die Kommunikation mit den Schülerinnen und Schülern sei dabei besonders wichtig – und auch notwendig. Immerhin sei das übergeordnete Ziel des Unterrichts, dass alle nach drei Jahren eine Berufslehre antreten können. An dieses gemeinsame Ziel erinnert der Lehrer seine Schülerinnen und Schüler auch immer wieder.
Gemeinsame Erfolgserlebnisse
Etwas andere Voraussetzungen hat Lehrerin Lorena Linggi, die eine Mehrjahrgangsklasse im Zyklus 1 am Heilpädagogischen Zentrum Innerschwyz (HZI) in Ibach (SZ) betreut. Da Stabilität für viele Kinder hier besonders wichtig ist, setzt sich Linggis Klasse aus dem kleinen und dem grossen Kindergarten sowie der 1. Klasse zusammen. Somit kommen pro Jahrgang lediglich einige neue Kinder in die Gruppe – und die Herausforderung der Lehrerin ist die Integration dieser Neulinge.
Sie lässt dazu die neuen Schülerinnen und Schüler an Ritualen teilnehmen, die in der bestehenden Gruppe bereits etabliert sind. Das gibt den Kindern, die schon länger dabei sind, die nötige Sicherheit, damit sie quasi nebenher Verbindungen mit den neuen eingehen können. «Im Freispiel achte ich ausserdem gerade am Anfang darauf, dass neue Schülerinnen und Schüler von den erfahrenen eingeführt werden», sagt Linggi. Solche gemeinsamen Projekte helfen, die Kinder miteinander vertraut zu machen.
Ausserdem sorgt die Lehrerin dafür, dass die Klasse als Gemeinschaft Erfolgserlebnisse hat. Das kann – mit viel Geduld – teilweise so weit gehen, dass die Klasse selbst solche gemeinsamen Erfolgserlebnisse auslösen kann.
Linggi betont hier das Wort «teilweise». Denn die grössten Schwierigkeiten für das Formen eines Zusammengehörigkeitsgefühls sind die grossen Unterschiede zwischen ihren Schülerinnen und Schülern, was Kompetenzen und Hintergründe betrifft. «Bei uns am HZI ist es zum Beispiel nicht selbstverständlich, dass alle Kinder sprechen können», erklärt die Lehrerin. Deshalb gelte es, die Differenzen von Anfang an aufzufangen. Zusätzlich haben alle Kinder ihre eigenen Hochs und Tiefs, deren Auftreten kaum vorhersehbar ist. Mit konstant positiven Ergebnissen darf Linggi auf individueller Ebene deshalb nicht rechnen. Immerhin ermöglicht die Teambildung aber auf gemeinschaftlicher Ebene zunehmende Stabilität.
Es gibt kein Patentrezept
Trotz all der Vorgehensweisen und Anstrengungen der Befragten führt die Teambildung in der Klasse nicht immer zum Erfolg – oder zumindest nicht immer auf dieselbe Weise. Allerdings soll man auch keine unrealistischen Erwartungen haben. Linggi meint dazu: «Es ist utopisch zu erwarten, dass alle Schülerinnen und Schüler immer gut miteinander auskommen und am gleichen Strick ziehen. In einer Klasse darf das Miteinander auch mal nicht funktionieren. Das ist menschlich.»
Eine Strategie, die garantiert zum Erfolg führt, gibt es ohnehin nicht, wie Oberstufenlehrer Hürlimann betont: «Ich bin immer offen für neue Ideen. Ein Patentrezept habe ich nämlich nicht und das gibt es wohl auch nicht.» Unterstufenlehrer Mordasini bringt es so auf den Punkt: «Jede Klasse ist anders, jeder Teamprozess ist anders.»
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Die Klasse soll als Gemeinschaft Erfolgserlebnisse haben.
«Eine lose Gruppe kann nur zu einem Team werden, wenn jedes einzelne Kind gesehen, gehört und akzeptiert wird.»