KRISEN IM SCHULALLTAG

Was geschieht, wenn Lehrpersonen rote Linien überschreiten?

Der Unterrichtsalltag kann herausfordernd oder sogar überfordernd sein. Damit Lehrkräfte nicht die Nerven verlieren, gibt es niederschwellige Beratungsangebote. Und wenn doch etwas passiert?

Ein Kind sitzt auf einer Treppe und verbirgt sein Gesicht hinter seinen Knien.
Wenn Lehrerinnen und Lehrer die Beherrschung verlieren, sind meist Kinder die Opfer. Foto: iStock/miracsaglam

Der Schutz von Kindern hat oberste Priorität. Der Dachverband Lehrerinnen und Lehrer Schweiz (LCH) vertritt gegenüber jeglicher Form von Gewalt durch Lehrpersonen eine Nulltoleranz-Politik. Doch was passiert, wenn eine Lehrperson sich in einer Ausnahmesituation nicht mehr im Griff hat und beispielsweise ein Kind ohrfeigt, wie zuletzt im November an einer St. Galler Schule geschehen?

Aus rechtlicher Sicht sind körperliche Strafen und Züchtigungen an Schulen seit dem Bundesgerichtsentscheid von 1991 verboten und können disziplinarische sowie strafrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen. Damit es erst gar nicht so weit kommt, wird Lehrpersonen empfohlen, in Belastungssituationen ruhig zu bleiben, auf verbale Deeskalation zu setzen und gegebenenfalls Hilfe von Kolleginnen und Kollegen oder der Schulleitung in Anspruch zu nehmen. In allen deutschsprachigen Kantonen findet man dazu unterstützende Beratungsangebote.

Kommentar zum Thema: «Es braucht ein feinmaschiges Netz», LCH.ch, 10. Februar 2025

Ganzheitliche Betrachtung

Auch der Kanton Luzern bietet eine entsprechende Beratung. «Unser niederschwelliges und unkompliziert zugängliches Angebot umfasst bis zu sechs Stunden unentgeltliche Beratung im Jahr», berichtet Renée Giger, Leiterin Abteilung Schulunterstützung an der Dienststelle Volksschulbildung des Kantons Luzern. Das Angebot, das auch die Kantone Nidwalden und Obwalden abdeckt, steht Lehrpersonen in vertraulichem Rahmen zu Verfügung. Wichtig sei, dass Lehrpersonen eigene Belastungsgrenzen erkennen und sich frühzeitig Unterstützung holen, um professionelle Distanz zu wahren und Konflikte in einem sicheren Rahmen klären zu können, so Giger.

Eine Eskalation wie in St. Gallen kommt äusserst selten vor.

Für sie steht die Prävention im Vordergrund. «Wir appellieren an die Lehrpersonen, sich sofort zu melden, wenn sie merken, dass sie mit einem Schüler oder einer Klasse in eine Überforderungs- oder Überlastungssituation laufen.» Das Luzerner Beratungsmodell basiert auf einem systemisch-lösungsorientierten Ansatz, betrachtet also eine Situation ganzheitlich. Ist es zu einem Zwischenfall gekommen, wird mit der betroffenen Lehrperson die Situation analysiert und nach Ursachen gesucht, warum sie möglicherweise nicht mehr adäquat reagieren konnte – etwa, weil sie ein Kind angeschrien hat. Danach werden Lösungsstrategien entwickelt, welche die Lehrperson stärken und in die Handlungsfähigkeit zurückführen sollen.

Eine Eskalation wie in St. Gallen käme tatsächlich äusserst selten vor, betont Otto Bandli, Dozent in der Abteilung Weiterbildung und Beratung der pädagogischen Hochschule Zürich (PHZH). Aber es gebe immer wieder Vorfälle, in denen Lehrpersonen in einer stressigen Situation suboptimal reagieren würden. Die PHZH bietet hier unter anderem ein Beratungstelefon sowie Einzelcoachings an. Stresssituationen würden immer Emotionen auslösen. «In unserer Beratung geht es darum, diese so handhaben zu können, dass man nicht mehr aus dem Instinkt heraus handelt und dann die Kontrolle verliert», führt Bandli aus. Ziel sei es, eine emotionale Stabilität und Stressresistenz zu entwickeln.

Auch Ask – die Aargauer Beratungsdienste für Ausbildung und Beruf – bietet Lehrpersonen 270 kostenlose Beratungsminuten an, die über einen Zeitraum von drei Jahren in Anspruch genommen werden können. Dass eine Situation trotz vorhandener Angebote aus dem Ruder laufen kann, zeigt der Fall an einer Aargauer Schule vom letzten Sommer, den Daniel Hotz, Geschäftsführer Bildung Aargau, schildert. Während der grossen Pause habe eine Lehrerin beobachtet, wie sich ein Schüler am Turnsack eines Mitschülers zu schaffen machte. Aufgrund eines vorgängigen Streits vermutete sie einen Racheakt und wollte dem Schüler den Turnsack entreissen. Nach dem Handgemenge erklärte der Schüler, die Lehrerin habe ihn geschlagen. Die Lehrerin widersprach, es sei lediglich zu einer Berührung gekommen.

«Das Problem war, dass die Schulbehörde den Sachverhalt nicht seriös abgeklärt hat, allein der Aussage des Schülers gefolgt ist und die Lehrerin in der Folge entlassen hat», berichtet Hotz. Darüber hinaus sei die Lehrerin von den Eltern verklagt worden. Das Gericht wies diese wegen eines Formfehlers ab. Die Schlichtungskommission für Personalfragen des Kantons Aargau kam zum Schluss, dass die Schule ihrer Fürsorgepflicht als Arbeitgeberin nicht nachgekommen sei, als die Lehrerin Unterstützung gebraucht habe, und rügte die Schulleitung, so Hotz. Die Lehrerin, die nach dem Vorfall von der Schule freigestellt worden war, ist seitdem krankgeschrieben. «Nicht wegen der Vorladung vor Gericht, sondern aufgrund der Reaktion der Schule.» Dieser Vorfall sei allerdings der einzige, den es in den letzten drei Jahren gegeben habe.

«Wichtig ist, dass die Person professionell begleitet wird, um sich mit der Situationauseinanderzusetzen.»

Notfallszenarien für Krisensituationen

Es gebe eine klare rote Linie, die nie überschritten werden dürfe. Dazu gehörten Schlagen und körperliche Züchtigung, betont PHZH-Dozent Bandli. Wenn es dennoch dazu komme, müsse eine Lehrperson von sich aus eine Auszeit nehmen. Wenn sie dies nicht mache, müsse die Schulleitung das Time-out anordnen. «Wichtig ist, dass die Person professionell begleitet wird, um sich mit der Situation auseinanderzusetzen.» Im weiteren Verlauf müsse seitens der Schulleitung geklärt werden, ob sie der Lehrperson wieder voll vertrauen könne, dass ein solches Verhalten nicht mehr vorkommt.

Auch für Schulleitungen seien Situationen, in denen eine Lehrperson in einem Moment überreagiere, schwierig zu handhaben, gibt Giger zu bedenken. Es sei eine grosse Herausforderung zu beurteilen, welche Intervention nach einem Vorfall nötig und sinnvoll sei. In Luzern werden in Krisensituationen deshalb auch Schulleitungen beraten.

Dass eine solche Situation nicht allein in der Verantwortung der einzelnen Lehrperson liege, merkt auch Bandli an. «Die Schule ist hier ebenso gefragt», sagt der Dozent und empfiehlt Schulen ein Notfallszenario für den Umgang mit einer Krisensituation. Schulen sollten sich in ruhigen Zeiten überlegen, was nötig ist, wenn eine Lehrperson überfordert ist. Das könne beispielweise die Vereinbarung sein, dass man ein schwieriges Kind in eine andere Klasse schicke. Schulen mit besonders herausfordernden Schülerinnen und Schülern hätten in der Regel bereits solche Bewältigungsszenarien, berichtet der Dozent. 

Verbesserte Kommunikationskultur

«Lehrpersonen erleben sehr häufig Stresssituationen. Die Frage ist, wie konstruktiv sie mit einem Konflikt umgehen können», führt Bandli weiter aus. Grundsätzlich seien Lehrpersonen heute auf stressige Situationen gut vorbereitet. Auch habe sich die Kommunikationskultur gewandelt. Früher sei man mit Problemen allein gelassen worden. «Heute ist das nicht mehr so. Die Zusammenarbeit zwischen Lehrpersonen und Schulleitung wurde deutlich ausgebaut.»

«Eine wertschätzende Unterrichtskultur ist zentral.»

Studierenden gebe er immer den Satz «Ich lasse mich nicht provozieren» mit auf den Weg, so der Dozent. Wenn eine Lehrperson nur kurz die Nerven verliere und ein Kind anschreie, sei die Situation bereits ausser Kontrolle geraten. «Zentral ist eine wertschätzende Unterrichtskultur. Ich vermittle meinen Studentinnen und Studenten, dass sie es sind, die mit ihren Werten und ihrer Haltung das Klima im Schulzimmer bestimmen.» Das sei der Schlüssel.

Autor
Brigitte Selden

Datum

10.02.2025

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