Digitale Bildung

Was das Leiterlispiel mit einem Computer zu tun hat

Um zu lernen, wie Computerprogramme funktionieren, braucht es nicht unbedingt Geräte. Vieles davon lässt sich auch anhand des Leiterlispiels zeigen. Wie das geht, hat BILDUNG SCHWEIZ bei einem Schulbesuch an der Schule Thierstein in der Stadt Basel erlebt.

Primarschullehrerin Sara Cortellini zeigt einer Gruppe von Kindern einen Karton mit der Aufschrift "Festplatte". In diesem Karton befinden sich Karten mit Begriffen aus der digitalen Welt, die im Unterricht erklärt werden. Fotos: Roger Wehrli
Primarschullehrerin Sara Cortellini zeigt den Kindern eine «Festplatte». In diesem Karton befinden sich Karten mit Begriffen aus der digitalen Welt, die im Unterricht erklärt werden. Fotos: Roger Wehrli

Was hat ein Leiterlispiel, das aus Brett, Würfeln und Spielfiguren besteht, mit digitalem Denken zu tun? Eigentlich nicht viel, könnte man meinen. Das Projekt Digikult aus Basel belehrt eines Besseren. Ein vierköpfiges Team bringt Schulkindern digitales Denken mit analogen Mitteln bei. Es verwendet dafür Brettspiele, Spiegeleier oder Schatzkarten – fernab elektronischer Bildschirmwelten.

Eltern zeigen sich oft besorgt, wenn sich ihre Kinder in digitalen Welten verlieren und nur noch ans Gamen denken. Um eine solche virtuelle Realität zu erzeugen, braucht es aber gar keinen Bildschirm. «Sobald man sich auf ein Spiel wie Schach, Monopoly oder das Leiterlispiel einlässt, gelten für eine bestimmte Zeit nur noch die Regeln dieses Spiels. Ein Spiel ist immer eine Wirklichkeitsenklave, egal ob analog oder digital», erzählt Sara Cortellini.

Sie und ihre Kollegin Mirjam Wagner sind beide ausgebildete Primarschullehrerinnen. Sie unterrichten an der Primarschule Thierstein in Basel, wo sie auch Digikult-Lektionen anbieten. Das tun sie jeweils zwei Stunden am Dienstagvormittag im Zimmer der Begabungsförderung. Diesen Dienstag haben nach der grossen Znünipause acht Schüler aus der 2. und 3. Klasse den Weg zu Digikult gefunden. Heute auf dem Programm: Die Unterrichtseinheit «All in», wo die Kinder gemäss Beschrieb zu wahren «Weltenbastlern» avancieren.

Auf Festplatte speichern

In der Lektion «All in» zerlegen die Kinder Gesellschaftsspiele in ihre Elemente. Dabei nehmen sie auch das jeweilige Regelsystem, die «Grammatik» des Spiels, unter die Lupe. So lernen sie den Zusammenhang zwischen analogen Spielen und digitalen Welten. «Ein Gesellschaftsspiel setzt sich aus Spielelementen – aus Würfeln, Spielfiguren oder Spielkarten – und vorbestimmten Spielregeln zusammen. Genauso funktioniert es in der digitalen Welt», sagt Wagner.

Heuer auf dem Spieltisch: Das bekannte Kartenspiel UNO, ein Leiterlispiel und «Finger Twist», ein Geschicklichkeitsspiel mit Gummibändern. Doch bevor sich die Kinder gruppenweise an die Spiele heranmachen, legen Cortellini und Wagner einen Schuhkarton mit der Inschrift «Festplatte» auf den Tisch. Darin befinden sich Karten mit Begriffen aus der digitalen Welt, die in den Digikult-Lektionen verhandelt und angewendet werden.

Darunter sind Begriffe wie «Code», «Kennwort», «Benutzername» oder «Browser». Die Kinder haben Gelegenheit, ihr Wissen zu den Begriffen abzurufen und sich an die Funktionen derselben zu erinnern. Danach dürfen die Kinder endlich die Spiele durchspielen.

Nach dieser Spielsession werden die Spiele in ihre Bestandteile aufgedröselt. Cortellini und Wagner vergleichen die Spielteile mit den Elementen der Sprache. Sie erklären das ABC der Spiele und die Grammatik. Dabei sprechen sie auch von den notwendigen Fähigkeiten, welche die Spielenden benötigen, und vom Zufallselement, das in Gesellschaftsspielen mitschwingt.

«Ohne Spielerinnen und Spieler auch kein Spiel!»

Entsprechend besteht das Alphabet des Leiterlispiels aus einem Würfel, aus drei verschiedenfarbigen Holzfiguren, aus einem kartonierten Spielbrett, aus einer darauf abgebildeten Zahlenfolge sowie aus den drei Mitspielern. «Ohne Spielerinnen und Spieler auch kein Spiel!», wirft Zweitklässler Milo philosophierend in die Runde.

Wie Programmiersprache

Die Grammatik des Leiterlispiels sind dessen Spielregeln: Die gewürfelte Augenzahl bestimmt die Anzahl Schritte, welche die Spielfiguren der Reihe nach vorwärts gehen dürfen. Erreicht eine Spielfigur dabei ein speziell bebildertes Feld, kann sie eine vorgegebene Anzahl Felder überspringen oder aber auf ein bereits passiertes Zahlenfeld zurückgeworfen werden. Beim Schweizer Leiterlispiel lassen sich die Spielfiguren etwa von der Titlis-Rotair-Bahn nach oben tragen oder von einem flotten Alphornbläser wieder nach unten blasen.

Eine Spielsession dauert rund fünfzehn Minuten, wobei man Regeln und Zahlen kennen, die Farben unterscheiden und sich während dem Spiel entsprechend konzentrieren muss. «Übung macht den Meister!», meldet sich Zweitklässler Orell und weist darauf hin, dass sich all diese Skills erst mit viel Übung erwerben und verfeinern lassen. Schliesslich spielt beim Leiterlispiel auch das Element des Zufalls eine gewichtige, wenn nicht die wichtigste Rolle: «Hier entscheidet einfach das Würfelglück, wer am Ende gewinnt», fasst Mirjam Wagner zusammen.

Lernen mit Digikult

Digikult bietet fünfzehn verschiedene Unterrichtseinheiten für die Primarschule an. Lehrpersonen können diese auf der Digikult-Website kostenlos herunterladen und dann im eigenen Klassenzimmer umsetzen. Mehr Informationen: www.digikult.ch 

«Sobald man sich bewusst macht, aus welchem Alphabet und aus welcher Grammatik ein Spiel aufgebaut ist, erkennt man erste Zusammenhänge zur Digitalität. Viele Spiele unterscheiden sich nämlich nicht grundlegend von einer Programmiersprache. Ihre Grammatik bestimmt, welche Operationen oder eben Spielzüge innerhalb einer Sprache wie Java oder Python erlaubt sind.»

Im zweiten Teil der Unterrichtseinheit kreieren die Kinder ihr eigenes Spiel mit eigenen Regeln. Die Spielelemente dafür werden vorgegeben: Papier, farbige Plättli und Häuschen, Farbstifte, Jasskarten, zwei Glöcklein und ein Würfel.

«Schreibende erschaffen Welten, die nach eigenen kulturellen Regeln und physikalischen Gesetzen funktionieren.»

Aus den Regeln und Elementen entsteht eine eigene Welt. Ob all der Gesetzmässigkeiten ist auch Fantasie gefragt. «‹Weltenbasteln› ist ein zentraler Begriff der Fantasyliteratur», sagt Cortellini. «Schreibende erschaffen Welten, die nach eigenen kulturellen Regeln und physikalischen Gesetzen funktionieren.» Die Fantasiegeschichten funktionieren dann auch im digitalen Raum, erklärt sie. «Aus solchen Sekundärwelten – also Realitäten, die nachvollziehbar sind, damit sie unser Geist betreten kann – sind in den frühen 1990er-Jahren zig Computerspiele hervorgegangen.»

Das hat Potenzial!

Die Gruppe um die Zweitklässler Orell, Leo und Milo zeichnet auf dem Papier mit den Farbstiften eine Art Labyrinth mit einem detailreich ausgestalteten Start- und Zielfeld auf. Bei der Kreation ihres eigenen Spiels nehmen sich die Kinder viel Zeit für die visuelle Gestaltung. Ein kreatives Element, das in der nüchternen Analyse der Gesellschaftsspiele so noch nicht thematisiert wurde. Aller Kreativität zum Trotz fällt auf, dass alle drei Gruppen aus den vorgegebenen Elementen das Blatt Papier als Ausgangspunkt genommen haben, um darauf mit Farben ein Spielfeld einzuzeichnen.

Hier zieht Cortellini wieder eine Parallele zum Programmieren. «Diese Regelmässigkeit zeigt, dass die vorgegebenen Elemente eines Spiels – oder einer Programmiersprache – dessen Funktion wesentlich mitbestimmen», so Cortellini. Darum setzt das Team von Digikult auf analoge Spiele und vermittelt bereits Primarschulkindern, wie digitale Welten funktionieren – auf spielerische Art und Weise, ohne Elektronik, mit konkretem Bezug zur Lebenswelt.

Wie kommt das bei den Kindern an? «Das war eine willkommene Abwechslung zum ‹normalen› Unterricht», meint Orell. «Ich werde bestimmt wiederkommen, um unsere Spielerfindung abzuschliessen.» Klassenkamerad Leo tüftelt derweil bereits an einer neuen Spielidee: «Ich denke da an ein Mario-Kart-Spiel auf Papier mit Würfeln. Das hat Potenzial.»

Autor
Lukas Tschopp

Datum

11.01.2024

Themen