Gewaltfreier Widerstand

Warum neue Autorität auf Konfrontation verzichtet

Präsenz statt Macht, Beziehung statt Distanz. Das Konzept der neuen Autorität wird in immer mehr Klassenzimmern angewandt. Was braucht es dafür und wie neu ist diese Autorität überhaupt?

In einem Klassenzimmer sitzt eine Frau an einem Schreibtisch vor einer Wandtafel. Vor dem Schreibtisch stehen Schulbänke, zwischen denen drei Kinder stehen. Ihre Bewegungen sind verzerrt dargestellt, was den Eindruck von viel Aktivität und Geschwindigkeit vermittelt.
Das Konzept der neuen Autorität setzt bei Lehrpersonen Selbstkontrolle voraus. Foto: iStock/skynesher

Frau Nelson ist eine sanfte Lehrperson. Ihre Klasse ist die frechste im Schulhaus. Zerkaute Papierkügelchen fliegen durchs Zimmer. Aufforderungen der Lehrerin werden lachend ignoriert. Als Frau Nelson schliesslich nicht mehr zum Unterricht erscheint, übernimmt eine strengere Lehrerin die Klasse. Sie schlägt mit dem Lineal auf den Tisch, wird laut und droht. Die Kinder wagen sich vor Angst kaum zu bewegen.

Die Szene stammt aus dem Buch «Miss Nelson is missing!» und spiegelt das pädagogische Dilemma in den Klassenzimmern wider: Die altbekannte Autorität, basierend auf Gehorsam und Drohungen, macht weder Spass noch Sinn. Doch auch die Lehrperson, deren Präsenz einer lauen Frühlingsbrise ähnelt – mild und kaum wahrnehmbar – hat in einer Schulklasse schnell nichts, beziehungsweise alles verloren: den Respekt der Lernenden und den Einfluss auf ihr Verhalten.

Bewährte Strategie bei Gewalt

Die heutige Schule braucht dringend ein Autoritätskonzept, das für Lehrpersonen sowie für Schülerinnen und Schüler funktioniert. Mögliche Ansätze bietet die sogenannte neue Autorität. Der israelische Psychologe Haim Omer hat die Strategie in den 1980er-Jahren zur Unterstützung von Eltern im Umgang mit gewalttätigen Jugendlichen entwickelt. Heute werden die Grundwerte des Konzepts immer häufiger auch im Schulalltag angewandt.

Wahre Autorität wird durch Präsenz und den Aufbau von Beziehungen geschaffen.

Im Zentrum steht die Überzeugung, dass wahre Autorität nicht durch Gewalt und Macht, sondern durch Präsenz, Transparenz und den Aufbau von Beziehungen geschaffen wird. Statt auf Konfrontation setzt die neue Autorität auf gewaltfreien Widerstand. Dabei orientiert sie sich an Persönlichkeiten wie Mahatma Gandhi und Martin Luther King.

Das Konzept ist ein Haltungskodex für Lehrpersonen: starke Präsenz im Unterricht, Selbstregulierung und das Schaffen von Unterstützungsnetzwerken. In der Praxis bedeutet das, dass die Lehrperson im Unterricht auf Konfrontationen aufmerksam und kontrolliert reagiert. Sie handelt deeskalierend, mit klaren Ansagen. Ihr Handeln und ihre Entscheidungen werden durch das Lehrkollegium und die Eltern unterstützt.

Alte Ideen, neue Kombination

Präsenz, Selbstkontrolle, Vernetzung: Neu erscheint an der neuen Autorität wenig. Das räumt auch Doris Brodmann ein. Die Pädagogin begleitet und berät Schulen und Institutionen auf dem Weg zur neuen Autorität. Neu hingegen sei, dass Omers Konzept die wirksamsten Faktoren aus verschiedenen Ansätzen kombiniere, ganz nach dem Motto: «Von allen das Beste nehmen und ausleben!»

Was ist eigentlich Autorität?

Der Begriff Autorität stammt vom lateinischen Wort auctoritas und bedeutet allgemein anerkanntes, mit Einfluss oder Macht verbundenes Ansehen. Im Bereich der Bildung galten früher Geistliche und Lehrer als unantastbare Autoritäten. Gleichzeitig boten sie gesellschaftlichen Halt und Orientierung. Mit einem zunehmenden Autoritätszerfall begannen ihre Macht und ihr Einfluss zu bröckeln. Ende der 1960er-Jahre kam die antiautoritäre Erziehung auf. Die Diskussion um Autorität ist geprägt vom Widerspruch zwischen Notwendigkeit und Misstrauen. Für die politische Philosophin Hannah Arendt, die sich schon in den 1950er-Jahren mit dem Thema beschäftigte, war Autorität eine politische Tugend und kein pädagogisches Phänomen.

So setzt die neue Autorität, wie andere autoritäre Modelle, auf direkte Kommunikation und Rituale. Diese schaffen Struktur und Zugehörigkeitsgefühl. Der Verzicht auf Gewalt und absoluten Gehorsam ist hingegen ein Grundsatz, der aus der antiautoritären Erziehung stammt. Der Name des Konzepts ist dabei zweitrangig. In Deutschland wird teilweise auch der Begriff der verbindenden Autorität verwendet.

Autorität hilft auch im Alltag

Brodmann arbeitet seit mehr als 15 Jahren mit dem Konzept der neuen Autorität: zuerst in der Suchtprävention, dann im Sonderschulbereich und heute als Dozentin am Systemischen Institut für Neue Autorität in Zürich.

Das Konzept eigne sich auch für den Alltag, sagt Brodmann: «Für mich ist es eine Haltung, die sich nicht nur auf Institutionen beschränkt. Laut zu werden ist auch bei der Konfrontation mit der Nachbarin in der Waschküche kaum hilfreich.»

Im Schulalltag sind Deeskalation und Beziehungsaufbau entscheidend, um eine effektive Lernatmosphäre zu gewährleisten. Beides beginnt bei der Lehrperson. «Ich kann in einer Klasse nur präsent sein, wenn ich ‹bei mir bin›. Das heisst, wenn ich mich auf meine Selbstkontrolle, meine Fähigkeiten, aber auch auf die Unterstützung vom Team verlassen kann», erklärt Brodmann.

«Ich kann in einer Klasse nur präsent sein, wenn ich ‹bei mir bin›.»

Der Weg zur gelebten neuen Autorität im Team und im Klassenzimmer findet in begleiteten Schulentwicklungsprozessen über Jahre hinweg statt. Viele Aspekte der neuen Autorität seinen oft schon vorhanden, sagt Brodmann. «Es gilt dann, Verbindlichkeiten und Haltungen zu klären.» Konkret stellen sich dann Fragen wie: Bedeutet sich im Kollegium wohlzufühlen, auch unterstützt zu werden? Und wie ist dies mit dem alten Glaubenssatz «Eine gute Lehrperson schafft das allein» vereinbar?

Das Kollegium unterstützt

Von Lehrpersonen, die Omers Konzept anwenden, erhält Brodmann positive Rückmeldungen. Sie schätzen die Gewissheit, dass das Kollegium sie unterstützt, und die Fähigkeit, einer Eskalation mit Selbstkontrolle entgegenzuwirken.

In der Praxis kann neue Autorität etwa so aussehen: Die Lehrperson ist mit einem Schüler konfrontiert, der sich weigert, an seinen Platz zu sitzen. Die Lehrperson erklärt ruhig, dass sie mit diesem Verhalten nicht einverstanden ist und zu einem späteren Zeitpunkt darauf zurückkommen wird. Dann führt sie den Unterricht weiter.

Die Lehrperson hat mit ihrer Haltung eine Eskalation verhindert.

Die Lehrperson hat so mit ihrer Haltung eine Eskalation verhindert und Zeit dazugewonnen, sich mit dem Team auszutauschen, um eine passende Reaktion auszuarbeiten. Aus der Situation gehen die Lehrperson und die Klasse gestärkt hervor. Die vermittelte Botschaft ist klar: Fehlverhalten wird angesprochen, bearbeitet und damit eine Entwicklung initiiert – wohlüberlegt und abgesprochen mit dem Umfeld.

Es braucht Zeit und Energie

Das Konzept der neuen Autorität in jedem einzelnen Klassenkontext umzusetzen, erfordert eine innovative Schule sowie hoch motivierte Lehrerinnen und Lehrer. Es braucht dafür also auch enorm viel Energie und mehrere Jahre Zeit.

Angesichts des akuten Fachkräftemangels, überlasteter Lehrpersonen und des omnipräsenten Leistungs- und Zeitdrucks ist dies schwer zu gewährleisten. Auch Brodmann sieht dieses Dilemma. «Der Zeitaspekt ist einer der Stolpersteine, um die neue Autorität im Schulzimmer umzusetzen. Doch was ist die Alternative dazu? Nichts tun?»

Was hätte wohl die nette Frau Nelson, die nicht mehr zum Unterricht ihrer frechen Klasse erschien, dazu gemeint? Sie hätte den Begriff neue Autorität wohlwollend belächelt. Denn die strenge Frau, die ihre Klasse übernahm, war keine neue Lehrerin. Es war die verkleidete Frau Nelson. Die Geschichte wurde 1977 zum ersten Mal veröffentlicht und zählt bis heute zu den beliebtesten Bilderbüchern in England.

Autor
Christa Wüthrich

Datum

13.05.2024

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