Virtual Reality

VR-Brillen machen Baukörper für Lernende fassbar

Technologie kann mit virtueller Realität visualisieren, was sonst nur theoretisch vorstellbar ist. In Zug erkundet das gewerblich-industrielle Bildungszentrum darum neue Möglichkeiten für die Lernenden.

Drei Lernende tragen VR-Brillen und halten dabei Steuerelemente in ihren Händen.
Ausgerüstet mit Brillen und Controllern üben Lernende den Umgang mit Virtual Reality. Foto: Marcel Hegetschweiler

In einem virtuellen Raumschiff liegen drei Würfel auf einem Tisch. Sie wiegen ein, drei und fünf Kilogramm. Dahinter stehen drei Säulen. In diesen beträgt die Schwerkraft jeweils zehn Meter pro Sekunde im Quadrat – ähnlich wie auf der Erde. Wie viel Energie besitzen die drei Würfel, wenn man sie auf der Höhe von einem Meter in die Säulen setzt?

Mit Virtual Reality (VR) kann man diese Aufgabe visualisieren und durchspielen. Ein Lernender, der eine VR-Brille trägt, hält in jeder Hand einen Controller als Steuergerät. Er fasst den ein Kilogramm schweren Würfel und setzt ihn langsam in die erste Säule ein. Das ist mit den Controllern nicht ganz einfach, aber es gelingt ihm. Auf dem Bildschirm neben der Säule erscheint die korrekte Lösung: zehn Joule. Nach einigen Versuchen gelingt es dem Lernenden auch, die zwei anderen Würfel in die Schwerkraftsäulen zu setzen. Mit einem Zischen öffnet sich neben den Säulen eine grosse runde Luke. Jetzt kann sich der Lernende in einen weiteren Raum begeben, wo die nächste Physikaufgabe auf ihn wartet. Doch bevor er geht, wirft er noch einen Blick aus dem Fenster des Raumschiffs in die endlosen Weiten des Alls.

Lernen in der virtuellen Realität

Dieses Szenario entspringt nicht etwa dem Traum eines Science-Fiction-begeisterten Physiklehrers. Es ist das reale Lernsetting eines Virtual-Reality-Workshops, den Lernende des gewerblich-industriellen Bildungszentrums Zug (GIBZ) besuchen. Sie testeten dort ein VR-Programm, bei dem sie auf einem Raumschiff verschiedene Physikaufgaben lösen mussten. Das VR-Programm hat das Immersive Realities Center der Hochschule Luzern entworfen. Der Workshop gehört zum Projekt «Virtuelles Lernen am GIBZ», das auf fünf Jahre angelegt ist.

«Wenn wir diese Tools einsetzen, muss es einen didaktischen Mehrwert haben.»

Das Projekt will Bedürfnisse und Möglichkeiten des Lernens mittels virtueller und erweiterter Realität, sogenannter Augmented Reality (AR), erkunden. Bei Letzterem werden reale Bilder in Echtzeit um virtuelle Zusatzinformationen ergänzt. «Wir wollen wissen, wo diese digitalen Technologien andere Werkzeuge als Teil des Unterrichts ergänzen können», erklärt Reto Grepper, der zum Projektteam gehört. Er ist am GIBZ verantwortlich für die Ausbildung der Zeichnerinnen und Zeichner mit Fachrichtung Ingenieurbau. Ob die virtuellen Realitäten aber tatsächlich eingesetzt werden können, müsse sich zuerst noch zeigen. «Wenn wir diese Tools einsetzen, dann muss es einen didaktischen Mehrwert haben», sagt Grepper. Dies sei die einzige Daseinsberechtigung für solche Tools.

Die dritte Dimension nutzen

Alina Stirnimann sieht in den virtuellen Räumen eindeutige Vorteile für die Ausbildung. Sie ist Zeichnerin mit Fachrichtung Architektur. «Unsere Pläne sind meist zweidimensional. Wenn man nun gewisse Aspekte in 3-D sehen könnte, dann wären diese vermutlich einfacher zu verstehen. So könnte man einen Plan von allen Seiten – von oben, unten, links und rechts – betrachten.» Dem pflichtet auch Schreiner Yannick Seitz bei. In einem virtuellen Raum könne man eine ganze Wohnung darstellen, wo Kundinnen und Kunden Möbelstücke platzieren können. «So sehen sie, wie diese Stücke in ihrer Wohnung wirklich aussehen würden.» Seitz und Stirnimann durften beide während ihrer Ausbildung das VR-Raumschiff in einem Workshop ausprobieren. Eine spannende Erfahrung, wie beide finden, aber auch etwas ungewohnt: «Ich hatte mehr Schwierigkeiten mit der Bedienung als mit dem Rechnen bei den Physikaufgaben», sagt Seitz.

Das Neuste ist schnell wieder alt

Noch bewegen sich die Lernenden allein durch die virtuelle Realität. Eine Kollaborations- oder Kommunikationsfunktion hat der Prototyp nicht. Grepper ist zuversichtlich, dass die nächsten VR-Programme solche Funktionen haben.

Für die Entwicklung der Programme mitverantwortlich ist der Ingenieur Antonio Russo – und er droht dabei zuweilen von hinten überrollt zu werden. «Das Problem ist: Die Technik entwickelt sich schneller als unser Projekt», erklärt er. An der Hochschule Luzern ist er Projektleiter für VR und AR in der Berufs- und Schulbildung. Es gibt unterdessen Brillen, die problemlos miteinander kommunizieren können und sowohl für VR als auch für AR einsetzbar sind. Für ein Forschungsprojekt sei es schwierig, bei dieser Geschwindigkeit mitzuhalten. «Die VR-Brillen aus dem Workshop sind unterdessen schon wieder alt.»

Für jedes Fach eine andere Realität

Die Erkenntnisse aus dem Projekt wollen die Beteiligten gezielt in der Berufsbildung einsetzen. Rund 1800 Lernende aus 28 gewerblichen, industriellen und gesundheitlichen Lehrberufen sowie von der Berufsmaturitätsschule besuchen das GIBZ. Um in einem ersten Schritt die Bedürfnisse und Ideen der Lernenden in Erfahrung zu bringen, wählte das Projektteam drei Fachrichtungen aus und entwickelte sie für spezifische Testprogramme.

Im Physikunterricht durften die Berufsmaturanden und -maturandinnen aufs Raumschiff. Für die Studierenden mit Schwerpunkt Technik und Gestaltung wurde ein Programm zur Digitalisierung von Räumen entwickelt. Und die angehenden Fachpersonen Gesundheit erhielten unter anderem ein Hautmodell, das sie daheim am Computer ansehen können.

Bedürfnisse sind unterschiedlich

Die Möglichkeit zum Selbststudium sei besonders bei Studierenden der Fachrichtung Gesundheit wichtig. «Bei der Gesundheitsausbildung haben wir viele Leute, die das eidgenössische Fähigkeitszeugnis nachholen», erklärt Grepper. Man habe dort eine grosse Zahl von Lernenden, die bereits viel Berufserfahrung hätten und einen Grossteil ihrer Ausbildung im Selbststudium machten. «Diesen Personen ist es wichtig, dass sie ortsungebunden lernen können. Darum ist auch ihr Learning Management System so aufgebaut, dass sie das gut können.»

Für die Lernenden im Selbsttudium entwickelte das Projektteam Bausteine, die das Lernsystem ergänzen. Einer dieser Bausteine ist das virtuelle Hautmodell. Das 3-D-Modell können die Lernenden daheim in Ruhe am Computer studieren. Sie können Details virtuell vergrössern und sich zusätzliche Informationen anzeigen lassen.

Unterdessen ist die erste Projektphase mit dem Fokus auf die Lernenden abgeschlossen. In der zweiten Phase stehen nun die Bedürfnisse der Lehrpersonen im Vordergrund. Bis Ende 2026 wollen Grepper und Russo herausgefunden haben, was mit VR und AR in der Berufsbildung möglich ist.

«Egal wie gut eine App ist, manche Lehrpersonen werden sie nicht einsetzen.»

Unabhängig von der Zuversicht und den bisher positiven Rückmeldungen bleiben die Verantwortlichen mit ihren Erwartungen realistisch. «Wir haben inzwischen auch gemerkt, dass manche Lehrpersonen die App nicht einsetzen werden, egal wie gut sie ist», sagt Grepper. Aber diese Situation habe man ja auch heute schon an Schulen. «Man kann zum Beispiel eine super Materialbibliothek haben. Aber es gibt Lehrpersonen, die werden nie nach hinten laufen, weil es zu mühsam ist oder weil sie Respekt vor der neuen Anwendung haben.» Es werde wohl noch sehr viele weiche und individuelle Faktoren geben, die mitbestimmen, ob die neuen VR- und AR-Anwendungen dereinst eingesetzt werden – oder eben nicht.

Autor
Marcel Hegetschweiler

Datum

07.11.2023

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