In der Schweiz sind laut aktuellen Daten etwa 15 Prozent der Kinder im Alter von 6 bis 12 Jahren übergewichtig oder adipös. In einer Schulklasse mit 24 Schülerinnen und Schülern sind das bereits drei bis vier Betroffene. Laut dem Bundesamt für Gesundheit sind diese Zahlen seit 2017 relativ stabil.
Das Übergewicht kann unter anderem eine soziale und emotionale Belastung bedeuten. «Die Kinder und Jugendlichen wissen, dass sie aus der Norm fallen», sagt Kinderärztin Margarete Bolten dazu. «Häufig haben sie bereits Erfahrung mit Mobbing gemacht.» Bolten leitet die Kinderpsychosomatik des Kinderspitals Luzern und ist Vorstandsmitglied des Fachverbands Adipositas im Kindes- und Jugendalter (AKJ). Sie ergänzt, dass übergewichtige Kinder auch ein erhöhtes Risiko für körperliche Krankheiten wie zum Beispiel Diabetes oder orthopädische Probleme haben.
Gewichtsprobleme bei Kindern haben unterschiedliche Ursachen. Dazu zählen etwa die Genetik, die Ernährung, das Bewegungsverhalten und das familiäre Umfeld. «Auch Stress und Bindungsunsicherheit können zu Übergewicht führen», erklärt Bolten.
Konkrete Tipps für Lehrpersonen, die helfen wollen
Haben Lehrpersonen übergewichtige Kinder in der Klasse, können sie gemäss Bolten Folgendes berücksichtigen, um adäquat mit dem Thema umzugehen und eine erste Anlaufstelle für die Kinder und Jugendlichen zu sein:
- Allgemeiner Umgang: Auf Schuldzuweisungen, Kommentare zum Körper oder Diätempfehlungen verzichten. Auf gesundheitsförderndes Verhalten statt auf das Gewicht fokussieren.
- Übergewicht ansprechen: Das Thema im Einzelgespräch in einer ruhigen, geschützten Atmosphäre ansprechen. Mit Fragen arbeiten: Wie geht’s dir so? Wie kommst du im Alltag zurecht? Kriegst du manchmal blöde Kommentare in der Pause? Laut Bolten blocken zwar gerade Jugendliche oft ab, doch sagt sie: «Es ist eine Chance, dass man ins Gespräch und das Thema Wohlbefinden im Körper auf den Tisch kommt.»
- Verhalten bei Mobbing: Mobbing ernst nehmen, dokumentieren, sofort intervenieren. Zusammenarbeit mit Schulsozialarbeiterinnen, Schulpsychologen und Eltern. Einzel- und Gruppenarbeit mit Täterinnen, Tätern und Betroffenen.
- Gespräch mit den Eltern: Am Anfang des Gesprächs Sorgen um die gesundheitliche Entwicklung und das Wohlbefinden des Kindes ausdrücken. Keine Aussagen wie «Ihr Kind ist zu dick», sondern wie «Uns ist aufgefallen, dass Ihr Kind sich im Sportunterricht nicht wohlfühlt. Wie erleben Sie das zu Hause?». Vermittlung von spezialisierten Angeboten und dazu ermutigen, Hilfe anzunehmen.
Bolten betont: «Es braucht wenig, wenn man früh beginnt. Es braucht viel, wenn man spät anfängt.» Wenn ein Kind übergewichtig ist, dann sei das ein Familienprojekt, das in Angriff genommen werden will. Oft haben die Schülerinnen und Schüler den Willen, etwas zu verändern. «Die grosse Kunst liegt darin, sie dabei zu begleiten», so die Kinderärztin. Doch dazu müssen auch die Eltern mit anpacken und ihre eigenen Gewohnheiten überdenken.
Soll das Kind auf eine Diät gesetzt werden? Bloss nicht!
Viele denken, dass eine radikale Diät bei Übergewicht am besten hilft. Doch Fehlanzeige. Diäten seien für Kinder sogar kontraproduktiv, erklärt Bolten. «Sie können Essstörungen und psychische Belastung fördern – gerade bei Kindern und Jugendlichen.»
Stattdessen sollte es vor allem darum gehen, mehr Bewegung in den Alltag zu integrieren. «Erst ab dem dritten Stock den Lift nehmen, zu Fuss zur Schule gehen, den Nachmittag draussen verbringen, beim Dessert auf eine Frucht zurückgreifen», zählt die Psychologin auf. Sie betont ausserdem: «Aktivitäten strukturieren den Tag. Dadurch wird weniger aus Langeweile gegessen.» Das Ziel sei es, erst einmal das Gewicht zu stabilisieren.
Aus sozialer Sicht sei auch die Mitgliedschaft in einem Sportverein eine gute Möglichkeit, sich regelmässig zu bewegen. Doch ist dabei ein Problem, dass es häufig ums Gewinnen geht. Damit sind sportliche Anforderungen verbunden, welche die übergewichtigen Kinder und Jugendlichen oft noch gar nicht erbringen können. Dies sei auch ein Problem im Schulsport, wo es primär um Leistung geht.