INTERVIEW

«Sprachkompetenz ist mehr als Orthografiekenntnis»

Medienberichte vermitteln das Bild, dass die Sprache der Jugend verludert. Pascal Frey, Präsident des Vereins Schweizerischer Deutschlehrerinnen und Deutschlehrer, sieht das anders.

Pascal Freys Schülerinnen und Schüler sind nicht schlechter in der Rechtschreibung als frühere Jahrgänge. Fotos: Philipp Baer

BILDUNG SCHWEIZ: Wissen Sie, was «Sheesh» heisst?

PASCAL FREY: Nein, ich könnte es jetzt nicht übersetzen und ich würde es auch nicht aktiv brauchen. Aber ich kann mir Situationen vorstellen, in denen meine Schülerinnen und Schüler das Wort gebrauchen.

Man könnte es wohl mit «Du meine Güte!» übersetzen. Was halten Sie denn von der heutigen Jugendsprache?

Ich erlebe manchmal Situationen, in denen zum Beispiel eine Schülerin der anderen sagt: «Chomm ey, Alte.» Dann denke ich mir schon, dass die Sprache manchmal erstaunliche Abstraktionsformen annimmt. Doch machen Ausdrücke wie «Sheesh» und «Bro» genau das, was solche Begriffe aus der Jugendsprache immer machen sollen: Sie schaffen ein Zusammengehörigkeitsgefühl und grenzen gegenüber anderen Generationen ab. Deshalb passt es, dass ich diese Wörter nicht beherrsche oder gar nicht kenne. Sie sind nämlich nicht für meine Generation bestimmt – und erst recht nicht für meine Rolle als Lehrer.

«Junge Leute wissen, wann es angebracht ist, bestimmte Ausdrücke zu verwenden und wann nicht.»

Macht sich die Jugendsprache auch im geschriebenen Deutsch bemerkbar?

Junge Leute wissen, wann es angebracht ist, bestimmte Ausdrücke zu verwenden und wann nicht. Je nach Situation drückt man sich anders aus, nutzt andere sprachliche «Register». Während also Jugendliche in bestimmten, abgegrenzten Situationen Begriffe aus der Jugendsprache verwenden, nutzen sie etwa für geschriebenes Standarddeutsch im Unterricht ein anderes Register. Ich erlebe es eher selten, dass es eine Durchmischung der Register gibt.

Ist es ein Ausdruck von Sprachkompetenz, sich der richtigen sprachlichen Register zu bedienen?

Das ist nicht nur ein Ausdruck davon, genau das ist Sprachkompetenz. Ich glaube sogar, dass junge Leute heutzutage mehr Register zur Verfügung haben, als es meine Generation hatte. Das hängt vermutlich damit zusammen, dass Jugendliche heute sprachbewusster aufwachsen. Sie brauchen ihre Sprache in mehr unterschiedlichen Situationen. Dazu gehört etwa Social Media, worin sie vornehmlich Mundart schreiben. Doch wenn zum Beispiel meine Töchter mir in Mundart schreiben, bedienen sie sich sicher eines anderen Sprachregisters, als wenn sie sich gegenseitig schreiben.

Medienberichte schreiben jungen Leuten eine niedrige Sprachkompetenz zu, teils unter Berufung auf Lehrende. Was halten Sie davon?

Wenn man sie unbedingt finden will, findet man natürlich immer Personen, die diese Beobachtungen bestätigen. Der Vorwurf lautet dann oft, die jungen Leute kennen weder Orthografie noch Interpunktion. Es ist jedoch ein Fehler, Orthografiekenntnisse mit Sprachkompetenz gleichzusetzen. Sprachkompetenz ist sehr viel mehr, wie eben etwa die richtige Anwendung der verschiedenen sprachlichen Register. Ausserdem will mir nicht einleuchten, wieso junge Menschen Orthografie- und Interpunktionsregeln schlechter beherrschen sollen als andere.

Warum?

Junge Leute können heute einiges viel besser als ältere. Sie können zum Beispiel alle sehr viel besser Englisch als etwa meine Generation. Ausserdem können viele Junge programmieren, was bei Personen über 30 Jahren nicht verbreitet ist. Warum kann die junge Generation das alles? Weil sie es erlernt hat. Also fragt sich, warum gerade die Generation von Jugendlichen, die all das und mehr kann, keine Rechtschreibregeln erlernen können soll. Falls Orthografie und Interpunktion also tatsächlich immer schlechter werden sollten, muss das andere Gründe haben.

Sind Ihre aktuellen Schülerinnen und Schüler schlechter in der Rechtschreibung als frühere?

Nein. Für die Behauptung, dass es eine solche Entwicklung gibt, würde ich ohnehin gerne einmal harte Fakten sehen. War es denn vor 10, 20 oder 100 Jahren besser? Das weiss offenbar niemand. Trotzdem scheint es erwiesen, dass junge Leute die Sprache von Jahr zu Jahr schlechter beherrschen – zumindest, wenn man den Berichten einiger Medien Glauben schenken will. Sollte es aber tatsächlich so arg um die Sprache stehen und hat das tatsächlich einen so hohen Stellenwert, dann muss man auch die Ressourcen bereitstellen, um das Problem anzugehen.

Gäbe es denn im Fach Deutsch nicht schon jetzt die Ressourcen dafür, falls ein Eingreifen notwendig wäre?

Deutschunterricht ist viel mehr als das Üben von Orthografie und Interpunktion. Ich setze diese Rechtschreibfähigkeiten voraus, fordere sie von den Lernenden ein und bewerte sie. Aber ich kann keinen Unterricht damit füllen. Auf gymnasialer Stufe müssen wir im Fach Deutsch eine Bandbreite an Inhalten vermitteln. Dazu gehört unter anderem der Umgang mit Kulturprodukten wie Büchern, Theaterstücken, Filmen und mehr. Viele geisteswissenschaftliche und philosophische Inhalte bleiben ebenfalls bei uns hängen. Bei nur drei bis vier Wochenstunden tritt das Üben von Rechtschreibung notgedrungen in den Hintergrund.

Wie könnte die Rechtschreibung besser werden, wenn nicht im Fach Deutsch?

Würde es tatsächlich so ein gewichtiges Problem in der Rechtschreibung der jungen Leute geben, dann müssten wir alle dazu beitragen, dass es besser wird. Sind zum Beispiel Lehrpersonen anderer Fächer nicht zufrieden mit der Orthografie oder der Interpunktion der Schülerinnen und Schüler, können sie die Rechtschreibung offiziell einfordern, prüfen und Noten dafür geben. Das wäre hilfreicher, als sich über das angeblich sinkende Niveau zu beschweren. Andernfalls müssten dem Deutschunterricht tatsächlich mehr Wochenstunden zufallen, um die Rechtschreibung zu üben.

Wie ist es so weit gekommen, dass keine Zeit mehr für das Üben von Rechtschreibung bleibt?

Früher hatte das Fach Deutsch mehr Wochenstunden zur Verfügung. Gleichzeitig mussten weniger Inhalte vermittelt werden. Doch der Unterrichtsstoff nahm zu, die Stundenzahl nahm ab und die Rechtschreibung rückte immer mehr an den Rand des Unterrichtsplans. Aber auch die anderen gymnasialen Fächer sahen sich mit zunehmend mehr Unterrichtsstoff und gleichzeitig weniger Wochenstunden für Vermittlung und Übung konfrontiert.

Abgesehen von den Stundenplänen hat sich auch die Sprache verändert. Wie geht die Jugend mit dem Gendern um?

Hier möchte ich wiederholen, was ein Hochschuldozent vor einigen Monaten in der Zeitung geäussert hat: Für junge Leute ist es beim Schreiben wichtiger, dass ihre Sprache genderneutral ist, als dass die Rechtschreibung stimmt. Der Fokus hat sich hier stark verlagert.

«Wir bilden Wörter, Sätze und Texte grundsätzlich noch immer nach indoeuropäischem Muster. Daran wird sich in zwei Generationen nichts ändern.»

Wie wird die deutsche Sprache in zwei Generationen aussehen?

Ich denke, von der Grammatik her nicht gross anders als heute. Grammatik ist etwas sehr Stabiles. Wir bilden Wörter, Sätze und Texte grundsätzlich noch immer nach indoeuropäischem Muster. Daran wird sich in zwei Generationen nichts ändern. Was sich hingegen verändern wird, ist die Lautung. Man kann jetzt schon feststellen, dass die Aussprache von Deutsch laufend einheitlicher wird. Auch die Dialekte in der Schweiz werden sich noch stärker aneinander angleichen, als es bisher schon geschehen ist. Zusätzlich werden wir eine ganze Menge an neuen Wörtern haben. Und letztendlich wird es wohl kein Genitiv-S mehr geben.

Autor
Kevin Fischer

Datum

31.01.2023

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