Berufliche Grundbildung

Sport gibt’s nur für drei von vier Lehrlingen

Zu wenig Zeit, zu wenig Hallen: Längst nicht alle Lernenden kommen in den Genuss von Sportlektionen während der beruflichen Grundbildung. Dabei wären sie für eine ganzheitliche Ausbildung wichtig.

Ein Jugendlicher dribbelt einen Basketball in einer Turnhalle.
Bewegung als Ausgleich zum Arbeits- und Schulalltag ist nicht für alle Lehrlinge selbstverständlich. Foto: iStock/miljko

Punkt 8.15 Uhr an einem Donnerstagmorgen in der Sporthalle der Baugewerblichen Berufsschule Zürich (BBZ): 15 Metallbaulernende stehen in einem Halbkreis um die Sportlehrperson Maja Angst. Sie repetieren zusammen kurz die wichtigsten Regeln von Smolball. Das schnelle Mannschaftsspiel mit weichem Ball und kleinem Racket wurde in den 80er- und 90er-Jahren vom Sportlehrer Janusz Smolinski an der BBZ entwickelt.

Während Angst nochmals das Handling des Rackets erklärt, sind die meisten Lernenden bereits in Bewegung: Sie tänzeln von einem Bein aufs andere, lockern Arme und Beine, schwingen das Racket – oder stupsen sich damit gegenseitig schelmisch grinsend an. «Sport ist cool», sagt ein Lernender. «Es ist eine Abwechslung zu den anderen Fächern. Man kann sich hier ein bisschen austoben.»

Bewegung ist einer der zwei zentralen Pfeiler des pädagogischen Doppelauftrags, den der Sportunterricht gemäss dem eidgenössischen Rahmenlehrplan für Sportunterricht in der beruflichen Grundbildung zu erfüllen hat. Zusätzlich zum Ziel Bewegung und Sport geht es aber auch um eine ganzheitliche Förderung in körperlicher, motorischer, kognitiver, sozialer und emotionaler Hinsicht.

Im Sport zeigt sich, wer sozial kompetent ist

«Bei der Förderung von Sozial- und Selbstkompetenz unterscheidet sich der Sportunterricht nicht per se von anderen Fächern», erklärt Andrea Derungs. Die Sportlehrerin ist Vorstandsmitglied der Schweizerischen Vereinigung für Sport an Berufsfachschulen (SVSB). Gewisse Sozialkompetenzen – wie etwa Team- oder Kooperationsfähigkeit – seien im Sport sogar besonders gut beobachtbar. Sportliche Erfolge im Sinne von individuellen Leistungssteigerungen stellen sich gemäss Derungs zudem vor allem dann ein, wenn sich Lernende eigene Ziele setzen, ihre sportlichen Handlungen und ihr Verhalten reflektieren und sich dabei mit den eigenen Stärken und Schwächen auseinandersetzen würden.

In der BBZ-Sporthalle hat unterdessen die erste Runde Smolball begonnen. Während sich ein Team an der Seitenlinie ausruht, versuchen die zwei Mannschaften auf dem Spielfeld so schnell wie möglich zwei Tore zu erzielen. Dann wird gewechselt.

«Sport ist eben auch Fairness»

Das schnelle Hin und Her auf dem Feld verlangt von Angst als Schiedsrichterin volle Konzentration. Doch mit 24 Jahren Berufserfahrung pfeift die Fachgruppenleiterin inzwischen routiniert zu grobe Fouls und Spielfehler. Dazwischen verteilt sie Lob für geschickte Spielzüge oder feuert immer mal wieder Lernende an.

«Ich will vermitteln, dass Bewegung Spass macht und sich positiv auf die Lebensqualität auswirkt.»

Ihre Grundsätze seien in all den Jahren in der Halle dieselben geblieben, sagt Angst. «Ich möchte eine angenehme Atmosphäre schaffen, damit möglichst alle Lernenden gerne in den Unterricht kommen. Ich will vermitteln, dass Bewegung Spass macht und sich positiv auf die Lebensqualität auswirkt – mens sana in corpore sano», fügt sie noch schnell hinzu, um dann gleich wieder ein Foul zu pfeifen. Es ist niemandem etwas passiert. Der Foulspieler hilft dem gestürzten Kollegen auf die Beine und weiter geht’s.

«Hier kommen Sozialkompetenzen eins zu eins zum Tragen», kommentiert Angst. Daher mache das Verhalten einen Drittel der Sportnote aus neben der Leistung und dem Können. «Sport ist eben auch Fairness und nicht einfach nur höher, schneller, weiter.»

Laut Derungs von der SVSB ist der Wettkampf denn auch nur eines von fünf Handlungsfeldern des Rahmenlehrplans im Sportunterricht. Aussenstehende nähmen den Wettkampf leider oft als zentrales Element des Sportunterrichts wahr. Zwar seien für etliche Lernende Begriffe wie «üben und leisten» respektive «herausfordern und wetteifern» von grosser Bedeutung. Allerdings dürfe nicht vergessen werden, dass «sich wohl und gesund fühlen», «gestalten und darstellen» oder auch einfach «dabei sein und dazugehören» ebenfalls von vielen Menschen als zentrale Aspekte fürs Sporttreiben betrachtet würden. «Die Gesundheit hat zum Beispiel in den vergangenen Jahren an Stellenwert gewonnen», sagt Derungs. Dementsprechend würden gestalterisch und koordinativ fordernde Sportarten wie Tanzen und Hindernisparcours wichtiger. Solche Spielarten des Sports bereicherten die einseitige Wettkampfkultur der Achtzigerjahre zwar schon länger. Sie würden allerdings im Sportunterricht je nach Berufsschule und Beruf unterschiedlich gewichtet.

Hoher Bewegungsdrang in Bauberufen

Dass sich der Sportunterricht je nach Beruf unterscheiden kann, weiss die Sportlehrerin Rendel Arner. Nebst einem Pensum an der BBZ unterrichtet sie auch Lernende an der Wirtschaftsschule KV Zürich.

Die verschiedenen Berufe würden durchaus unterschiedliche Bewegungsvorlieben und Bewegungstendenzen zeigen, so Arner: «Bauhandwerker und Bauhandwerkerinnen haben oft einen höheren Bewegungsdrang. Sie können sich weniger gut auf Inhalte wie Yoga, Tanzen oder Entspannungstechniken einlassen.» An der KV Zürich wiederum beobacht sie, dass Frauen mehr Probleme mit Körperkontakt haben – vor allem dann, wenn es ums Kämpfen und Raufen gehe, wie etwa beim an der BBZ sehr beliebten Rugby.

Häufig sei das Spielniveau in den Klassen an der BBZ höher. Das sei allerdings vielfach auch auf den grossen Männeranteil dort zurückzuführen. An der BBZ bestünden die Klassen zu 80 bis 100 Prozent aus Männern. An der KV Zürich wiederum schwanke der Anteil zwischen 20 und 50 Prozent.

Wie viele verschiedene Sportarten eine Berufsfachschule anbietet, ist laut SVSB-Präsident Urs Böller vor allem abhängig von der Infrastruktur der Schule. Weiter hänge die Situation auch vom jeweiligen Kanton und seinem Umsetzungswillen des gesetzlich verankerten Sportobligatoriums ab.

Sportmangel wegen fehlender Zeit und Infrastruktur

Laut einer Erhebung des SVSB seien 2005 nur gerade 70 Prozent aller Berufslernenden in den Genuss von Sportunterricht gekommen. Dies, weil beim Fächerspiegel der Berufsmaturitätsklassen der Sport fehle. An anderen Orten wiederum stehen keine Sporthallen zur Verfügung. «Das Hauptproblem liegt in der Regel in der fehlenden Halleninfrastruktur», erklärt Böller. So biete zum Beispiel der Kanton Wallis an den vier Standorten Brig, Visp, Sitten und Martigny erst seit 2013 Sportunterricht an.

Nur 70 Prozent aller Berufslernenden kamen 2005 in den Genuss von Sportunterricht.

Über fehlende Infrastruktur für den Sportunterricht kann sich die BBZ in Zürich nicht beklagen. Die mitten im Gebäudekomplex in die Erde eingelassene Halle wird auch heute Abend, wenn die Sportlehrpersonen bereits auf dem Heimweg sind, von verschiedenen Gruppen und Vereinen rege genutzt.

Doch zurück zur Sportstunde von Maja Angst: Die 16 Metallbaulernenden haben sich wieder im Halbrund vor ihr aufgestellt und rekapitulieren die soeben zu Ende gegangene Sportstunde. Die rund 35 Minuten Smolball haben die Jugendlichen offensichtlich zum Schnaufen gebracht. Darauf angesprochen meint ein Lernender lachend: «Es gibt halt auch viele Lernende, die überhaupt keinen Sport treiben. Darum ist es gut, dass wir an der Berufsschule Sport machen müssen.»

Autor
Marcel Hegetschweiler

Datum

25.04.2024

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