Unsportliche Kinder

So motiviert man im Turnen auch die Sportmuffel

Nicht jedes Kind macht gerne Sport. Doch der Sportunterricht ist obligatorisch. Die Autorin begibt sich auf Spurensuche, warum es Sportmuffel gibt und wie man sie besser abholen kann.

Girls celebrating winning the match
Kleine Gesten im Spiel fördern den Teamgeist. Foto: iStock/miodrag ignjatovic

Sport war nie mein Ding. Schon in der Primarschule war ich immer die Langsamste, Joggen verursachte Seitenstechen und in meiner ganzen Schulsportkarriere habe ich keinen einzigen Felgaufzug gemeistert. Ich habe es seitdem auch nie wieder versucht. In Sachen Sport habe ich bis heute die Ambition eines Kochweins. Wie kam es soweit? Bin ich eine Ausnahme? Diesen Fragen wollte ich auf den Grund gehen und schnell stellte ich fest: Vielen Erwachsenen geht es wie mir. Das zeigt eine Umfrage der deutschen Website «Krautreporter».

Anfang 2022 befragte die Website die Userinnen und User nach ihren Erfahrungen im Sportunterricht. Diese berichteten von Misserfolgen an Turngeräten, Scham beim Vorturnen oder im Schwimmunterricht und wie sie jeweils als Letzte in die Mannschaften gewählt wurden. Solche negativen Erlebnisse können Auswirkungen bis ins Erwachsenenalter haben. Das zeigt jedenfalls die Umfrage: Von den 5600 Teilnehmenden gaben 80 Prozent an, wegen ihrer Erlebnisse bis heute nicht gerne Sport zu treiben. Das kann gesundheitlich problematisch sein.

Meine Schulzeit ist natürlich schon länger her. Darum habe ich nachgefragt, wie heute an Schweizer Schulen Sport getrieben wird. Die gute Nachricht vorweg: «Der Sportunterricht hat sich in den letzten Jahren stark verändert», sagt Jonathan Badan, Co-Präsident des Schweizerischen Verbands für Sport in der Schule. Er will nicht schlecht über den Unterricht von früher sprechen. Die Sportdidaktik habe einfach dazugelernt. «Es gibt unterdessen neue Erkenntnisse und die setzen wir jetzt im Unterricht um», sagt er mit Verweis auf Studien, die zum Beispiel belegen, wie demotivierend das Wählen von Mannschaften früher war. Vor allem für jene, die als letzte aufgerufen wurden.

Mit Begeisterung und ohne Druck

Schulsport wird nie das Lieblingsfach aller Schülerinnen und Schüler sein. Das sei auch nicht grundsätzlich schlimm, findet Jan Rauch, Sportpsychologe an der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften. «Kinder bewegen sich zwar gerne, sind jedoch nicht unbedingt am Vergleich im Wettbewerbssport interessiert.» Wer Sport nicht mag, habe vielleicht mehr Freude an anderen obligatorischen Fächern wie Geschichte oder Mathe.

Bei anderen Fächern sind Schülerinnen und Schüler jedoch nicht so stark exponiert wie in der Turnhalle. Zudem dient der Sportunterricht auch der Gesundheitsförderung. Die Frage also bleibt: Wie kann man unsportliche oder introvertierte Kinder besser motivieren? «Motivation braucht Erfolgserlebnisse – unabhängig vom Wettkampfgedanken», sagt Rauch. Er verweist auf das ABC der Grundbedürfnisse der Sportpsychologie, das auf Englisch mehr Sinn ergibt als auf Deutsch: autonomy (Autonomie), belonging (Zugehörigkeit) und competence (Kompetenz).

Auf den Sportunterricht lasse sich dies aber nicht so leicht übertragen: In einem Pflichtfach sei die Autonomie entsprechend eingeschränkt. Für Rauch bedeutet dies, dass es mindestens Auswahlmöglichkeiten geben sollte. Zum Beispiel verschiedene Übungen, wenn Gerätturnen auf dem Programm steht. Die Zugehörigkeit wiederum ist nicht nur vom Sportunterricht, sondern allgemein davon abhängig, wie wohl sich Lernende an der Schule oder im Klassenverband fühlen. Man könne aber zum Beispiel mit kleinen Gesten den Teamgeist fördern, etwa mit Abklatschen nach einem Ballwechsel im Volleyball. Damit sich die Lernenden als kompetent erleben, sind laut Rauch individuelle Ziele wichtig: «Ein persönliches Erfolgserlebnis hilft der Motivation.» Im Klassenunterricht sei das aber einfacher gesagt als getan. Nicht immer könne man auf alle einzeln eingehen.

«Natürlich gibt es auch Noten, doch die sollen nicht immer im Vordergrund stehen.»

Wettbewerb ist und bleibt ein zentraler Aspekt beim Sport. Dessen ist sich auch der Sportpsychologe bewusst: «Es gibt zudem auch Kinder, die brauchen gerade den Wettkampf als Motivation.» Im Sportunterricht sei es darum schwierig, allen Bedürfnissen gerecht zu werden. Sportlehrerinnen und Sportlehrer versuchen es dennoch, ist Badan vom Verband für Sport in der Schule überzeugt. Für ihn sind individuelle Erfolgserlebnisse und vorgelebte Sportbegeisterung zentral, um Schülerinnen und Schüler zu motivieren. Er rät, ohne Druck zu arbeiten. «Natürlich gibt es auch Noten, doch die sollen nicht immer im Vordergrund stehen.» Dies stelle die Bedeutung der Noten nicht grundsätzlich infrage. Sie sollen nur nicht in jeder Lernsituation im Zentrum stehen. Lehrpersonen sollen den Kindern und Jugendlichen vermitteln, dass sie im Sport auch für ihr Wohlbefinden arbeiten. Badan unterrichtet selbst seit über zehn Jahren auf der Sekundarstufe. Mit Abwechslung in den Disziplinen könne man Kinder unterschiedlich abholen, sagt er. Etwa mit Yoga für die Beweglichen oder Beachvolleyball zum Auflockern.

Sich selbst besser beobachten

Gerade Teamsportarten sind für schwächere Kinder eine Qual. Badan rät, in solchen Fällen die Spielregeln anzupassen, damit jedes Kind beispielsweise einmal Ballkontakt beim Fussball- oder Basketballspiel hat. Bei anderen Übungen könne man die Herausforderung ebenfalls anpassen. «Die Aufgabe muss aber schwierig genug bleiben, damit sich das Gefühl einstellt, etwas erreicht zu haben.»

«Die Aufgabe muss aber schwierig genug bleiben, damit sich das Gefühl einstellt, etwas erreicht zu haben.»

Neben einer grossen Vielfalt an Sportarten gibt es auch neue, didaktische und technische Möglichkeiten. Badan sieht Potenzial in interaktiven Mitteln wie Smartwatches, die Pulsfrequenz und Bewegungsfortschritt messen. Besonders hilfreich im Unterricht seien auch Videos. Damit könne man Schülerinnen und Schülern visuell aufzeigen, wie sie zum Beispiel ihre Technik im Hochsprung verbessern können. Mit diesen neuen Tools hat Badan gute Erfahrungen gemacht. «Sie lernen schneller, wenn sie sich selbst sehen.»

Gute Noten für die Schule, aber …

Die Frage, ob ich beim Hochsprung dank Videoaufzeichnungen mehr als 90 Zentimeter geschafft hätte, wird unbeantwortet bleiben müssen. An dieser Stelle muss ich fairerweise sagen, dass neuere Umfragen Badans Optimismus bestätigen. Der Sportunterricht hat sich zur Zufriedenheit der Beteiligten entwickelt. Eine Erhebung des Berichts «Sport Schweiz 2020 – Kinder- und Jugendsport» ergab, dass Schülerinnen und Schüler den obligatorischen Sportunterricht mehrheitlich positiv empfinden. Er erhielt von den Kindern und Jugendlichen im Durchschnitt eine gute Fünf. Nur drei Prozent der Befragten vergaben eine ungenügende Note.

Der Sportbericht zeigt jedoch auch, dass in Sachen Sportlichkeit immer noch Geschlechterunterschiede bestehen. Verglichen mit früheren Erhebungen treiben Mädchen und junge Frauen zwar mehr Sport, aber nie so viel wie die Knaben und jungen Männer im gleichen Alter. So verbringen bei den 10- bis 14-Jährigen nur 22 Prozent der Mädchen über zehn Stunden pro Woche mit Sport. Bei den Jungs sind es 31 Prozent.

Als noch Kanonenkugeln flogen

Dieser Befund zum Geschlechterunterschied aus dem Sportbericht bezieht sich auf den ausserschulischen Sport. Interessant in diesem Zusammenhang ist: Der Sportunterricht wurde ursprünglich für Knaben entwickelt. «Das Ziel war, sie zu starken Soldaten zu formen», erzählt Badan.

«Klassisch männliche Attribute wie Risiko, Durchsetzungskraft und Führung lassen sich im Sport gut ausleben.»

Das Unterrichtskonzept allein kann den Geschlechtsunterschied jedoch nicht beheben. Dazu muss Sportpsychologe Rauch etwas ausholen: Stereotype hielten sich hartnäckig. «Klassisch männliche Attribute wie Risiko, Durchsetzungskraft und Führung lassen sich im Sport gut ausleben», sagt er. Da brauche es nach wie vor ein Umdenken, denn: «Mädchen können genauso kompetitiv sein. Wenn sie das früh genug lernen und Freude daran haben, scheuen sie später den Wettkampf nicht.»

Der Wettkampfdampfer ist in meinem Fall abgefahren. Ich weine ihm jedoch keine Träne nach. Das sportliche Kräftemessen überlasse ich den Talenten und Ambitionierten. Rückblickend bin ich sogar etwas stolz darauf, im Orientierungslauf nicht nur die Letzte, sondern die Letzte der Disqualifizierten gewesen zu sein, denn meinem Bewegungsdrang tat es glücklicherweise keinen Abbruch. Es hätte mir und meiner Gesundheit allerdings nicht geschadet, wenn ich nicht erst als Erwachsene in Pilatesstunden gelernt hätte, besser auf meine Haltung zu achten.

Autor
Patricia Dickson

Datum

03.03.2023

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