Multiprofessionelle Teams

So ändert sich die Rolle von Klassenlehrpersonen

Lehrerinnen und Lehrer stehen immer noch oft allein vor der Klasse. Sie sind aber nicht mehr auf sich allein gestellt, sondern zunehmend Teil multiprofessioneller Teams. Das verändert die Rolle der Klassenlehrpersonen.

Mehrere Leute sitzen in einem Kreis auf Stühlen. Eine Person spricht.
Lehrerinnen und Lehrer arbeiten im Schulalltag vermehrt in multiprofessionellen Teams. Foto: iStock/Nikada

Die Vielfalt in den Klassenzimmern ist eine Realität, die sich nicht wegdiskutieren lässt. Als Reaktion darauf wird das Führen, Fördern und Verstehen einer Klasse immer mehr zur Teamarbeit. Weil dazu unterschiedliches Fachwissen gehört, sind es multiprofessionelle Teams. Die Bandbreite reicht von der Fach- zur Heilpädagogik, über die Sozialarbeit bis hin zur Klassenassistenz.

Coachen, führen und vermitteln

Zusammenhalten muss dieses Team die Klassenlehrperson – sie ist der Dreh- und Angelpunkt der Klasse und die erste Anlaufstelle für Eltern. Die Einzelkämpferin von früher ist heute eine Teamleiterin, die nicht mehr nur unterrichtet, sondern vermehrt coacht, führt und vermittelt.

«Alleine geht es schlicht nicht mehr.»

Noch mehr Arbeit also für überlastete Klassenlehrpersonen? Ja und nein. Zwar nimmt der Koordinationsaufwand zu. Aber es gibt auch Vorteile: Damit liessen sich die Arbeitszufriedenheit und die Selbstwirksamkeit erhöhen, sagt Alexandra Pauli von der Pädagogischen Hochschule der Fachhochschule Nordwestschweiz. Dies, indem Kompetenzen und Ressourcen in den Teams optimal genutzt werden.

Zusammenarbeit ist an heutigen Schulen eine Notwendigkeit. «Alleine geht es schlicht nicht mehr», sagt Pauli. Sie sieht darin eine Chance. «Im Idealfall ist diese Arbeitsteilung keine Zusatzbelastung, sondern gewinnbringend und verschafft der Lehrperson mehr Luft.»

Heterogenität braucht neue Strukturen

Pauli relativiert zudem das Bild der früheren Einzelkämpferinnen und Einzelkämpfer im Klassenzimmer. Das Verständnis für Zusammenarbeit über die Klasse hinaus sei nicht neu. Neu hingegen sei die grössere Heterogenität an den Schulen. «Die Schulleitungen sind nun gefordert, neue Strukturen zu finden, um den heutigen Ansprüchen an Teilhabe und Integration gerecht zu werden», sagt sie.

Die Voraussetzungen an Schulen für multiprofessionelle Teams sind gut.

Nur mit einer gemeinsam getragenen Verantwortung lasse sich der aktuelle Bildungsauftrag erfüllen. Multiprofessionelle Teams böten ein Modell, um Rollen, Verantwortlichkeiten, Aufgaben, Ziele und Haltung in einer verbindlichen Zusammenarbeit zu definieren. «So erreicht man die nötige Verlässlichkeit und Flexibilität», sagt Pauli. Wie das in der Praxis konkret aussehe, müsse eine Schule im Rahmen eines Entwicklungsprozesses herausfinden. «Das ist Teil der Schulentwicklung und braucht Zeit.»

Davon kann die Wirtschaft lernen

Die Voraussetzungen an Schulen für multiprofessionelle Teams sind gut. Das betont auch Niels Anderegg von der Pädagogischen Hochschule Zürich. Er leitet das Zentrum Management und Leadership. Eigentlich hätten gute Schulen schon immer mit agilen Teams und clever genutzten Kompetenzen funktioniert, sagt er. «Da hat die Schule mehr Erfahrung als die Wirtschaft», ist Anderegg überzeugt. Die Wirtschaft kann also gewissermassen von der Schule lernen.

Auf guten Noten kann sich die Schule jedoch nicht ausruhen. Das Teamdenken an Schulen müsse weiter professionalisieret werden, sagt Anderegg. Er empfiehlt: «Die Kultur, dass verschiedene Leute mit unterschiedlichen Verantwortlichkeiten zusammenarbeiten, müssen wir noch stärker pflegen.»

«Die Kultur, dass verschiedene Leute mit unterschiedlichen Verantwortlichkeiten zusammenarbeiten, müssen wir noch stärker pflegen.»

Wichtig wird diese Kultur beispielsweise an Schulen, die sich in Richtung Tagesschulen mit Betreuungsangeboten entwickeln. Für Lehrpersonen führt dies zu einem Rollenwechsel: «Sie übernehmen mehr Führung, leiten Teams und lassen sich gleichzeitig von Kolleginnen und Kollegen führen.» Aber nicht nur die Klassenlehrperson, sondern auch das Nadelöhr Schulleitung muss gemäss Anderegg entlastet werden: weg von einer hierarchischen Führung hin zu einer agileren Organisation, in der einzelne Fachpersonen eine Führungsrolle wahrnehmen können.

Zufriedener dank Spezialisierung

Individuelle Talente gewinnen im Team an Bedeutung. «Lehrpersonen und andere Mitarbeitende von Schulen haben unterschiedliche Stärken. Multiprofessionelle Teams erlauben uns, diese Ressourcen an Schulen besser zu nutzen», ist Anderegg überzeugt. Jemand sei vielleicht digital affiner, jemand anderes dafür spezialisiert auf Begabungsförderung oder Projektunterricht. So könnten Lehrpersonen im Bereich ihrer Stärken mehr Verantwortung übernehmen.

Lehrerinnen und Lehrer müssen umdenken.

Anderegg sieht in der Spezialisierung noch einen weiteren Vorteil. Ähnlich wie Alexandra Pauli geht er davon aus, dass sie zu einer höheren Zufriedenheit führt.

Teams brauchen Ressourcen

Doch scheitert das letztlich nicht an den fehlenden Fachkräften, wie heute schon beklagt wird – etwa im Bereich der Heilpädagogik? Es brauche zunächst eine Investition, um das Modell zu etablieren, gibt Anderegg zu. Aber: «Das Gelingen von multiprofessionellen Teams hängt auch davon ab, ob es gelingt, die vorhandenen Ressourcen gezielter einzusetzen.»

Für die Arbeit in multiprofessionellen Teams müssen die Lehrerinnen und Lehrer umdenken. «In den Köpfen sind noch zu viele Lehrpersonen Einzelkämpfer, die das Gefühl haben, alles selbst meistern zu müssen», sagt Anderegg.

Der Gegenwart gerecht werden

Doch die Zeiten des Einzelkampfs sind vorbei. Das glaubt auch Dagmar Rösler, Zentralpräsidentin des Dachverbands Lehrerinnen und Lehrer Schweiz (LCH): «Als Einzelkämpferin ist es gar nicht möglich, den Herausforderungen der heutigen Schule gerecht zu werden.» Sie ist selbst seit über 30 Jahren Lehrerin und weiss, dass sich Lehrpersonen schon immer im Team ausgetauscht und gegenseitig geholfen haben.

«Als Einzelkämpferin ist es gar nicht möglich, den Herausforderungen der heutigen Schule gerecht zu werden.»

Früher geschah der Austausch eher informell – heute vermehrt multiprofessionell. Der Austausch muss sich nun weiterentwickeln. «Je mehr Leute für eine Klasse zuständig sind, desto strukturierter und organisierter muss die Zusammenarbeit sein», sagt sie. Lehrpersonen seien schon immer Führungspersonen gewesen. Diese Rolle werde nun noch wichtiger: «Die Klassenlehrerin ist zur Teamleiterin geworden.»

Eine Rolle, viel Verantwortung

Damit wird klar: Der Erfolg multiprofessioneller Teams steht und fällt mit den Klassenlehrpersonen. Es gehe nun auch darum, deren Position zu stärken, sagt Rösler, um gleich nachzuschieben: «Es ist heute je länger, desto schwieriger, Klassenlehrpersonen zu finden.» Sie stehen im Zentrum, tragen viel Verantwortung. Das bedeutet auch Belastung: «Letztlich hängt vieles an einer Person – beispielsweise Übertritte, Elternarbeit oder der Einbezug der Fachpersonen.»

Die Verantwortung der Klassenlehrperson müsse sich eigentlich auch deutlicher in ihrem Lohn widerspiegeln, sagt darum die LCH-Präsidentin. Und noch wichtiger sei, dass die vielen Aufgaben besser im Pensum berücksichtigt werden. In verschiedenen Kantonen wurden unterdessen entsprechende Forderungen gestellt. Mancherorts sind politische Vorstösse unterwegs oder es werden bereits Massnahmen zur Entlastung eingeleitet (siehe Box). Für Rösler führt in Zukunft jedenfalls kein Weg daran vorbei, dass zwei Lehrpersonen für eine Klasse zuständig sind – eine allein könne das nicht mehr stemmen.

Einige Kantone handeln

Ab August 2024 erhalten Klassenlehrpersonen im Kanton Bern eine Funktionszulage von 300 Franken pro Monat und eine Entlastung in der Höhe von fünf Prozent der Arbeitszeit für ihre Koordinationsaufgaben. In Zürich ist im Rahmen der Revision des Berufsauftrags eine kleine Entlastung vorgesehen. Dem Zürcher Lehrerinnen- und Lehrerverband geht sie allerdings viel zu wenig weit. In Schwyz und Graubünden wurden längst Petitionen weiterer Kantonalsektionen des LCH der Regierung überreicht. Darin sind ebenfalls Forderungen zur Entlastung der Klassenlehrpersonen enthalten. Dasselbe gilt für eine Petition in Obwalden oder eine Volksinitiative zur Sicherung der Bildungsqualität im Aargau. In Solothurn erhalten Klassenlehrpersonen seit 2014 eine Lektion Funktionsentlastung, bald soll eine zweite folgen. Die Zusammenstellung der Massnahmen ist nicht vollständig. (ca)

Weiter im Netz:

Aktionsplan «Bildungsqualität sichern» des LCH:

bildungsqualitaet-sichern.ch/de/

Autor
Jonas Wydler

Datum

30.04.2024

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