Berufsbildung

Seelische Not in der Lehre

Jugendliche in der Berufslehre stehen mit einem Bein in der Kindheit, mit dem anderen in der Erwachsenenwelt. Dieser Spagat erhöht das Risiko für psychische Probleme. Was Ausbildungsbetriebe tun können.

Ein Jugendlicher im Hoody legt seinen Kopf auf das Schulpult.
Ausklinken, abschalten, zumachen – die Arbeitswelt der Erwachsenen kann Jugendliche überfordern. Foto: Marcel Hegetschweiler

Jonas macht eine Lehre in einem Bauunternehmen. Meist ist er auf Baustellen unterwegs und nicht im Lehrbetrieb. Dort arbeitet er in einem stressigen Umfeld, es herrscht ein rauer Umgangston. Jonas fühlt sich allein gelassen und hat zunehmend Angst vor seinem Alltag auf der Baustelle. Im Betrieb herrscht wenig Offenheit für persönliche Probleme von Lernenden. Auch zu Hause hören ihm die Eltern selten zu, wenn er über seine Sorgen sprechen will. Wenn er heimkommt, ist er für gewöhnlich alleine. Dann gamt und kifft er – oft bis spät in die Nacht. Irgendwann kommt er in der Berufsschule nicht mehr mit und beginnt zu fehlen. Seinem Lehrmeister fällt dies zunächst gar nicht auf.

Dann fallen im Ausbildungsbetrieb mehrere Mitarbeitende aus. Jonas muss noch mehr Verantwortung übernehmen. An einem Morgen kann er nicht mehr aufstehen, weil er eine Panikattacke erleidet. Er hat keine Ahnung, was mit ihm los ist. Der Hausarzt diagnostiziert eine Angststörung und verordnet ihm eine Therapie. Sein Lehrmeister, die Berufsschullehrpersonen und seine Eltern fallen aus allen Wolken.

Erhöhte Anfälligkeit für Krisen

Der soeben beschriebene fiktive Fall von Jonas zeigt gut auf, warum für Jugendliche in einer Berufslehre vertrauensvolle Begleitungen so wichtig sind. Zwar geniessen sie rasch die neue Selbstständigkeit, aber die Arbeits- und Erwachsenenwelt kann junge Menschen ebenso schnell überfordern. «Der grosse Schritt in die Lehre geschieht zeitgleich mit der Übergangszeit vom Jugend- ins unabhängige Erwachsenenalter», sagt Katina Anastasiou, Psychologin beim Zentrum Arbeit und psychische Gesundheit WorkMed. «Während dieser Zeit ist die Anfälligkeit für Krisen und psychische Probleme erhöht.» Umso wichtiger sei es dann, dass die Jugendlichen Ansprechpersonen hätten, denen sie vertrauten. Solchen Personen würde ein verändertes Verhalten wie Absenzen in der Berufsschule oder Niedergeschlagenheit auffallen, das sie dann ansprechen sollten.

In den vergangenen zwei Jahren sind zwei Untersuchungen zum Thema psychische Herausforderungen bei Lernenden in der Schweiz erschienen. Beide sind zu einem ähnlichen Resultat gekommen: Rund ein Fünftel der Jugendlichen hat mit einer psychischen Störung zu kämpfen oder es liegt eine psychische Auffälligkeit vor. Laut Anastasiou gibt es auch Hinweise darauf, dass sich in letzter Zeit mehr Jugendliche mit psychischen Belastungen Unterstützung suchen. So warte man aktuell Wochen bis Monate auf einen Termin in einem kinder- oder jugendpsychiatrischen Dienst.

Druck bringt nichts

Anna Bolliger hat tagtäglich mit psychisch belasteten Jugendlichen zu tun. Sie arbeitet bei plan.b, einem Beratungsangebot der Wirtschaft- und Kaderschule KV Bildung Bern. Für sie ist zentral, dass belastete Jugendliche Zugang zu einem Ort haben, wo sie ohne Angst vor Konsequenzen oder negativer Beurteilung ihre Probleme ansprechen könnten. Dies müsse aber freiwillig geschehen. Druck bringe meist nichts.

«Einige betroffene Menschen verbergen die eigene Befindlichkeit gut und lange.»

Zum eingangs geschilderten Fall sagt Bolliger: «Solche Erfahrungen könnten auch aus meinem Berufsalltag stammen: Einige betroffene Menschen verbergen die eigene Befindlichkeit gut und lange, auch vor sehr nahestehenden Personen.» Vielleicht hätte es bei Jonas gar nicht viel mehr als ein rechtzeitiges Nachfragen gebraucht, ein «Hey, mir fällt auf, dass du nicht in der Schule warst. Möchtest du etwas dazu sagen?», so Bolliger. Es sei wichtig, dass man den jungen Menschen vermittle, dass man sie sehe und ernst nehme. Sie müssten spüren, dass sie wichtig seien und dass es einen Ausweg aus ihren Schwierigkeiten gebe.

Nach Gründen für psychische Probleme suchen

Genau mit solchem gezielten Nachfragen gehen die Praxisbetreuerinnen und -betreuer der Berufsbildung bei der Schindler Aufzüge AG auf ihre Lernenden zu, wenn sie feststellen, dass etwas nicht in Ordnung ist. Etwa wenn die Leistungen abfallen, jemand häufig zu spät komme oder gegen Regeln verstosse. «Meistens suchen Praxisbetreuende als erste das Gespräch mit dem Lernenden und fragen nach möglichen Gründen», sagt Bruno Wicki, Leiter Schindler Berufsbildung. Oft würden sich die Lernenden zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht öffnen und schnell Besserung versprechen.

Verbessert sich die Situation nicht, wird laut Wicki meist ein zweites Gespräch vereinbart. Dann sitzen neben der Praxisbetreuerin oder dem -betreuer auch jemand aus der Personalabteilung und die Eltern am Tisch. «Im zweiten Gespräch sieht man dann für gewöhnlich die Ursachen hinter den Auffälligkeiten etwas klarer», so Wicki. «Wie bereits im ersten Gespräch werden dann wieder Massnahmen und neue Zielvereinbarungen getroffen.» Diese reichen bei Schindler von Lernunterstützung bei Schulproblemen über Hilfestellungen durch Praxisbetreuende auf der Baustelle bis hin zu persönlichen Beratungen durch das Gesundheitsmanagement oder auch durch externe Coaches.

«Unterstützung muss vom Betroffenen angenommen werden, sonst hilft alles nichts.»

Wird auch nach einem dritten Gespräch keine Besserung erreicht, kommt es laut Wicki in der Regel zu einem Lehrabbruch. Eine Weiterführung des Lehrverhältnisses sei dann nicht mehr zumutbar. «Das sind harte Entscheidungen», so Wicki, «aber bei einem Lehrbetrieb muss die Balance zwischen der Unterstützung, die wir anbieten, und der Leistung, die vom Lernenden erbracht wird, dennoch einigermassen stimmen. Unterstützung muss vom Betroffenen angenommen werden, sonst hilft alles nichts.»

Schulung für Berufsbildende

Die Bandbereite an psychischen Problemen, mit denen Lernende konfrontiert sein können, ist lang und unterschiedlich: Sie reichen von Prüfungsängsten und Leistungs- und Motivationsproblemen über Streit und Konflikte bis hin zu depressiven Verstimmungen, Suchtproblematiken oder Essstörungen. Dementsprechend anspruchsvoll kann sich die Begleitung von Jugendlichen in der Lehre für die involvierten erwachsenen Personen gestalten. «Berufsbildende sowie Praxisbetreuerinnen und -betreuer sollten selbst eine Schulung im Umgang mit Jugendlichen erhalten, damit sie Verhaltensänderungen wahrnehmen und einordnen können», rät Bruno Wicki von Schindler.

Das sieht auch Katina Anastasiou von WorkMed so: «Es ist wichtig, dass Berufsbildnerinnen und -bildner zum Thema psychische Gesundheit bei Lernenden sensibilisiert werden und dass sie ihre Kompetenzen erweitern können. Dies fördert ihre Sicherheit im Ansprechen der Problematiken.» Gleichzeitig seien aber auch gut zugängliche und spezifische Hilfsangebote nötig. Dies, um Berufsbildende zu entlasten und um zu vermeiden, dass professionelle Unterstützung zu spät beigezogen wird.

Zusammenarbeit mit dem Umfeld ist wichtig

Weil die Berufsbildung an verschiedenen Orten stattfindet, ist auch der Austausch über die drei Lernorte Ausbildungsbetrieb, überbetriebliche Kurse und Berufsschule wichtig. Anastasiou sieht hier Handlungsbedarf: «Der Informationsfluss und die Kooperation aller involvierten Parteien – Lernende, Berufsbildende, Eltern und Fachpersonen – muss bei psychisch belasteteten Jugendlichen verstärkt werden.»

Bei Jonas, dem fiktiven Jugendlichen mit Problemen auf der Baustelle, sieht die Psychologin übrigens gute Chancen für eine Lösung. Sie könnte sich vorstellen, dass eine geeignete Therapie sowie ein angepasstes Lernsetting für Jonas eine Weiterführung des Lehrverhältnisses ermöglichen würden. Kämen bei Jonas hingegen aber Regelverstösse, grosse Stimmungsschwankungen und Teamkonflikte hinzu, dann könnte dies eine Problemlösung stark erschweren – und im schlimmsten Fall mit einem Lehrabbruch enden.

 

Autor
Marcel Hegetschweiler

Datum

19.01.2024

Publikation
BILDUNG SCHWEIZ

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