ABSENTISMUS
Schwänzen kann ein Notsignal sein
Die Fälle von Schulabsentismus nehmen zu. Vor allem Mädchen fehlen häufiger in der Schule. Zwei Schulpsychologinnen schlagen Alarm und betonen, wie wichtig frühes Eingreifen sei.

Schülerinnen und Schüler schwänzen den Unterricht, seit es Schulen gibt. Aber der Fokus liegt heute oft nicht mehr auf Schwänzen, sondern auf Schulabsentismus. Dieses Phänomen geht weit darüber hinaus, dass Kinder und Jugendliche keine Lust auf Schule haben: Sie schaffen es schlicht nicht in den Unterricht. Die Gründe für das chronische Fernbleiben sind psychische Leiden, Ängste oder Depressionen. Die Fälle nehmen zu, schulpsychologische Dienste schlagen Alarm, Lehrpersonen sind überfordert.
Das Problem blieb lange unter dem Radar der Öffentlichkeit, aber das hat sich geändert. Eine Umfrage der «NZZ am Sonntag» vor einigen Monaten zeigte: Von 17 Kantonen melden 14 einen gefühlten Anstieg der Fälle. Mehrere Kantone haben inzwischen reagiert – mit Massnahmen, Weiterbildungen und Merkblättern zum Thema.
«Schulen, Lehrpersonen und Schulleitungen sind stark in der Pflicht.»
Auch die Schulpsychologin Irène Arrigoni beobachtet eine starke Zunahme von Schulabsentismus in den letzten Jahren. Im Bezirk Affoltern (ZH) leitet sie die Arbeitsgruppe Schulabsentismus. Das Thema müsse man ernst nehmen, sagt die Schulpsychologin. «Das Fernbleiben von der Schule kann gravierende Folgen für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen haben.» Dazu gehörten ein fehlender Schulabschluss, eingeschränkte Lebensperspektiven oder eine erhöhte Gefahr psychischer oder psychosomatischer Störungen.
Mehr Fälle, wenig Zahlen
Bisher gibt es keine landesweiten Zahlen zum Phänomen. Regionale Bestandesaufnahmen sind jedoch deutlich: «Die Fälle nehmen zu. Dies zeigt unsere Statistik der Fallzahlen in der Kriseninterventionsgruppe», sagt Elsbeth Freitag, Vizedirektorin des schulpsychologischen Dienstes des Kantons St. Gallen.
Die Kriseninterventionsgruppe wird von Schulen in schwerwiegenden Fällen zur Unterstützung beigezogen. Deren Einsätze in Bezug auf Schulabsentismus haben sich laut Freitag in den vergangenen Jahren vervielfacht. Sie befasst sich seit über zwölf Jahren mit dem Thema. Sie sagt klar: «Wir müssen Schulabsentismus früh erkennen, früh intervenieren und handeln. Hier sind Schulen, Lehrpersonen und Schulleitungen stark in der Pflicht.»
Zunahme bei Mädchen
Auch die Pisastudie 2022 bestätigt den Trend – allerdings nur, was das Schwänzen anbelangt: 10 Prozent der Schülerinnen und Schüler gaben darin an, dass sie in den zwei Wochen vor dem Test mindestens einen Tag gefehlt hätten. Das ist eine Verdopplung gegenüber 2015. Ein Ende 2023 veröffentlichter Bericht zur Gesundheit von Schülerinnen und Schülern in der Stadt Zürich ergab: 20 Prozent der Mädchen haben mindestens einmal eine Stunde geschwänzt. Bei den Knaben sind es 17 Prozent. Mindestens einen ganzen Tag geschwänzt haben 15 Prozent der Mädchen und 12 Prozent der Knaben. Der Schule schon mehrmals tageweise ferngeblieben sind 7 Prozent der Mädchen und 5 Prozent der Knaben.

Schulabsentismus
Fachleute unterscheiden drei verschiedene Formen von Schulabsentismus: Schulangst beschreibt die Angst davor, dass in der Schule oder auf dem Weg etwas passiert – etwa Mobbing oder Gewalt. Dazu gehört auch die Angst davor, dem Leistungsdruck nicht standhalten zu können. Die Schulphobie oder Trennungsangst bezieht sich auf die Angst, dass nahen Bezugspersonen – Eltern, Grosseltern, Haustieren – etwas passiert, während die Kinder in der Schule sitzen. Dieses Gefühl von Kontrollverlust macht den Schulbesuch schwierig. Um Schulverweigerung oder Schwänzen handelt es sich, wenn Kinder oder Jugendliche das Gefühl haben, sie hätten Besseres zu tun, als zur Schule zu gehen.
Für den Zürcher Bericht wurden rund 2000 Jugendliche der zweiten Sekundarklasse befragt. Gegenüber dem Schuljahr 2017/18 hat sich der Anteil des mehrfachen Schwänzens von Unterrichtsstunden bei den Mädchen verdoppelt. Bei den Knaben hingegen sind die Anteile stabil geblieben. Als häufigste Gründe für das Fehlen wurden Unlust, Langeweile, Verschlafen und Angst vor Prüfung angegeben. «Was auf den ersten Blick wie ein Schwänzen erscheint, zeigt sich bei genauerem Hinschauen oft als innere Not, die nicht direkt wahrgenommen oder gezeigt wird», sagt Arrigoni. Häufig würden Ängste, eine depressive Symptomatik oder andere psychische Störungen zugrunde liegen. Gerade Mädchen hätten in der Gesundheitsbefragung auf einen bedenklichen Anstieg von Angststörungen und Depressionen hingewiesen.
Zu viele Anforderungen auf einmal
Der Schulalltag bestätigt die Berichte. Freitag beobachtet in ihrer praktischen Arbeit auf der Oberstufe zunehmend Mädchen mit angstbedingtem Schulabsentismus – sei dies aus Angst vor Ausgrenzung, vor negativer Bewertung oder vor schulischem Versagen: «Immer wieder beobachten wir eine Überlastung durch die Vielzahl von Anforderungen in der Oberstufe», sagt die Schulpsychologin. Wenn dann zum Beispiel noch eine körperliche oder psychische Erkrankung eines Elternteils oder ein Schicksalsschlag in der Familie hinzukomme, könne dies zu einer gänzlichen Überforderung führen.
Nicht zuletzt sieht Freitag die Coronapandemie als einschneidendes Ereignis in Bezug auf Absentismus: «Das war ein Wendepunkt in der Schulpflicht. Plötzlich musste es ohne physische Anwesenheit in der Schule irgendwie gehen.» Auch Arrigoni sieht einen Katalysator in der Pandemie: «Das Verbleiben in den eigenen vier Wänden wurde zur Normalität. Der Schritt zurück in den Schulalltag stellte dann für einige Schülerinnen und Schüler eine zu grosse Hürde dar.»
Mehr Fälle für Psychiatrie
Der Schulabsentismus beschäftigt zunehmend auch Ambulatorien für Kinder- und Jugendpsychiatrie oder Schul- und Ausbildungsprobleme. «Die Fälle nehmen auf jeden Fall zu», bestätigt Oliver Bilke-Hentsch. Er ist Chefarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Luzerner Psychiatrie. Schulabsentismus sei kein medizinischer Begriff, betont er. Er beschreibe die Folgen von seelischen Problemen (siehe Box). Dabei gelte es zu unterscheiden, welche Probleme schulbezogen seien und bei welchen die Ursachen woanders liegen.
«Kinder und Jugendliche fragen sich, ob sich ein Schulbesuch lohnt.»
Eine Ursache der zunehmenden psychischen Probleme bei Jugendlichen sieht Bilke-Hentsch in der sogenannten Polykrise. Es bestehe eine Gleichzeitigkeit von bedeutenden Krisen auf der Welt. Etwa die Klimakrise, die herrschenden Kriege oder die Bedrohung der Arbeit durch künstliche Intelligenz. «Dies führt bei vielen Jugendlichen zur Sinnfrage. Es herrscht eine gesellschaftliche Verunsicherung und gerade Kinder und Jugendliche fragen sich, ob sich ein Schulbesuch lohnt», sagt er.
Allein nicht lösbar
Auf Dauer verstärken sich die Probleme, wie Bilke-Hensch ausführt: «Je länger Kinder schulabsent sind, desto mehr entfernen sie sich vom Alltagsrhythmus – und desto schwieriger wird es, wieder Anschluss zu finden.» Was ist also die Lösung? Den steigenden Fällen von Schulabsentismus könne man nur begegnen, wenn Gesundheits- und Bildungsbehörden an einem Strang ziehen. Dafür müssten das seelische und schulische Heil Hand in Hand gehen, sagt Bilke-Hentsch. «Wenn jemand seine Depression überwindet, bedeute das noch nicht, dass in der Schule alles wieder gut ist – oder umgekehrt.»
Nach drei nicht zusammenhängenden Absenzen innerhalb von sechs Wochen sollte das Gespräch gesucht werden.
Elsbeth Freitag sieht ausserdem grossen Handlungsbedarf in der Früherkennung – gerade bei angstbedingtem Fehlen oder dem Verdacht auf psychische Probleme beim Kind oder in der Familie. Sie empfiehlt eine Faustregel: Nach drei nicht zusammenhängenden Absenzen innerhalb von sechs Wochen sollte das Gespräch mit der Schülerin oder dem Schüler und den Eltern gesucht werden. «Niemand kann und soll Schulabsentismus allein lösen, es ist immer ein Zusammenspiel von verschiedenen Akteuren», betont sie. Schnelles Handeln sei wichtig. Wenn Lehrperson, Schulleitung oder schulische Sozialarbeit nicht mehr weiterkommen, solle rasch die Schulpsychologie beigezogen werden – und wenn nötig der Kinder- und Jugendpsychiatrische Dienst. Dabei würden zwar viele fachliche und zeitliche Ressourcen benötigt, die zeitnah zur Verfügung stehen müssten. Das sei jedoch nötig: «Damit nicht immer mehr Kinder irgendwann einem stationären Aufenthalt zugewiesen werden müssen.»
Autor
Jonas Wydler
Datum
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