Bildungsökonom im Interview

«Reichere Familien haben eine freie Schulwahl, ärmere nicht»

Wenn Stefan Wolter Schlüsse aus Statistiken zur hiesigen Bildungslandschaft zieht, sorgt dies oft für Aufregung. Im Interview erklärt er sein Rezept gegen den Lehrpersonenmangel und warum er die fixe Schulzuweisung aufweichen würde.

Stefan Wolter führt ein Gespräch mit zwei Journalisten.
Stefan Wolter arbeitete bereits am ersten nationalen Bildungsbericht von 2006. Fotos: Eleni Kougionis

BILDUNG SCHWEIZ: Was hat sich in den rund 20 Jahren verändert, in denen Sie das Bildungsmonitoring verantworten?

STEFAN WOLTER: Als wir 2006 den ersten Bildungsbericht geschrieben haben, waren weder die Bologna-Reform, die interkantonale Harmonisierung der Volksschule Harmos noch die sprachregionalen Lehrpläne umgesetzt. Nebst diesen strukturellen Veränderungen profitieren wir im Monitoring zunehmend von der kumulativen Erfahrung. Mittlerweile können wir Individuen statistisch vom Eintritt des Kindergartens bis beispielsweise zum Austritt aus der obligatorischen Schule verfolgen.

Die Bildungsausgaben steigen. Ist auch die Schulbildung besser geworden?

Darauf gibt es keine einfache Antwort, wie folgendes Beispiel zeigen mag: Wenn Gehälter von Lehrpersonen steigen, kommen die Schülerinnen und Schüler nicht in den Genuss von mehr Lektionen. Man könnte also sagen: Es wurde Geld verschwendet, da ja die Produktivität sinkt. So einfach ist es aber eben nicht. Wenn in anderen Bereichen die Löhne steigen, braucht es eben auch für das Lehrpersonal Anpassungen, sonst wandern sie ab. Unterlässt man dies, würden vielleicht die Kosten stabil bleiben, aber die Qualität nähme ab.

Das Bildungssystem wird teurer, damit es gleich gut bleibt?

Das legen die Resultate der Pisa-Vergleichstests nahe. Offen ist, ob es überhaupt einen anderen Weg gibt. Auch das ist nicht so einfach zu beantworten. Zumal weitere Massnahmen im Raum stehen, die Mehrkosten generieren, etwa kleinere Klassen, mehr Halbklassenunterricht, Klassenassistenzen. Hier stellt sich schon die Frage, wie viel besser oder vielleicht zumindest gleicher die Leistungen dank dieser Investitionen würden.

Die Schweiz tritt also weiterhin an Ort?

Der internationale Pisa-Vergleich zeigt, dass es Länder mit besseren Leistungsniveaus gibt. Wir sollten uns also nicht einfach zufriedengeben. Unsere Ambition muss sein, mit dem guten und vielen Geld, das wir haben, besser zu werden.

Wichtig dazu wären gute Lehrpersonen. Doch dort herrscht ein Mangel.

Tatsächlich wiesen wir in früheren Bildungsberichten auf diese Entwicklung hin. Weil diese nicht abrupt ist, erzeugt sie zu wenig Druck in der Gesellschaft, um etwas dagegen zu unternehmen. «Lehrpersonenmangel gibt es nicht. Nach den Sommerferien steht immer jemand vor der Klasse», sagte einmal ein Präsident der Konferenz der Erziehungsdirektorinnen und Erziehungsdirektoren (EDK). Er meinte damit: Dann sind halt einfach die Klassen grösser. Das führt dazu, dass das Problem nicht so schlimm erscheint.

«Fehlt eine Fachperson zur Bedienung einer Maschine, steht die Maschine still.»

Die Behauptung, es gibt keinen Lehrpersonenmangel, ist provokativ.

Der EDK-Präsident wollte so erklären, weshalb nichts Substanzielles passiert. Natürlich gibt es den Lehrpersonenmangel. Es ist einfach so, dass nie eine Klasse ein Quartal ohne Betreuung bleibt. Doch Leute aus dem Studium zu holen oder zu wenig qualifizierte Personen anzustellen, hat Auswirkungen auf die Qualität. Ein Vergleich: Fehlt eine Fachperson zur Bedienung einer Maschine, steht die Maschine still. Sie können nicht einfach jemanden ohne Ausbildung hinstellen, der sie dann in zwei Minuten kaputt macht.

Also bräuchte es einen Schock, der wachrütteln würde?

Das ist aber fast unmöglich. Nehmen wir an, eine Klasse wird während längerer Zeit von einer unfähigen Person beschult. Die Auswirkungen wären eben nicht wie bei der Maschine sofort zu spüren. Sie würden erst Jahre später bemerkt, wenn die betroffenen Kinder keine Lehrstelle finden oder im Studium scheitern.

ZUR PERSON
Stefan Wolter verantwortet als Direktor der Schweizerischen Koordinationsstelle für Bildungsforschung den nationalen Bildungsbericht. Dieser wird im Auftrag von Bund und Kantonen erstellt. Die 5. Ausgabe ist im März 2023 erschienen. Wolter ist zudem Professor für Bildungsökonomie an der Universität Bern.

Wie lässt sich der aktuelle Mangel an Lehrpersonen also angehen?

Aktuell befinden wir uns in einer toxischen demografischen Situation: Viele gehen in Pension, kleine Jahrgänge kommen ins Ausbildungsalter bei gleichzeitig steigenden Zahlen an Schülerinnen und Schülern. Begleitet wird diese von einer fortschreitenden Tendenz in der Gesellschaft zur Teilzeitarbeit. Die demografische Situation wird sich zwar wieder entspannen. Um dem aktuellen Mangel zu begegnen, schlage ich aber vor, beim ausgebildeten Personal, das kleine Pensen hat, anzusetzen. Die meisten dieser Personen haben viele Jahre Berufserfahrung. Als Vater eines Kindes wäre es mir demzufolge lieber, wenn statt einer Notlösung solche Profis ihr Pensum zum Beispiel von 40 auf 60 Prozent erhöhen würden.

Zurück zum Bildungsbericht: Sie möchten mehr Leistungen messen können. Warum?

Wenn wir Gleiches mit Gleichem vergleichen, haben wir eine grössere Chance, die Ursache eines Problems zu finden. Ein Beispiel dazu: Kanton und Bund haben sich zum Ziel gesetzt, dass 95 Prozent aller 25-Jährigen mindestens einen nachobligatorischen Bildungsabschluss haben. Im Bildungsbericht 2018 zeigten wir, dass dieses Ziel bei Schweizerinnen und Schweizern praktisch erreicht ist. Bei Kindern von Zugewanderten liegt diese Rate bei rund 85 Prozent und bei Migrantinnen und Migranten bei knapp 80 Prozent. Das mussten wir damals so stehen lassen. Wir wussten nicht, was dahintersteckt. Dank Pisa-Längsschnittdaten wissen wir nun mehr: Fast die Hälfte der Differenz lässt sich durch schulische Defizite beim Schulaustritt erklären.

Und was ist nun die Erkenntnis daraus?

Schulkinder mit Migrationshintergrund müssen am Ende der Schulzeit möglichst an dasselbe Niveau herangeführt werden wie Schweizer Schulkinder.

Führen mehr Vergleichstests nicht zu einer Schubladisierung von Schulen?

Das hängt davon ab, für wen die Informationen zugänglich sind. Richtig gemacht sorgt mehr Testen für mehr Gerechtigkeit. Falsch läuft es, wenn man Daten nur einmal erhebt. Dann schneiden jene Schulen am besten ab, die sich die besten Schülerinnen und Schüler sichern konnten – unabhängig von der Qualität der Schule selbst. Könnten wir statt des aktuellen Lernstands den Lernfortschritt messen, wäre das viel aussagekräftiger. Damit könnte eine engagierte Schule in einem unprivilegierten Quartier plötzlich besser dastehen als eine in einem Akademikerviertel.

Eine Umfrage in Zürich hat ergeben, dass ein Drittel der Eltern zumindest überlegt hat, ihr Kind auf eine private Schule zu schicken. Woran liegt das?

Es gibt nur wenige Informationen zu Privatschulen, aber es gibt einen klaren Zusammenhang zwischen diesen Schulen und dem Anteil gut ausgebildeter Eltern mit Migrationshintergrund. Wenn diese Eltern für einige Jahre in die Schweiz kommen, schicken sie ihre Kinder häufig an Privatschulen mit einem internationalen Programm. Das liegt einerseits daran, dass die öffentliche Schule im Herkunftsland möglicherweise einen schlechten Ruf hat. Andererseits können die Kinder bei einem erneuten Wechsel des Landes ihre Ausbildung nahtlos weiterführen. Schliesslich bietet die Privatschule Eltern auch die Möglichkeit der freieren Schulwahl.

Warum ist das wichtig?

Ich spekuliere jetzt. Aber wenn ein Kind in einer Volksschule ein Problem hat mit der Klassenkonstellation oder einer Lehrperson, gibt es in der Schweiz kaum eine Möglichkeit, die Schule zu wechseln – sogar, wenn das Problem objektiv betrachtet nachvollziehbar ist. Eltern können oder wollen ja auch nicht in jeder beliebigen Situation umziehen, damit das Kind einer anderen Schule zugewiesen wird. Dann bleibt oft nur noch die Privatschule.

Sie sind also gegen die feste Zuweisung in eine Volksschule?

Ja. Es gibt derzeit keine Alternative für die Minderheit von Eltern, die mit der aktuellen schulischen Situation ihres Kindes objektiv oder subjektiv ein Problem haben. Obwohl es gerade in Städten oft mehrere Schulhäuser in einem Schulwegradius von 15 Minuten gibt, ist die Zuweisung eines Kindes fast immer fix. Das kostet Lehrpersonen wie auch Eltern Nerven und je nachdem Geld.

«Ich glaube nicht, dass die Qualität der Volksschulen das Problem ist.»

Aber Sie sind nicht für eine ganz freie Schulwahl?

Richtig. Es würde reichen, wenn Betroffene innerhalb der Gemeinde ein anderes Schulhaus wählen könnten. Meine Hypothese ist, dass damit bei sehr vielen Eltern die Option Privatschule vom Tisch wäre. Ich glaube nämlich nicht, dass die Qualität der Volksschulen das Problem ist.

Führt eine freiere Wahl nicht zur Entmischung innerhalb der Schulen?

Wenn man es richtig macht, ist das Gegenteil der Fall. Wir haben in der Schweiz eine nahezu perfekte sozioökonomische und demografische Segregation. Für manche Menschen ist das Leben in bestimmten Gemeinden schlicht zu teuer. Ausserdem zeigt sich an Beispielen im Ausland, dass es vor allem gut ausgebildete Eltern mit neu erworbenem Wohneigentum sind, welche die freie Schulwahl mit Händen und Füssen bekämpfen. Sie haben ihr Wohneigentum bewusst in einer bestimmten Strasse gekauft, damit ihr Kind an eine bestimmte Schule gehen kann, die «sicher» vor Armen ist. So betrachtet hatten reichere Familien schon immer die freie Schulwahl, ärmere Familien hingegen gar keine.

Autor
Kevin Fischer, Christoph Aebischer

Datum

05.04.2023

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