Beurteilen oder bewerten?

Noten oder die Geschichte eines Missverständnisses

Die Schule soll Kinder fördern. Darin sind sich alle einig. Auseinander gehen die Meinungen, wenn es um die Beurteilung der Leistungen geht. Häufig geschieht dies mit Noten. Doch momentan bewegt sich in diesem Zusammenhang gerade einiges.

Ein Mädchen schaut mit gesenkten Augen auf ihr Notenblatt.
Noten können für Schulkinder demotivierend sein. Foto: iStock/Stockplanets

Es gibt ihn, den minimalen nationalen Konsens, auch für die obligatorische Schulzeit: Am Ende eines Semesters oder spätestens am Ende eines Schuljahres erhalten alle Schulkinder in der Schweiz Noten – es sei denn, sie sind erst am Anfang ihrer Schulzeit. Nachzulesen ist dies in der Auswertung zur Kantonsumfrage auf der Website der Erziehungsdirektorenkonferenz. Welchen Platz hingegen Noten während des Semesters haben, wird sehr unterschiedlich gehandhabt.

Im Widerspruch zur individuellen Förderung

Jüngst holten der Wirtschaftsverband Economiesuisse und der Arbeitgeberverband sogar zu einer Generalkritik aus. Die an Schulen praktizierte Beurteilung sei für Lehrbetriebe keine Hilfe bei der Auswahl geeigneter Lehrlinge. Zu gross seien die Unterschiede.

In der Kritik schwingt die Auffassung mit, es gebe eine Beurteilung, die Leistungen einfach und vergleichbar festhält. Im Widerspruch zu dieser Annahme sprechen sich dieselben Verbände gleichzeitig für eine individuelle Förderung aus (siehe BILDUNG SCHWEIZ 3/2024).

In der Stadt Luzern verzichten Primarschulen weitgehend auf Noten.

Tatsächlich werden Noten zur Bewertung von Tests und Leistungen immer häufiger infrage gestellt. Sie passen schlecht zur individuellen Förderung und vermitteln nur scheinbar Objektivität. Je nachdem, was Reglemente zulassen, loten Schulen oder Gemeinden darum ihren Spielraum aus: In der Stadt Luzern verzichten Primarschulen weitgehend auf Noten.

In anderen Kantonen sind es einzelne Schulen. Für Schlagzeilen sorgte kürzlich Würenlingen im Kanton Aargau, wo sich Eltern gegen die Abschaffung von Prüfungsnoten wehrten. Ihr Widerstand mündete in einem politischen Vorstoss, der nun das Kantonsparlament beschäftigen wird.

 

Pro und Kontra: Zwei Lehrer über ihren Umgang mit Noten, «Wie sinnvoll sind Noten?», bildungschweiz.ch, 16.4.24

In Zürich sind Noten nun vorgegeben

In Zürich führte die Diskussion über Noten bereits zu einem politischen Diktat: 2022 schrieb das dortige Kantonsparlament die Pflicht zur Notengebung ins Gesetz. Durchgesetzt hat das die bürgerliche Mehrheit. Weniger streng reagierte bisher der Kanton Luzern.

Im Januar fand ein Kongress zum Thema Beurteilung statt. Man sei offen, sagte dort Bildungsdirektor Armin Hartmann von der SVP: «Wir wollen ein aussagekräftiges, chancengerechtes und motivierendes Beurteilungssystem.» Auch über die Abschaffung von Noten dürfe nachgedacht werden. Was die Regierung hingegen erwartet, ist ein Ende des heutigen Durcheinanders. Die Beurteilungskonzepte der Schulen sollten sich einander annähern, fordert der Bildungsdirektor in der «Luzerner Zeitung». Die Regierung werde wohl Vorschriften dazu erlassen.

Davon sieht der Kanton Thurgau ab. «Unter dem Semester sind die Schulen frei, wie sie die Bewertung handhaben», sagt Heinrich Christ vom Amt für Volksschulen gegenüber BILDUNG SCHWEIZ. Die Schulleitungen müssten hingegen für ihre Standorte eine gemeinsame Beurteilungskultur erarbeiten. So steht’s im Beschluss, den die Kantonsregierung 2021 verabschiedet hat.

Ob die Bewertung in Worten, Zeichen oder Noten oder in einer Kombination mehrerer Instrumente geschieht, variiert also unter Umständen von Schule zu Schule. Ein umfangreiches Handbuch zur Beurteilung unterstützt die Schulen.

«Die Note ist eine Bewertung, keine Beurteilung.»

Das Dilemma mit den Noten

Für Hanni Lötscher von der Pädagogischen Hochschule Luzern (PH Luzern) liegt im Umgang mit den beiden Begriffen Bewertung und Beurteilung eine Ursache, weshalb die Diskussion zuweilen emotional wird.

«Die Note ist eine Bewertung, keine Beurteilung», stellt Lötscher im Gespräch mit der «Luzerner Zeitung» klar. Und diese Bewertung wirke oft demotivierend, wie Studien zeigten. Am Anfang der Beurteilung hingegen sieht sie die diagnostische Arbeit, an der sich neben der Lehrperson auch die Schülerinnen und Schüler beteiligen sollten. Das Resultat sollte wiederum die Grundlage für eine gezielte Förderung bilden.

Eine Mehrheit der Eltern lehnt die Abschaffung von Noten ab.

Ausgelöst hat die jüngste Diskussion um den Dauerbrenner der Lehrplan 21. Dieser basiert auf Kompetenzen, also auf Fähigkeiten. Sollen diese individuell gefördert werden, braucht es auch eine förderorientierte Beurteilung. Darin sind sich Pädagoginnen und Pädagogen eigentlich einig.

Auch die Eltern sehen das so, wie eine 2023 veröffentlichte Studie der Stiftung Mercator aufzeigte. Obwohl sie einen klaren Zusammenhang zwischen Prüfungen und Bewertungen mit Belastung und Stress machen, lehnt eine Mehrheit der 8000 befragten Eltern die Abschaffung von Noten ab.

Wofür man Zeit aufwenden sollte

Zu stark auf die Bewertung zu fokussieren, ist aus pädagogischer Sicht sowieso suboptimal. Wichtiger sei, ob eine Lehrerin oder ein Lehrer bemerke, wo ein Kind stehe und wie es gefördert werden müsse, betont Lötscher von der PH Luzern. Darum sei es sinnvoll, über das Thema Beurteilung und Bewertung gründlich nachzudenken. Hingegen ist für sie fast sekundär, in welcher Form bewertet wird. Dies illustriert ein Zitat aus dem bereits erwähnten Interview: «Ich persönlich bin nicht dafür, dass viel Zeit in umfangreiche Lernberichte auf Zeugnisebene investiert wird.» Stattdessen, schlägt sie vor, solle man lieber den Kindern und den Eltern mehr Zeit widmen.

Autor
Christoph Aebischer

Datum

16.04.2024

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