CHANCENGLEICHHEIT

Niemand weiss, wie durchlässig die Oberstufe wirklich ist

Lediglich 3,5 Prozent der Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufe I wechseln das Leistungsniveau. Warum es so wenige sind, lässt sich nicht sagen. Denn schweizweite Analysen zu diesem Thema existieren nicht.

Eine Gruppe von jungen Menschen im Unterricht.
Die Durchlässigkeit im Schweizer Bildungswesen ist bislang nur wenig erforscht. Foto: iStock/Ridofranz

Jacqueline lebt im Kanton Wallis und ist gut in Mathematik, hadert aber mit dem Deutschunterricht. Weil in ihrem Kanton das sogenannte integrierte Schulmodell auf Sekundarstufe I vorherrscht, besucht sie einen höheren Niveaukurs in Mathematik und einen niedrigeren für den Deutschunterricht. Ihre Stammklasse ist aber seit der Primarstufe dieselbe.

Bei Toni im Kanton Zürich ist dies anders. Die hiesige Sekundarstufe I ist nach dem geteilten Modell aufgebaut und er besucht das niedrigste von drei Niveaus, die Sek C. Dies, obwohl er wie Jacqueline in Mathematik gute Leistungen erbringt, während er mit Deutsch nicht allzu viel anzufangen weiss.

Und dann gibt es noch Naa Yo Yo, die in Bern zur Schule geht. Sie wurde zu Beginn der Sekundarschule wie Toni einer leistungsdifferenzierten Stammklasse zugeteilt und besucht wie Jacqueline stammklassenübergreifende Niveaukurse in Deutsch und Mathematik. In Bern heisst diese Anordnung kooperatives Modell.

Kommentar zum Thema: «Ungleichheit wird zementiert», LCH.ch, 18. März 2025

Was zeigen diese fiktiven Beispiele? Die Oberstufe ist in der Schweiz unterschiedlich organisiert. Die Modelle unterscheiden sich von Kanton zu Kanton, ja sogar von Gemeinde zu Gemeinde. Das hat auch Auswirkungen auf die Durchlässigkeit. Durchlässig ist ein Modell dann, wenn eine Schülerin oder ein Schüler je nach Entwicklung der Leistungen einem anderen Niveau zugeteilt wird.

«60 bis 80 Prozent könnten genauso gut in einem anderen Leistungszug sein.»

Ist es gerecht, dass die Zukunft der Jugendlichen davon abhängt, in welchem Kanton sie leben? Während Tonis Bewerbung für eine Lehrstelle aufgrund des Stempels «Sek C» möglicherweise vom Betrieb seiner Wahl aussortiert wird, kann Jacqueline in ihrem Zeugnis ihre Stärken aufzeigen. Und Naa Yo Yo? Wie stehen ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt?

Möglich, aber selten

Die regionalen Unterschiede sind das eine Problem. Das andere ist, dass die Durchlässigkeit insgesamt niedrig ist. Wie es im aktuellen Bildungsbericht heisst, wechselten in den Jahren 2019 und 2020 nur 3,5 Prozent der Schülerinnen und Schüler das Anforderungsprofil. Liegt das womöglich daran, dass die Selektion auf Primarstufe gut funktioniert und kein Korrekturbedarf besteht? Dieser Interpretation widerspricht Thomas Meyer von der Universität Bern. 

Meyer ist Mitverfasser der Tree-Studie, die sich mit den Übergängen vom Schul- ins Berufsleben befasst. «Verschiedene Studien zeigen, dass es bei der Selektion eine grosse Unschärfe gibt. So sind die leistungsstarken 10 bis 20 Prozent eines Jahrgangs im höchsten Anforderungsprofil am richtigen Ort. Dasselbe gilt für 10 bis 20 Prozent eines Jahrgangs, die ins niedrigste Profil eingeteilt sind.» Beim Rest gebe es jedoch grosse Überschneidungen mit den anderen Leistungssegmenten. «Diese 60 bis 80 Prozent könnten also genauso gut in einem anderen Leistungszug sein», hält Meyer fest.

Hürden für Wechsel unterschiedlich

Weil es keine detaillierten Zahlen gibt, lässt sich aber nicht sagen, wie sich das System verbessern liesse. Es gibt jedoch Hinweise. Denn ein Wechsel des Anforderungsprofils ist je nach Modell schwieriger oder einfacher zu bewerkstelligen. 

Während in Kantonen mit geteiltem Modell wie dem Aargau, St. Gallen oder Zürich bei einem Niveauwechsel eine Klasse wiederholt und oftmals auch das Schulhaus gewechselt werden muss, ist es dort, wo das integrierte oder kooperative Modell gelebt wird, anders. In Luzern, Neuenburg oder dem Wallis muss in der Regel lediglich der Niveaukurs gewechselt werden, die Stammklasse bleibt in der Regel dieselbe.

Wie gut funktioniert die Selektion?

Um ein vollständiges Bild der Durchlässigkeit an Schweizer Schulen zu erhalten und damit der Möglichkeiten der Schülerinnen und Schüler, braucht es eine detaillierte Auswertung. Das Bundesamt für Statistik (BFS) verfügt über Zahlen zu den Bildungsverläufen in der Schweiz. Seit 2012 werden diese im Rahmen der Längsschnittanalysen im Bildungsbereich (Labb) erhoben.

Das BFS verfügt nicht über die notwendigen Ressourcen, um eine solche Auswertung vornehmen zu können.

Theoretisch könnte in diesen Zahlen die Antwort auf die Frage gefunden werden, welches System – das geteilte, das kooperative oder das integrierte – die grösstmögliche Durchlässigkeit ermöglicht. Das Problem: Das BFS verfügt nicht über die notwendigen Ressourcen, um eine solche Auswertung vornehmen zu können, wie eine Anfrage das Dachverbands Lehrerinnen und Lehrer Schweiz ergeben hat. Externe Forschungsinstitute müssten hier einspringen, um ein zahlenbasiertes Bild zu kreieren.

Analysen existieren nicht

Wie gross der Aufwand für eine derartige Auswertung ist, zeigt die Forschung von Markus Neuenschwander. Er ist Co-Leiter des Zentrums Lernen und Sozialisation der pädagogischen Hochschule Nordwestschweiz. Er untersuchte 2015 die Durchlässigkeit in den Kantonen Aargau, Basel-Landschaft, Basel-Stadt, Bern und Luzern. 

Die Schwierigkeit habe darin bestanden, Zahlen zu erhalten, die einem Vergleich standhielten, sagt Neuenschwander gegenüber BILDUNG SCHWEIZ. «Denn je nach Kanton werden unterschiedliche Definitionen verwendet. Damit man vergleichen kann, müssen zuerst die Kriterien vereinheitlicht und auf dieser Basis anschliessend Zahlen gesammelt werden.» So könne auch das BFS nur vergleichende Analysen vornehmen, wenn die Definitionen vorgängig vereinheitlicht wurden.

Meyer ist in dieser Hinsicht optimistischer als Neuenschwander: «Das BFS bemüht sich redlich, die kantonalen Zahlen und Leistungstypen in eine nationale Nomenklatur zu bringen. Der Grundmechanismus ist in den meisten Kantonen derselbe.» Dass die Analyse sehr aufwendig würde, bestreitet aber auch er nicht.

«Manche sehen in einer erhöhten Durchlässigkeit auch Gefahren wie etwa mehr Leistungsdruck.»

In einem anderen Bereich sind sich die beiden Experten jedoch einig: Beide finden, dass der politische Wille zu einer vertieften Forschung zur Chancengleichheit fehle. «Wir müssen uns die Frage stellen: Wer gewinnt und wer verliert bei der Durchlässigkeit? Manche würden lieber den Status quo beibehalten, da sie in einer erhöhten Durchlässigkeit auch Gefahren wie etwa mehr Leistungsdruck sehen», sagt Neuenschwander.

Was sagt die bisherige Forschung?

Auf den Schulalltag von Naa Yo Yo, Toni und Jacqueline hat die Forschung keinen Einfluss. Sie werden die obligatorische Schulzeit längst hinter sich haben, wenn dereinst vielleicht konkrete Schlüsse gezogen werden. Langfristig wären aber Resultate wünschenswert, die zeigen, welches Modell am meisten Durchlässigkeit ermöglicht. 

Für Meyer ist aber schon jetzt klar: «Es ist plausibel anzunehmen, dass die Durchlässigkeit steigt, wenn der Separierungsgrad tief ist.» Sprich: Wer in einem integrierten oder kooperativen Modell zur Schule geht, hat grössere Chancen auf einen Wechsel des Leistungsniveaus. Dies gelte in der Forschung als grobe Faustregel. 

Auch Neuenschwander hat schon von dieser Faustregel gehört und würde ihr «intuitiv» beipflichten. Denn ein Wechsel sei bei geringem Separierungsgrad aus administrativen, organisatorischen und sozialen Gründen einfacher. Da aber die Forschung dazu fehle, sei dies lediglich eine Einschätzung, kein Faktum.

Autor
Alex Rudolf

Datum

09.04.2025

Themen