Deeskalation im Schulalltag

«Niemand sollte sich fürchten, in die Schule zu kommen»

Gewalt sei ein Zeichen der Überforderung, sagt Klassenlehrer und Kampfkünstler Marcel Eichenberger. Er kennt heikle Situationen – auch an der Schule. Im Interview erzählt er von seinen Erfahrungen und erklärt, warum mehr Regeln nicht immer die Lösung sind.

Marcel Eichenberger sitzt am Fenster.
Im Umgang mit Gewalt und Konflikten greift Sekundarlehrer Marcel Eichenberger unter anderem auf seine Erfahrungen aus der Selbstverteidigung und dem Kung-Fu-Training zurück. Fotos: Philipp Baer

BILDUNG SCHWEIZ: Sie unterrichten seit über 25 Jahren. Wie ist Ihre Wahrnehmung: Hat Gewalt im Schulalltag zugenommen?

MARCEL EICHENBERGER: Gewalt hat enorm zugenommen. Bei Kindern und Jugendlichen beobachte ich mehr Beleidigungen, Herabwürdigungen und wie andere lächerlich gemacht werden. Mit Handys und Photoshop geht das ganz leicht. Als Lehrer bekomme ich davon allerdings nur einen Bruchteil mit.

In Zeiten von Social Media geschieht vieles virtuell.

Ja, und man kann sich dem nicht entziehen – ausser man kapselt sich komplett ab. Wenn wir ehrlich sind, sind wir alle etwas überfordert damit. Wir können nicht alles kontrollieren, was in den sozialen Medien und in Chats geschieht.

Wie greifen Sie ein, wenn Bilder und Videos ohne Erlaubnis verbreitet werden?

Ich spreche die Jugendlichen auf die Folgen ihres Handelns an und zeige, dass öffentliches Blossstellen mit Fotos und dummen Sprüchen persönlichkeitsverletzend ist. Jugendliche sind da oft naiv und können die Tragweite ihres Handelns nicht abschätzen. Ich weise darum immer wieder darauf hin, dass es bei uns an der Schule nicht erlaubt ist, ohne Einverständnis Foto- oder Videoaufnahmen zu machen und zu verbreiten. Das ist wichtige Präventionsarbeit. Die Lernenden sollen verstehen, dass es um Schutz geht und nicht um Einschränkung.

Sie sprechen Regeln an. Braucht es künftig an Schulen mehr Verbote?

Regeln und Verbote sind schwierig. Sinnvoller als Anweisungen für konkretes Verhalten ist ein Kodex, der die Haltung einer Schule festhält. Darin kann dann stehen, dass die Unversehrtheit jeder Person an der Schule ein unantastbares Gut ist. Oder, dass sich an einer Schule alle wohlfühlen sollen. Niemand sollte sich davor fürchten, in die Schule zu kommen. Das sind Grundhaltungen, die den respektvollen Umgang miteinander definieren. Hausregeln hingegen arten schnell in eine endlose Liste aus, die wenig beachtet wird.

«In emotionalen Situationen muss man zwischen Person und Verhalten unterscheiden.»

Sie waren schon an verschiedenen Schulen Kontaktlehrperson für Gewaltprävention. Was macht man da genau und womit waren Sie am häufigsten konfrontiert?

Meist baten mich Kolleginnen und Kollegen, bei konfliktbeladenen Gesprächen anwesend zu sein. Es ist aber wichtig zu betonen, dass meine Rolle nicht die des Schiedsrichters ist. Ich versuche, aus einer möglichst unbeteiligten Position mit beiden Parteien zu ergründen, wo gemeinsame Interessen sind und woran gearbeitet werden kann. Als emotional Unbeteiligter ist es einfacher, bei beiden Parteien nachzufragen, wie etwas genau gemeint ist, was für Gefühle im Spiel sind oder wie es überhaupt so weit kommen konnte.

Zur Person

Marcel Eichenberger unterrichtet seit über 25 Jahren auf den Sekundarstufen. Er hat sich zur Kontaktlehrperson Gewaltprävention weitergebildet und übernahm diese Rolle schon an verschiedenen Schulen. Als Kind begann er mit dem Kampfsporttraining und entdeckte bald Kampfkünste wie Wing Chun und Eskrima für sich. 20 Jahre lang führte er eine eigene Kampfkunstschule und bot Selbstverteidigungskurse für Kinder, Jugendliche und Erwachsene an. Zurzeit ist er als Klassenlehrer und Berufswahlcoach an der auf Integration und Weiterbildung spezialisierten Stadtzürcher Fachschule Viventa tätig.

Die Gewaltstudie des LCH zeigte kürzlich auf, dass Schweizer Lehrpersonen im Berufsalltag Gewalt erleben. Haben Sie selbst auch brenzlige Situationen erlebt?

Mir wurde beim Lesen der Studie klar, dass ich viele der beschriebenen Situationen in ähnlicher Weise ebenfalls erlebt oder miterlebt habe. Als Schulleiter stand ich mehrere Male wütend tobenden Vätern gegenüber.

Was hatte deren Wut ausgelöst?

In einem Fall ging es um ein Kind, das gemobbt wurde. Der Vater konnte nicht mehr zusehen, wie sein Kind in der Schule litt. Er machte extrem Radau. Ich konnte die Sorge verstehen, aber es dauerte lange, bis ich ihn beruhigen konnte.

Es ist wichtig zu verstehen, dass die Person einem selbst eigentlich nichts Böses antun will. Sie ist vielmehr überfordert und kann nicht mehr anders. In solchen Situationen muss man zwischen Person und Verhalten unterscheiden und klar kommunizieren: «Du bist als Mensch okay, aber dein Verhalten ist nicht okay.» Die meisten sind gesprächsbereit, wenn sie sich angenommen und verstanden fühlen.

«Zur Schule kommt man in der Regel nicht mit der Absicht, Lehrpersonen anzugreifen.»

Es gibt aber auch die anderen.

Die gibt es. In der Schule ist es allerdings nicht so, dass Gewalt grundsätzlich gesucht wird. Zur Schule kommt man in der Regel nicht mit der Absicht, Lehrpersonen anzugreifen. Gewalt entsteht zumeist aus Überforderung und einer Angst, welche die Menschen destabilisiert. Das schränkt sie in ihrer Urteils- und Handlungsfähigkeit ein. Mit einer besonnenen Reaktion jedoch lassen sich viele von Gewalttaten abhalten.

Lehrpersonen sind aber auch nur Menschen. Was sollen sie tun, um nicht ebenfalls aggressiv zu werden?

Wenn man realisiert, dass man an einem solchen Punkt ist, wo alles zu viel wird, muss man sich professionelle Hilfe holen. Überforderung kann alle treffen, denn jeder und jede hat Grenzen. Niemand ist davor gefeit, dass einem die Sicherungen durchbrennen.

Sie praktizieren seit fast 50 Jahren Kampfkunst. Wie hilft Ihnen das im Schulalltag?

Der Qigong-Meister Zhi Chang Li sagt: «Am Anfang selbst getan, am Ende wie von selbst getan.» Das bedeutet in anderen Worten: Sich durch ständiges Üben verbessern, bis man das Gelernte wirklich beherrscht. Das ist mir auch in der Schule wichtig. Man könnte zudem sagen, dass ich durch die Kampfkunst zum Lehrberuf gekommen bin. Ursprünglich habe ich eine Detailhandelslehre absolviert. Nebenbei unterrichtete ich Kung-Fu. Meine Art zu instruieren wurde geschätzt und ich merkte, dass ich gerne vermittle. So holte ich die Matura und das Studium als Lehrer für naturwissenschaftliche Fächer auf der Sekundarstufe nach.

Und umgekehrt: Was haben Sie an der Schule für die Kampfkunst gelernt?

Das Studium brachte mich auch als Kung-Fu-Lehrer weiter. Ich gestalte das Training didaktischer, baue es systematischer auf, greife Inhalte immer wieder auf und verändere den Ablauf, damit es spannend bleibt.

Woher kam die Faszination dafür?

Als Kind habe ich die Judo-Karriere des Schweizers Jürg Röthlisberger genau verfolgt. Als er 1976 an den Olympischen Spielen Bronze gewann, war das eine Sensation und begeisterte auch mich für den Kampfsport. So begann ich mit sechs Jahren mit Judo. Später machte ich auch Karate, Ju-Jutsu und entdeckte die chinesischen Kung-Fu-Stile für mich. Der sportliche Aspekt sagte mir als Kind sehr zu. Mit der Zeit begann ich jedoch, mehr Kampfkunst als Kampfsport zu praktizieren.

«In der Kampfkunst ist jeder vermiedene Kampf ein gewonnener Kampf.»

Wo liegt der Unterschied?

Im Kampfsport sucht man den Sieg, indem man den Gegner oder die Gegnerin überwindet. Kampfkünstler und Kampfkünstlerinnen hingegen versuchen, sich selbst zu überwinden. Sie trainieren, um im Kampf bestehen zu können, ohne besiegt zu werden. Die Grundhaltung ist eher defensiv. In der Kampfkunst ist jeder vermiedene Kampf ein gewonnener Kampf, weil man damit handlungsfähig bleibt.

Physische Gewalt erleben Lehrpersonen laut Studie selten. Ihr Eindruck?

Ich war einmal dabei, als ein Kollege aggressiv angegangen wurde. Da musste ich wortwörtlich dazwischengehen. Mein Kollege konnte dann den Raum verlassen, sich so in Sicherheit bringen und Hilfe holen. Ich selbst bin ziemlich gross und kann mich vor jemandem aufbauen. Das macht Eindruck und reicht oft schon. In Ausnahmefällen mache ich davon Gebrauch. In einer Konfliktsituation ist das ein Vorteil, wenn ich physisch Präsenz markieren kann. Im Schulalltag hingegen kann Grösse einschüchtern.

«Kenne dich selbst, kenne dein Gegenüber und kenne die Umstände.»

Grösse schafft schnell Respekt. Was raten Sie kleinen oder zierlichen Personen ohne Kampftraining?

Körpergrösse täuscht oft. Ich habe kleine, eher zierliche Kolleginnen, die sehr bestimmt auftreten und den Tarif durchgeben können. Sie kennen ihre Wirkung gut. In der Kampfkunst gibt es die Regel: Kenne dich selbst, kenne dein Gegenüber und kenne die Umstände. Wer sich nicht stark fühlt, sollte nicht eingreifen. Das Schlimmste, was man dann in einer Konfliktsituation machen kann, ist, auf Konfrontation zu gehen und dabei Unsicherheit zu zeigen. Beides kann aggressives Verhalten bestärken. Man bringt sich besser in Sicherheit und holt Hilfe. Generell gilt: Nicht den Helden oder die Heldin spielen. Auch mit guten Absichten trägt das nicht zur Deeskalation bei.

Wenn man jemanden in Not sieht, denkt man nicht unbedingt als Erstes an die eigene Sicherheit.

Man hilft aber auch niemandem, wenn man selbst handlungsunfähig wird. Wer unsicher ist, zieht sich lieber zurück, alarmiert umgehend und beobachtet genau. Ich rate jedoch unbedingt davon ab, zu fotografieren oder zu filmen. Das provoziert und man zieht womöglich die Aufmerksamkeit auf sich. Wenn dann vielleicht noch Waffen im Spiel sind, wird es sehr schnell sehr gefährlich. Niemand ist stichfest oder kugelsicher. Wer aber im Rückzug handlungsfähig bleibt und hinschaut, kann später den Ablauf des Konflikts schildern. Das hilft bei der Aufarbeitung solcher Geschehnisse, die bei allen Beteiligten noch lange nachwirken.

Autor
Patricia Dickson

Datum

09.06.2023

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