Interview

Schulen müssen Vertrauen schaffen können

Sarah Bütikofer untersuchte im Auftrag des Kantons Aargau das Unterrichtsklima an Mittelschulen. Anlass gab eine Maturarbeit, welche die Lehrerschaft als links verortete. Bütikofer schürfte tiefer. Im Interview betont sie, wie wichtig Fairness ist.

Sarah Bütikofer lächelt.
Sarah Bütikofer hat das Unterrichtsklima an Mittelschulen untersucht. Fotos: Gion Pfander

BILDUNG SCHWEIZ: Sie haben das Unterrichtsklima an Aargauer Mittelschulen untersucht. Mit welchem Ergebnis?

SARAH BÜTIKOFER: Die Schülerinnen und Schüler gehen gerne zur Schule. Einerseits, weil sie dort ihr soziales Umfeld haben. Andererseits, weil sie den Unterricht schätzen und in diesem Neues lernen. Unsere Studie hat gezeigt, dass 64 Prozent der Schülerinnen und Schüler gerne oder sehr gerne den Unterricht besuchen. Das sind erfreuliche Zahlen.

Was ist mit jenen, die den Unterricht nicht gerne besuchen?

Dabei handelt es sich um eine kleine Minderheit. Nur sechs Prozent gehen nicht gerne zur Schule – oftmals, weil sie unter psychischen Belastungen wie Stress oder Erschöpfung leiden.

Im Zentrum Ihrer Analyse standen die politischen Debatten im Unterricht. Das Ergebnis: Ein Drittel der Schülerinnen und Schüler traut sich häufig nicht, sich zu Wort zu melden. Weshalb?

Dafür gibt es unterschiedliche Gründe. So melden sich etwa jene Personen kaum, die sich generell selten im Unterricht melden oder jene, die denken, dass sie zu wenig über das Thema wissen. Auch junge Frauen und politisch rechts positionierte Schüler geben häufiger an, dass sie sich in politischen Debatten nicht getrauen, sich zu Wort zu melden.

Warum melden sich diese Personengruppen seltener?

Der Hauptgrund ist die Furcht vor negativen Reaktionen aus dem Umfeld. Sie fürchten, dass jemand ihre Argumente widerlegt und sie so eine Form von Ablehnung erfahren.

Sie bezeichnen dieses Phänomen als «Peergroup Pressure». Betrifft das alle im selben Mass?

Personen, die sich auf dem politischen Spektrum rechts oder eher rechts einordnen, haben gemäss unserer Studie öfters bereits Ablehnung erfahren als andere Schülerinnen und Schüler. Dabei gilt es aber zu berücksichtigen, dass sich nur gerade 89 der total 2270 befragten Personen diesem politischen Spektrum zurechnen. Die grosse Mehrheit derjenigen, die sich überhaupt verorten können, sieht sich in der politischen Mitte. Dass eine Minderheitenposition geringere Unterstützung findet als andere, ist nur logisch.

Zur Person

Sarah Bütikofer ist Politwissenschaftlerin und arbeitet als Projektpartnerin beim Forschungsinstitut Sotomo. Sie ist Mitbegründerin und Herausgeberin der Onlineplattform DeFacto der Schweizer Politikwissenschaft und lehrt an der ETH Zürich sowie an den Universitäten Basel und Zürich.

Politische Debatten werden gemäss Ihrer Studie von Lehrpersonen wie Schülerinnen und Schülern als lehrreich betrachtet. Erstere nehmen die Debatten im Unterricht jedoch als deutlich toleranter wahr als Letztere. Weshalb?

Entscheidend ist in diesem Fall die Perspektive: Die Schülerinnen und Schüler verbringen einen Grossteil des Tages im Klassenverbund mit denselben Personen. Als Teil dieses sozialen Biotops reagieren sie sensibler, wenn wenige meinungsführende, dominante Klassenmitglieder eine politische Debatte dominieren. Zudem gehen die Diskussionen manchmal ausserhalb des Klassenzimmers weiter – auch auf sozialen Medien, wovon Lehrpersonen nichts mitbekommen.

Und die Lehrpersonen?

Deren Perspektive ist globaler. Gerade an Mittelschulen betreuen Lehrpersonen oft von Lektion zu Lektion eine andere Klasse. Diese Klassen unterscheiden sich hinsichtlich des Wissensstands, der Debattierfähigkeit, des politischen Grundinteresses und so weiter. Ausserdem können Lehrpersonen auf ihre Erfahrung aus früheren Schuljahren zurückgreifen. Dementsprechend können sie das Debattenklima umfassender einschätzen als Schülerinnen und Schüler, die oft nur jenes der eigenen Klasse kennen.

Sie sprechen das politische Grundinteresse an. Wie ausgeprägt ist das im Fall der untersuchten Mittelschulen?

Das politische Interesse ist unterschiedlich ausgeprägt. 60 Prozent bezeichnen sich selbst als eher bis sehr interessiert. 37 Prozent bezeichnen sich als eher bis sehr wenig interessiert. Dabei gilt: Je älter die Personen, desto ausgeprägter das politische Interesse. Diese Zahlen decken sich mit Ergebnissen gesamtschweizerischer Studien zu dieser Frage.

Gibt es denn vergleichbare Studien?

Dass wir explizit das Unterrichtsklima an Mittelschulen bei politischen Debatten untersucht haben, ist ein Novum. Es gibt aber Jugend- und Politikbefragungen, die gewisse Vergleiche zulassen.

Die von Ihnen durchgeführte Studie entstand, weil 2021 eine Maturarbeit zum Schluss kam, dass Lehrpersonen an Aargauer Mittelschulen hauptsächlich links der politischen Mitte anzusiedeln seien. Konnten Sie dieses Fazit mit Ihrer Studie belegen?

Die Validierung der Maturarbeit war nicht der Auftrag, den wir vom Kanton Aargau erhalten haben. Wir haben die Unterrichtsatmosphäre im grossen Ganzen untersucht, mit Fokus auf die Einhaltung der Grundsätze der politischen Neutralität im Unterricht. Die Beurteilung einzelner Lehrperson, deren Unterrichtsgestaltung oder ihre politische Einstellung waren nicht Teil der Befragung. Zumal es für Letzteres bereits Anhaltspunkte gibt.

Können Sie das ausführen?

Während der Pandemie hat unser Forschungsinstitut regelmässige Befragungen durchgeführt. Dabei haben wir unter anderem erhoben, wo sich die Leute politisch positionieren und in welchem Berufsfeld sie tätig sind. Es zeigte sich, dass Personen aus der Sparte Bildung/Erziehung sich eher auf der linken Seite des politischen Spektrums einordnen.

«Wir dürfen von Lehrpersonen wie von Polizistinnen und Polizisten erwarten, dass sie ihre eigene politische Haltung abstrahieren können.»

Also doch eine Links-Tendenz?

Die gleichen Befragungen haben auch gezeigt, dass Personen aus der Sparte Sicherheit politisch eher rechts stehen. Als Gesellschaft dürfen wir aber von Lehrpersonen ebenso wie von Polizistinnen und Polizisten erwarten, dass sie ihre eigene politische Haltung beim Ausüben ihres Berufs abstrahieren können. Diese Professionalität ist diesen beiden exponierten Berufsgruppen zuzugestehen.

Was hat die besagte Maturarbeit letztlich bewirkt?

Sie hat viel medialen und politischen Staub aufgewirbelt. Das ist für eine Maturarbeit unüblich. In mehreren Kantonen gab es danach Vorstösse, die politische Neutralität im Unterricht zu untersuchen. Ausser im Kanton Aargau fand sich dafür aber nirgends eine Mehrheit.

Mit Ihrer Studie haben Sie einen vertieften Einblick in den Kosmos Schule erhalten. Gab es Rückmeldungen, die Sie überrascht haben?

Auffällig war, wie zentral das Vertrauen in die Schule ist. So zeigte sich, dass Schülerinnen und Schüler mit geringem Vertrauen in die Schule sich nicht nur in politischen Debatten weniger äussern, sondern sich ganz allgemein weniger wohl fühlen an ihren Schulen.

Was ist daran erstaunlich?

Dass dieses Misstrauen staatlichen Institutionen gegenüber bereits in so jungem Alter in diesem Ausmass vorhanden ist. Vertrauen ist ein zentraler Faktor für gesellschaftliche Stabilität. Jemand ohne Vertrauen in Institutionen ist beispielsweise eher bereit, Falschinformationen zu glauben oder sogenannte Mainstream-Medien abzulehnen. Es zeigt, wie wichtig der Auftrag der Schule ist, Vertrauen in staatliche Institutionen zu schaffen.

In Ihrer Befragung haben Sie auch untersucht, was den Schülerinnen und Schülern an ihren Lehrpersonen wichtig ist. Mit welchem Ergebnis?

Nichts ist ihnen so wichtig wie die Fairness und Korrektheit der Lehrpersonen bei Leistungsbewertungen. Das ist verständlich, herrscht an Mittelschulen doch viel Leistungsdruck und findet eine Selektion statt, die für das spätere Berufsleben relevant ist. Kaum ein Thema im Schulalltag ist hingegen die politische Einstellung der Lehrpersonen.

Autor
Mathias Streit

Datum

15.01.2024

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