Gefangene helfen Jugendlichen

Nach Gewalt und Drogen: Seine Lebensgeschichte klärt auf

Ilias Schori geriet schon früh auf die schiefe Bahn, wurde kriminell und landete im Gefängnis. Heute arbeitet er für ein Programm, das auf Aufklärung statt auf Abschreckung setzt. Schori spricht dabei mit Jugendlichen über Gewalt, Kriminalität und die Folgen.

Ilias Schori erzählt von seiner Vergangenheit.
Ilias Schori erzählt Schulklassen von seiner Vergangenheit. Fotos: Roger Wehrli

Was Ilias Schori während beinahe vier Stunden zu erzählen hat, ist ein Drama in mehreren Akten. Am Ende fragt man sich unwillkürlich, wie all das Gehörte im Leben eines erst 29-jährigen Menschen Platz hat. Schori ist Projektleiter von «Gefangene helfen Jugendlichen» und hat es sich zur Aufgabe gemacht, jungen Menschen von seinem früheren Leben als Krimineller zu berichten. Es ist die Geschichte einer Abwärtsspirale, die schon früh ihren Anfang genommen hat.

Keine Gangster-Romantik

Heute besucht Schori in Schaffhausen die dritte Realklasse von Marco Heirich. Der Schulsozialarbeiter hat ihm das Projekt empfohlen. Mit seinen Schülerinnen und Schülern liest Heirich gerade «Rolltreppe abwärts» von Hans Georg Noack, das von einem Jugendlichen handelt, der nach Problemen zu Hause und in der Schule in die Kriminalität abrutscht. «Es ist wichtig, dass sie sehen, wie schnell das geht», sagt Heirich, der das Thema mit Schoris Besuch möglichst abwechslungsreich behandeln will.

Geduldig beobachtet Schori, wie sich das Schulzimmer allmählich füllt. Er schaut nochmals nach seinem jungen Hund, der sich unter dem Lehrerpult verkrochen hat. Erst kürzlich hat Schori Miele aus einem Tierheim geholt. Niemand sonst habe sich für das verängstigte Tier interessiert, sagt Schori. Er hat ähnlich wie Miele einen Grossteil seiner Jugend in Heimen verbracht.

Der Ex-Häftling ist nicht gekommen, um mit seinen Taten zu prahlen. Er will den Jugendlichen von einem Leben berichten, das weder cool noch romantisch ist. Er zeigt auf, wie rasch man auf die schiefe Bahn gerät und wie schwierig es ist, davon wieder wegzukommen.

Schnörkel- und schonungslos

Als Erstes projiziert Schori Fotos, die ihn zusammen mit seinem älteren Bruder und der Mutter zeigen. Sein Kommentar dazu: «Man wird nicht als Krimineller geboren.» Doch die Idylle trügt. Der Vater ist schwer spielsüchtig und kaum anwesend. Wenn doch, streitet er mit der Mutter, die von der Situation überfordert ist. Die Kinder erleben Gewalt in Form von Schlägen, kalten Duschen und Essensentzug.

«Bis zu meinem 18. Lebensjahr habe ich an zwanzig verschiedenen Orten gewohnt.»

Die Probleme daheim gehen nicht spurlos am jungen Ilias vorbei. Sie wirken sich auf sein Verhalten in der Schule aus. Er ist aggressiv, hat ständig Schlägereien mit anderen Schülern und Ärger mit den Lehrpersonen. In der vierten Klasse verbringt er ein Time-out auf einem Bauernhof in den Bergen. Die schwere Arbeit dort gefällt ihm. Nach seiner Rückkehr in die Schule geht es trotzdem weiter wie zuvor. Schori ist ein guter Erzähler. Gebannt hängen die Schülerinnen und Schüler der dritten Realklasse an seinen Lippen. Der Ton ist nüchtern, die Sätze schnörkel-, manchmal auch schonungslos.

Behandelt wie ein Verbrecher

Ilias Schori erinnert sich: Auf der Oberstufe wird er in eine Kleinklasse versetzt und dann schliesslich aus der Schule geworfen – darf nicht einmal mehr den Schulhausplatz betreten. Mit 13 Jahren wird er zum ersten Mal in ein geschlossenes Jugendheim eingewiesen. Zu diesem Zeitpunkt hat er noch kein Delikt begangen, fühlt sich aber wie ein Verbrecher behandelt. «Es ist immer das gleiche Ritual, wenn man an einen solchen Ort gerät», erzählt er der Klasse. «Du kommst in einen Raum mit lauter Erwachsenen und musst dich nackt ausziehen. Dann schauen sie dir in sämtliche Körperöffnungen, dort könntest du ja Drogen versteckt haben.» An diesem Ort, erinnert sich Schori, wurde er noch viel aggressiver, als er zuvor schon war.

Bis ihn die Polizei schnappt

Nach drei Monaten kommt er zwar wieder aus dem Heim, aber es folgt eine jahrelange Odyssee. Die Polizei greift den Jungen auf und bringt ihn wieder in ein Jugendheim, wo er erneut davonläuft – oder wie es Jargon heisst – «auf Kurve geht». Er verbringt die Nächte in Kellern, Treppenhäusern und aufgebrochenen Autos. Schori erzählt von falschen Freunden, aber auch von einer Pflegefamilie, bei der er zum ersten Mal in seinem Leben Geborgenheit erfährt. Dennoch fehlt seinem Leben Stabilität. Er beginnt zwar eine Lehre als Automechaniker, bricht sie aber wieder ab, eine Liebesbeziehung scheitert, und er gerät mit Diebstahl und Einbrüchen tiefer hinein in den Sumpf der Kriminalität. Eines Tages schnappt ihn die Polizei erneut und nun wartet das Jugendgefängnis auf ihn. «Bis zu meinem 18. Lebensjahr habe ich an zwanzig verschiedenen Orten gewohnt», sagt Schori und meint damit in erster Linie Heime und Gefängnisse.

Aufklärung aus erster Hand

Das Projekt «Gefangene helfen Jugendlichen» gibt es in Deutschland bereits seit zwanzig Jahren. In der Schweiz wurde die Kommunikationsfachfrau Andrea Thelen vor ein paar Jahren darauf aufmerksam. «Die Idee faszinierte mich. Solche Aufklärung ist gerade bei Jugendlichen wichtig, weil sie in dem Alter Neues ausprobieren und Grenzen ausloten», erklärt Thelen ihre Motivation. In der Schweiz fand sie jedoch kein vergleichbares Projekt, also ergriff sie selbst die Initiative und hoffte, dass sich auf Anzeige Ex-Häftlinge melden, die bereit sind, mit Jugendlichen über ihr Leben zu sprechen. «Es ist schwierig, Menschen zu finden, die reflektiert von solchen Erfahrungen erzählen können.»

«Aufklärung ist gerade bei Jugendlichen wichtig, weil sie in dem Alter Neues ausprobieren und Grenzen ausloten.»

Schori stellte sich als Glücksfall für das Projekt heraus. Er hat nicht nur Unglaubliches erlebt, sondern weiss dies auch zu vermitteln. Er reflektiert seine Taten sowie das, was ihm angetan wurde. Den Jugendlichen berichtet er von Reue, verpassten Chancen und darüber, wie vielen Menschen er mit seinem Handeln Leid angetan hat. Als Beispiel nennt er einen Kokainsüchtigen, dem es bis heute nicht gelingt, von der Droge loszukommen. Schori hatte ihm das erste Koks verkauft.

Das Projekt ist auch für Ilias Schori eine Chance. Einerseits hat er dadurch drei Jahre nach seiner Entlassung aus der Haft eine feste Anstellung. Andererseits hilft ihm das Erzählen dabei, das Geschehene zu verarbeiten. Schori kennt nicht nur das kriminelle Leben, sondern auch dessen strafrechtliche Folgen. Den Jugendlichen erklärt er, dass man beispielsweise schon straffällig wird, wenn man dreimal beim Schwarzfahren erwischt worden ist. Ein Gewaltdelikt bleibt sogar ein Leben lang in den Akten des Strafregisters.

Echtes Leben statt trockener Theorie

Vieles, was Ilias Schori an diesem Vormittag erzählt, ist alles andere als leichte Kost – aber wertvoll, findet Klassenlehrer Heirich. «So ein Besuch bleibt besser in der Erinnerung haften als die Worte des Lehrers, der vor der Klasse theoretisch über die Problematik spricht», sagt er. Dazu trage auch Schoris Persönlichkeit bei. Er sei sehr authentisch und sympathisch. «Es ist beeindruckend, wie er mit seiner Vergangenheit umgeht, Probleme benennt und eine sehr menschliche Seite zeigt.»

Informationen zum Projekt

Der Verein «Gefangene helfen Jugendlichen Schweiz» wurde 2020 gegründet. Er bietet unter anderem Präventionsunterricht und Gefängnisbesuche für Schulklassen an. Der Verein setzt damit auf Aufklärung statt auf Abschreckung. Letztere kann kontraproduktiv wirken. Der Präventionsunterricht kostet 850 Franken und dauert vier Lektionen. Dabei erzählt ein ehemaliger Straftäter aus seinem Leben, führt durch einen virtuellen Gefängnisrundgang und spricht über rechtliche sowie gesellschaftliche Aspekte der Kriminalität. Der Verein arbeitet derzeit an Unterrichtsmaterial, welches das Angebot ergänzen soll. Mehr Informationen: www.gefangenehelfenjugendlichen.ch.

Autor
Roger Wehrli

Datum

03.01.2023

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