Fakt ist:
Im kommenden August werden in vielen Schulen in der Schweiz und auch im Kanton St. Gallen Personen vor Klassen stehen, welche über keinerlei pädagogische Ausbildung verfügen. Dass es gleich soweit kommen würde, überrascht nur, wer die letzten Jahre die Augen vor dem sich anbahnenden Problem verschlossen hat. Hätte – wäre – Fahrradkette: Hätte man vor Jahren auf die Warnungen gehört und entsprechende Massnahmen eingeleitet, wäre die Situation heute eine andere. Aber eben, hätte – wäre – Fahrradkette. Immerhin scheint sich nun etwas zu tun, zu spät für die aktuelle Situation, aber vielleicht gelingt es, mit geeigneten Massnahmen Gegensteuer zu geben, damit sich der Mangel an Lehrpersonen nicht über viele Jahre hinziehen wird.
Das Problem nicht an der Wurzel gepackt:
Wer es sich einfach macht, schlägt vor, dass doch alle Lehrpersonen, welche Teilzeit arbeiten, ihr Pensum leicht erhöhen, damit das Problem gelöst ist. Ausgeblendet wird bei solchen Ideen die Frage, warum denn so viele Lehrpersonen Teilzeit arbeiten. Ebenfalls wird nicht gesehen, dass eine mathematische Lösung (alle Lehrpersonen arbeiten x Prozent mehr = Problem gelöst) eben nur mathematisch aufgeht, aber die unterschiedlichen Voraussetzungen an den verschiedenen Schulen nicht berücksichtigt.
Es stimmt, viele Lehrpersonen arbeiten Teilzeit. Die Gründe mögen vielfältig sein, an drei Punkten aber kommt man nicht vorbei. Der erste und vermutlich wichtigste Grund, warum nur verhältnismässig wenige Lehrpersonen Vollzeit arbeiten, liegt schlicht und ergreifend darin, dass ein Vollpensum kaum leistbar ist, wenn man den Anspruch an sich stellt, alle Vorgaben umzusetzen, einen qualitativ hochwertigen Unterricht vor- und nachzubereiten, an Schulentwicklungsprozessen konstruktiv mitzuarbeiten, die neue Beurteilung wie vorgesehen anzuwenden, sich im Rahmen der IT-Bildungsoffensive weiterzubilden und zu engagieren, die vermehrten Absprachen mit Kolleginnen und Kollegen, mit Fachpersonen und Amtsstellen seriös vorzubereiten, den gestiegenen Erwartungen der Eltern mit zusätzlichen Gesprächen gerecht zu werden, die Schülerinnen und Schüler möglichst individuell zu begleiten und administrative Aufgaben korrekt zu erledigen. Gerade Klassenlehrpersonen schaffen es nicht mehr, all diese Aufgaben mit dem gemäss Berufsauftrag zur Verfügung stehenden Zeitbudget zu erledigen. Damit die Lehrpersonen ihre Gesundheit nicht gefährden, können sie entweder alle genannten Aufgaben weniger seriös und mit weniger Qualität erledigen, was aber den allermeisten widerstrebt, weil damit das eigene Berufsethos untergraben wird, oder sie reduzieren eben ihr Pensum. Viele sind dann vielleicht nur noch zu 70 oder 80 Prozent angestellt, arbeiten aber trotzdem nahe an einem Vollpensum. Will man diese Lehrpersonen wieder dazu bewegen, ein 100% Pensum anzunehmen und will man einen sich abzeichnenden Mangel an Klassenlehrpersonen verhindern, braucht es schlicht und einfach Massnahmen beim Berufsauftrag. Es braucht eine Umlagerung vom Arbeitsfeld Unterricht hin zum Arbeitsfeld Schülerin und Schüler im Umfang von einer Lektion für alle Lehrpersonen und von einer zusätzlichen Lektion für alle Klassenlehrpersonen. Das kostet, ja, sollte es der Politik aber wert sein, gerade wenn man die Abschlüsse in Kanton und Gemeinden der letzten Jahre anschaut. Nebenbei: Die Attraktivität eines Berufs misst sich auch an der Lohnentwicklung. Diesbezüglich hat sich in den letzten Jahren etwas getan, insbesondere bei den Einstiegslöhnen. Dennoch darf die weitere Entwicklung nicht ausser Acht gelassen werden.
Was sind weitere Gründe für die weit verbreitete Teilzeitarbeit? Nun, es ist eine Tatsache, dass insbesondere im Zyklus 1 und im Zyklus 2 die überwiegende Mehrheit der Lehrpersonen Frauen sind. Wenn diese eine Familie gründen, reduzieren sie oftmals ihr Pensum. Mit besseren Möglichkeiten, Familie und Beruf unter einen Hut zu bringen, würde einige von diesen bestausgebildeten Frauen wohl ihr Pensum erhöhen, etwas, was natürlich auch für andere Berufe – man denke an die Pflege – gilt. Zudem müsste endlich einmal überlegt werden, wie der Beruf auch für junge Männer wieder attraktiver gemacht werden kann. Und nicht zuletzt gilt es herauszufinden, wie viele Lehrpersonen nach wenigen Jahren warum aus dem Beruf aussteigen. Wüsste man dies, könnte man mit geeigneten Massnahmen Gegensteuer geben.
Jetzt sind alle gefragt:
Schliesslich sind auch die Pädagogischen Hochschulen gefordert, einerseits grundsätzlich, andrerseits fächerspezifisch, gibt es doch einen noch ausgeprägteren Mangel an Lehrpersonen in bestimmten Fächern wie z.B. TXG, Französisch oder in bestimmten Fachbereichen wie der Heilpädagogik.
Die PHs müssen so rasch wie möglich Ausbildungen für Quereinsteiger bieten unter Anrechnung der Vorausbildung. Dabei müssen auch die Pädagogischen Hochschulen eine gewisse Flexibilität zeigen und die Politik muss sich überlegen, wie man Quereinsteigende allenfalls finanziell unterstützen kann, damit jemand überhaupt in die Ausbildung einsteigt. Je nachdem muss auch die Ausbildung an sich in einzelnen Fächern überdacht werden, insbesondere was die C-Fächer angeht. Die Studierenden müssen in der Werkstatt oder im Handarbeitszimmer möglichst viel praktisch arbeiten, damit sie sich auch befähigt fühlen, diese Fächer zu unterrichten. Ebenso sind die Pädagogischen Hochschulen gefordert, vermehrt junge Männer anzusprechen. Zweifellos alles mehr oder weniger grosse Herausforderungen, aber jetzt ist definitiv die Zeit gekommen, diese anzupacken und auch mit unkonventionellen Lösungen das Problem anzugehen.
Auch der Kanton hat – wenn aus unserer Sicht auch mit mindestens drei Jahren Verspätung – reagiert und eine Arbeitsgruppe «Lehrpersonenmangel» ins Leben gerufen. Diese wird vor den Sommerferien erstmals zusammenkommen. Dabei sind natürlich keine Wunder zu erwarten, aber hoffentlich können die Weichen dafür gestellt werden, dass der Lehrpersonenmangel in wenigen Jahren behoben ist.
Der KLV St. Gallen wird sich für pragmatische, zukunftsgerichtete Lösungen stark machen. Kurzfristig wird wohl in der einen oder anderen Schulgemeinde die eine oder andere Kröte zu schlucken sein, wenn Ungelernte oder Klassenassistenzen plötzlich Klasse führen. Zweifellos sind dann auch die andern Lehrpersonen in diesen Schulhäuser zusätzlich gefordert. Die entsprechenden Schulgemeinden sind aufgefordert, Lehrpersonen, welche unausgebildete Quereinsteigerinnen und Quereinsteiger betreuen, zeitlich und / oder finanziell spürbar zu entlasten bzw. entschädigen. Dem BLD und der Politik muss bewusst sein, dass nach Jahren grosser, zusätzlicher Belastungen (grosse Projekte wie der neue Lehrplan, die neue Beurteilung oder die IT-Bildungsoffensive, aber auch Corona und die aktuelle Flüchtlingskrise) jetzt der Zeitpunkt gekommen ist, die Rahmenbedingungen deutlich zu verbessern, damit die zahlreichen Aufgaben bewältigt werden können. Gegen weitere «grosse Kisten» wird sich der KLV St. Gallen wehren, wenn nicht zuvor der Berufsauftrag entsprechend angepasst worden ist. Das Fass ist voll, vielleicht schon am Überquellen. Es gilt, den jetzigen Lehrpersonen Sorge zu tragen, damit diese nicht auch noch abspringen.