Nationalrätin über politische Bildung

«Lehrpersonen sollten ihre Meinung frei äussern dürfen»

Politische Bildung müsste schon im Kindesalter beginnen und sich durch die ganze Lernbiografie ziehen, findet SP-Nationalrätin Nadine Masshardt. Sie plädiert für eine offene politische Diskussionskultur an Schulen.

Nadine Masshardt steht beim Bundeshaus vor einem Brunnen.
Nadine Masshardt setzt sich als Nationalrätin für politische Bildung in der Schweiz ein. Fotos: Marion Bernet

BILDUNG SCHWEIZ: Am 15. September ist der Tag der Demokratie. Wie kamen Sie als Jugendliche zum ersten Mal mit dem politischen System der Schweiz in Berührung?

NADINE MASSHARDT: Während meiner Zeit am Gymnasium sollte auf kantonaler Ebene der Sportunterricht gekürzt werden. Dagegen wehrten wir Schülerinnen und Schüler uns mit einer Petition. Das war aber nur ein Berührungspunkt. Ich habe bereits früh gemerkt, dass Politik immer auch Alltag bedeutet – und Alltag Politik.

Wie haben Sie die politische Bildung während Ihrer Schulzeit wahrgenommen?

Im Geschichtsunterricht debattierten wir oft über aktuelle Abstimmungsvorlagen. Indem wir bewusst die Pro- oder Kontra-Haltung zu einem Thema einnahmen, lernten wir spielerisch die politische Debatte. Das war zwar toll, zeigte mir aber jedes Mal aufs Neue, dass ich trotz grossen Interesses und auch Wissens noch nicht mitbestimmen durfte.

Sie sind Präsidentin der Stiftung Dialog, die sich für politische Bildung und Partizipation einsetzt. Erhält politische Bildung in Schulen heutzutage genügend Aufmerksamkeit?

Nein. Das zeigt auch der easyvote-Politikmonitor von 2020. Demnach interessieren sich zwar fast drei Viertel der Schülerinnen und Schüler für politische Bildung. Gleichzeitig finden die Befragten jedoch auch, dass das Thema im Unterricht zu wenig Beachtung findet.

Teilen Sie diese Ansicht?

Es gibt noch viel Luft nach oben. Die Qualität der politischen Bildung ist heute zu stark von der jeweiligen Schule sowie von einzelnen Lehrerinnen und Lehrern abhängig.

Das tönt nach Kritik am Lehrplan 21.

Jein. Mir ist bewusst, dass die Dichte an Lernzielen im Lehrplan bereits sehr hoch ist. Ich mache niemandem einen Vorwurf, wenn die politische Bildung deshalb nicht oberste Priorität geniesst. Trotzdem muss die Frage sein: Wie lässt sich politische Bildung an Schulen stärken?

«Hinsichtlich der politischen Bildung sollten Lehrpersonen besser geschult werden.»

Was schwebt Ihnen vor?

Alle Lehrpersonen sollten während ihrer Ausbildungszeit an pädagogischen Hochschulen hinsichtlich der politischen Bildung besser geschult werden. Dabei geht es nicht ums Auswendiglernen, sondern ums Erleben und ums Steigern der Selbstsicherheit im Umgang damit. Zusätzlich braucht es eine stärkere Gewichtung in den Stundentafeln. So bleibt auch Zeit, die Lehrziele umzusetzen. In Zeiten von Digitalisierung und Fake News müssen wir alle unseren Beitrag zur Stärkung der Demokratie leisten.

Ein hehres Ziel. Wie soll das gelingen?

Indem Kinder und Jugendliche lernen, eine Meinung zu vertreten, zu diskutieren und auch kritisch zu hinterfragen. Das sind für mich zentrale politische und gesellschaftliche Kompetenzen. Politische Bildung ist nicht einfach das Auswendiglernen trockener Fakten.

Über Nadine Masshardt

Nadine Masshardt (38) trat gleich nach der Matura der SP bei und schaffte kurz darauf als jüngstes Mitglied die Wahl in den Stadtrat von Langenthal (BE). Von 2006 bis 2013 war sie Mitglied des Kantonsparlaments. Seit 2013 ist die Bernerin Nationalrätin und Vize-Fraktionspräsidentin. Masshardt präsidiert die Stiftung Dialog, die sich der Förderung der politischen Bildung in der Schweiz verschrieben hat.

Ab welchem Alter ist politische Bildung im Schulunterricht sinnvoll?

Politische Bildung sollte sich als roter Faden durch die Bildungsbiografie einer jeden Person ziehen. Bereits kleinen Kindern lassen sich Inhalte spielerisch vermitteln – etwa indem Kindergartenkinder lernen, mit Konflikten umzugehen.

Und die klassische Staatskunde?

Die braucht es auch, jedoch erst zu einem späteren Zeitpunkt. Ebenso wichtig sind zudem Aspekte der politischen Bildung wie Medienkompetenz oder die Fähigkeit, extreme Meinungen erkennen und richtig einordnen zu können.

Die politische Neutralität von Lehrpersonen ist medial immer wieder Thema. In Zürich wurden kürzlich Rücktrittsforderungen laut, nachdem ein Rektor die Besetzung seiner Kantonsschule geduldet hatte. Wie stehen Sie dazu?

Das Thema interessiert und soll diskutiert werden. Jedoch besteht die Gefahr, dass aus Angst vor negativen Konsequenzen gerade jene ausgebremst werden, die sich eigentlich für die politische Bildung engagieren möchten. Das gilt es zu verhindern.

Wie gelingt das?

Zum Beispiel mit dem sogenannten Beutelsbacher Konsens. Dieser kann Orientierung liefern für den politischen Unterricht. Demnach sollten Lehrpersonen die Schülerinnen und Schüler ermächtigen, sich selbst eine Meinung zu bilden. Ausserdem gilt das Kontroversitätsprinzip, wonach ein Thema kontrovers dargestellt und diskutiert werden soll, wenn es in der Wissenschaft oder Politik ebenfalls kontrovers diskutiert wird.

Die dritte Maxime des Beutelsbacher Konsens ist, dass Lehrpersonen ihre Meinung nicht der Klasse aufzwingen dürfen. Wie beurteilen Sie den Aspekt der politischen Einflussnahme?

Eine Lehrperson sollte ihre eigene Meinung zu einem Thema äussern dürfen, solange sie das klar als persönliche Ansicht deklariert. So kann dies für die Diskussion sogar bereichernd sein. Gleichzeitig ist niemand dazu verpflichtet, die persönlichen Ansichten zu äussern.

Sollten Lehrpersonen offen kommunizieren, wenn sie Mitglied einer Partei sind?

Wenn Schülerinnen und Schüler die Lehrperson direkt darauf ansprechen, sollte man transparent sein. Eine proaktive Kommunikation braucht es aber nicht – in anderen Berufen spielt die Parteimitgliedschaft ja auch keine Rolle.

«Auch in einem Verein oder bei der Pfadi lernt man seine eigene Meinung zu vertreten.»

Minderjährige dürfen nicht abstimmen. Wo ist politische Partizipation für Kinder und Jugendliche überhaupt möglich?

Schweizweit gibt es unterschiedlichste Angebote. In Bern etwa gibt es sowohl ein Kinder- als auch ein Jugendparlament. Aber auch in einem Verein oder bei der Pfadi lernt man, seine eigene Meinung zu vertreten oder sich in ein Team einzugliedern. Beides sind für mich politische Kompetenzen im weiteren Sinne.

Sie haben sich wiederholt, wenn auch bisher erfolglos, für das Stimmrechtsalter 16 eingesetzt. Was erhoffen Sie sich davon?

Ein tieferes Stimmrechtsalter würde die Lücke schliessen zwischen der Theorie, die wir alle in der Schule lernen, und dem Moment, in dem wir tatsächlich abstimmen dürfen. Könnten die Jugendlichen das Gelernte direkt anwenden, würde die politische Bildung in Schulen automatisch attraktiver.

Wie steht es um andere Bestrebungen zur Förderung der politischen Bildung?

Grundsätzlich herrscht in der Schweizer Politik der Konsens, dass politische Bildung gestärkt werden muss. Trotzdem lehnte der Ständerat dieses Jahr eine parlamentarische Initiative von mir ab, die eine Stärkung der politischen Bildung in der Berufsbildung zum Ziel hatte. Wenn es konkret wird, gibt es folglich noch viel Verbesserungspotenzial. Andere Länder sind da deutlich weiter.

Haben Sie konkrete Beispiele?

Beeindruckend ist etwa, was in Deutschland die Bundeszentrale für politische Bildung alles leistet. Ähnliches ist für die Schweiz wünschenswert. Der Diskurs darüber, was politische Bildung sein soll, ist in vielen Ländern weiter als bei uns.

Wie engagiert sich die Stiftung Dialog für die politische Bildung?

Wir verstehen uns einerseits als ein Netzwerk, das Menschen aus der Politik, der Forschung und weiteren Bereichen zusammenbringt und so neue Ideen ermöglicht. Andererseits setzen wir eigene Projekte um – etwa die Koordination des internationalen Tages der Demokratie oder das Wahlprojekt GoVote2023 zusammen mit anderen Organisationen.

Und welchen Beitrag zur politischen Bildung leisten Sie persönlich?

Für Interessierte biete ich auch zwischen den Sessionen Bundeshausführungen an. Dazu reicht eine Anfrage per Mail an mich. Immer wieder kommen so auch Schulklassen vorbei. Dabei zeigten sich bereits Viertklässlerinnen und Viertklässler sehr interessiert an den Abläufen im Bundeshaus. Das zeigte mir: Politisches Interesse ist keine Altersfrage.

Autor
Mathias Streit

Datum

29.08.2023

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