Parallelen zwischen Berufen

Lehren gleicht dem Dirigieren: Wer nicht authentisch ist, hat keine Chance

Orchester sowie Schulklassen befinden sich in einem Spannungsfeld aus Autorität, Individualismus und knapper Zeit. Dirigentin und Hochschuldozentin Graziella Contratto kennt beide Welten.

Graziella Contratto mit einem Dirigierstock in Händen.
Graziella Contratto ist Dirigentin und Dozentin. Beide Berufe erforderten sowohl Führungsqualitäten als auch Einfühlungsvermögen, sagt sie. Foto: Mark Baumgartner

Was antworten Lehrerinnen und Lehrer auf die Frage, welcher Beruf ihrem Selbstbild als Lehrperson am ehesten entspricht? Glaubt man einer Studie aus Israel, an der 60 Lehrpersonen einer Berufsschule teilnahmen, sind dies Tierpflegerinnen, gefolgt von Dirigenten und Ladenbesitzerinnen. Lehrpersonen mit leistungsstarken Klassen entschieden sich öfters für den Vergleich mit einem Dirigenten. Lehrpersonen mit leistungsschwachen Klassen identifizierten sich mehr mit dem Bild der Tierpflegerin.

«Ich finde Dirigentin ist ein passender Vergleich», sagt Graziella Contratto. Die in Schwyz aufgewachsene Dirigentin muss es wissen. Sie ist ausgebildete Pianistin, Musiktheoretikerin und Kapellmeisterin. Der Öffentlichkeit ist Contratto vor allem als Chefdirigentin, Intendantin und Dozentin bekannt. Bis 2022 leitete die Innerschweizerin zudem während elf Jahren den Fachbereich Musik an der Hochschule der Künste in Bern.

Ein Beruf – tausend Facetten

Ein guter Dirigent oder eine gute Dirigentin verfüge über die Fähigkeiten eines Verkehrspolizisten, einer Schamanin, eines Coaches und einer Psychologin, betont Contratto. Der Verkehrspolizist, der Ruhe und Ordnung ausstrahlt, sei gefragt, wenn klare Anweisungen und eine enge Begleitung notwendig sind. Die Schamanin verkörpere eine Vision. Begeisterung und Charisma prägen ihr Handeln. Der Coach hingegen agiere im zwischenmenschlichen Bereich, setze auf persönlichen Kontakt. Er sei beliebt und nahbar. Für den Psychologen sei Harmonie schaffen und Unruhe thematisieren wichtig.

«Es gilt, die passende Kombination aus all diesen Führungsstilen zu finden und dann situativ zu führen», erklärt Dirigentin Contratto. Das bedeutet: Im Flow sein und die Fakten im Kopf haben. Nähe schaffen und dennoch genügend Distanz halten. Individualität fördern und das «grosse Ganze» weiterentwickeln.

Contrattos Anforderungen an eine Dirigentin sind deckungsgleich mit den Erwartungen an eine Lehrperson: eine Mischung aus Wissen, Erfahrung, Emotionen und Unterstützung.

Ein Kind autoritärer Schule

Ihre eigene Schulerfahrungen prägen Graziella Contratto bis heute. Aufgewachsen in einem durchgetakteten, katholischen Umfeld, erlebte sie eine leistungsorientierte, autoritäre Erziehung. In der Primarschule in Schwyz war ein Lehrer für 33 Kinder zuständig. «Für meine Mutter waren gute Noten der Beweis, dass mit mir alles stimmte», erinnert sich die heute 57-Jährige. Die kleine Graziella lernte Geige, Klavier und Latein. Sie erfüllte die hohen Erwartungen und glänzt bis heute, als eine der wenigen Frauen, die international auf Weltklasseniveau dirigieren. Die Musikerin ist überzeugt, dass der Grundstein für gewisse Erfolge in ihrer Schulzeit gelegt wurde – menschlich, schulisch und musikalisch.

Einen neuen Blickwinkel auf die Schulwelt hat Contratto durch ihre 15-jährige Tochter und den Lehrplan 21 bekommen. «Die Lehrpersonen müssen extrem viel leisten, dabei sind Strukturen schwerer erkennbar als früher, alles muss interaktiv, spielerisch und ‹userfreundlich› sein», so Contratto. Disziplin und Drill seien eher verpönt, umschreibt sie ihren Blick als Mutter auf das Bildungssystem.

Ein Bedürfnis nach Autorität

Obwohl der Lehrplan Strukturen aufbricht und Lernfreiheit fördert, zeigt sich unter den Lernenden häufig ein Bedürfnis nach Kontrolle und Autorität. So erlebte es Contratto als Dozentin und Leiterin des Fachbereichs Musik der Hochschule der Künste Bern. «Erstaunlich ist, dass diese Lernenden dann oft ein ausgeprägtes Bedürfnis nach Autorität und klaren Anweisungen haben. Sie fordern von Dozierenden die Rolle der Verkehrspolizistin, wo eigentlich der Schamane stehen würde», umschreibt Contratto ihre Eindrücke.

«Das Orchester erwartete einen Führungsstil à la Napoleon, beharrte aber auf Mitspracherecht.»

Sie erinnert sich an ihre Erfahrungen zu Beginn ihrer Chefposition bei einem Orchester in Frankreich. «Das Orchester erwartete einen Führungsstil à la Napoleon, beharrte aber auf einem ausgeprägten Mitspracherecht.»

Freiheit und Originalität brauchen Zeit

Was junge Dirigenten und Dirigentinnen heute sehr oft fehle, sei Zeit für individuelle Entwicklung. «Sie ziehen sich auf TikTok und YouTube zehn verschiedene Interpretationen eines Werkes rein. Die Zeit für die eigene Analyse, die eigene Interpretation und das eigene Lernen fehlt. Verständnis und Entwicklung bleiben vielfach auf der Strecke oder machen mittelprächtigen Kopien Platz», umschreibt die erfahrene Dirigentin ihre Beobachtungen. Zeit als Mangelware und fehlender Raum für Entwicklung: zwei Aspekte, die auch den Alltag von Lehrpersonen prägen. Ist ein Orchester dennoch mit einer Schulklasse vergleichbar? Beim Orchester zählt aber die Performance. In der Schule der individuelle Lernfortschritt, geprägt durch integrativen und individualisierten Unterricht.

«Dirigierende und Lehrpersonen stehen im Dienst einer grösseren Sache.»

Sind das nicht zwei sehr unterschiedliche Welten? «Die beiden Welten sind aus meiner Perspektive immer noch sehr ähnlich. Dirigierende und Lehrpersonen stehen im Dienst einer grösseren Sache», ist Contratto überzeugt. «Beim Dirigieren ist es die Schönheit der Musik, das heisst die möglichst vollendete Interpretation eines Werks. Beim Unterrichten ist es der Wert der Bildung.» Die Schule sei durch Tests und Noten sehr leistungsorientiert und im Orchester sei individuelle Brillanz wichtiger denn je. «Musikerinnen und Musiker durchlaufen einen anspruchsvollen Probespielprozess und danach eine Probezeit. Gefordert werden Individualität und persönliche Entwicklung, aber auch das Integrieren in ein Kollektiv», sagt sie.

Eine der bekanntesten Ausbildungsstätten für junge Musiker, die Karajan-Akademie der Berliner Philharmoniker, setzt auf die Wirkung des Kollektivs durch Weitergeben einer Spieltradition. Gelernt wird mit und durch die Gemeinschaft von Spitzenprofis. Ob Musiker oder Dirigentin: Die Zeit der Diven ist in den meisten Orchestern vorbei. Es braucht Mut zur Demut. Wer nicht authentisch ist, hat keine Chance.

Es gibt kein Patentrezept

Authentizität spielt bei allen Führungspersonen eine wichtige Rolle. Dirigentin Contratto zeigt dies in ihren Leadership-Workshops auf. Wenn dabei eine Kaderperson zum ersten Mal ein Profi-Ensemble dirigiere, werde in Sekundenschnelle klar, ob Klarheit und Passion dominieren oder Schüchternheit oder gar Überheblichkeit.

Im vergangenen August hatten auch Lehrpersonen an der Tagung «Lerncoaching macht stark» an der Fachhochschule Nordwestschweiz die Möglichkeit zu entdecken, wo die Parallelen zwischen der klassischen Orchesterwelt und der Führungsaufgabe in einem Klassenbetrieb liegen. Im Zentrum des Workshops standen Fragen wie: Wie wird geführt? Und wie sehen Arbeitsbündnisse aus, die sowohl im Schul- als auch im Orchesterbereich glücklich machen? Allerdings kann auch Dirigentin Contratto kein Patentrezept dafür bieten, wie stark man ein Orchester oder eine Schulklasse steuern sollte, um Erfolge zu erzielen – und wie viel Spielraum nötig ist, um Eigenverantwortung zu fordern und zu fördern. Aufmerksam zuhören, klar den Ton angeben und dabei immer taktvoll bleiben, scheint ein guter Startpunkt zu sein.

Autor
Christa Wüthrich

Datum

12.02.2024

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