Kleider machen Leute, heisst es in Gottfried Kellers gleichnamiger Novelle von 1874. Die äussere Erscheinung eines Menschen hat demnach grossen Einfluss auf die soziale Wahrnehmung und den Status. Ein ähnliches Motiv verfolgt die Novelle «Der Mantel» des Literaten Nikolai Gogol, veröffentlicht 1842. Geschildert wird das Schicksal eines armseligen Petersburger Beamten, dessen Leben dank eines hübschen neuen Mantels eine wunderliche Wendung nimmt: Mitmenschen, die ihn zuvor gemieden haben, laden ihn plötzlich zu gesellschaftlichen Anlässen ein. Der Mantelträger fühlt sich erstmals beachtet und respektiert.
Die zwei Beispiele aus der Literatur des 19. Jahrhunderts suggerieren: Die Art und Weise, wie wir uns kleiden, kann nicht nur identitätsstiftend oder umsatzsteigernd wirken, sondern mitunter von gesellschaftlichen Machtmechanismen durchdrungen sein. Wer sich wohlhabend kleidet, hat bessere Chancen, in wohlhabendere Kreise eingeladen zu werden. Wer hingegen barfuss durch die Strassen schlendert, weckt Assoziationen von Verwahrlosung und Schmutz.
In Grossbritannien und Irland etwa sind Schuluniformen weit verbreitet: zur Förderung von Gleichheit und Gemeinschaftsgefühl.
Kein Wunder, beschäftigen sich auch die Schulen mit der Frage, was zum angemessenen Erscheinungsbild von ihren Schülerinnen und Schülern gehört. In Grossbritannien und Irland etwa sind Schuluniformen weit verbreitet: zur Förderung von Gleichheit und Gemeinschaftsgefühl, zur stärkeren Identifikation mit der Schule, aber auch, um sichtbare soziale Unterschiede bei Lehrpersonen, Schülerinnen und Schülern zu verschleiern, wie es heisst.
Sichtbare Unterwäsche unerwünscht
Bei uns in der Schweiz wiederum existieren keine einheitlichen Vorschriften bezüglich Kleiderstandards an Schulen. Die Frage wird auf kantonaler oder kommunaler, ja gar Ebene einzelner Schulen geregelt. So etwa an der Schule Jegenstorf im Berner Mittelland. Angelehnt an ihr Leitbild, hat die Schulleitung hier eigene Kleiderstandards entwickelt: Aus Rücksicht und Respekt gegenüber Mitschülerinnen, Mitschülern und Mitarbeitenden ist in Jegenstorf auf sichtbare Unterwäsche, durchsichtige Kleidung und solche mit tiefem Ausschnitt zu verzichten, ebenso auf knappe Shorts, Jupes oder Röcke.
In Jegenstorf ist auf sichtbare Unterwäsche sowie auf Kleidung mit tiefem Ausschnitt zu verzichten.
Rolf Zimmermann ist seit diesem Schuljahr der verantwortliche Abteilungsleiter für Bildung und Kultur. «Jede Gesellschaft baut auf bestimmten Normen auf», sagt Zimmermann. «Bezüglich Kleidung ist hierbei zu unterscheiden zwischen Arbeits- und Freizeitleben.»
Mit dem in den Kleiderstandards festgeschriebenen Verzicht auf respektlose oder provozierende Kleidung, aber auch auf Gewalt- und Kampfsymbole sowie auf Kopfbedeckungen während des Unterrichts (ausgenommen sind religiös verankerte Kopfbedeckungen) will die Schule Jegenstorf niemanden diskriminieren. Ziel ist es, eine bestimmte Norm zu etablieren, die ein Minimum an Angemessenheit und Respekt gegenüber Mitmenschen garantiert, ohne dabei einem individuellen Kleidungsstil im Wege zu stehen.