Klimaaktivismus am Gymnasium

Ist politischer Aktivismus im Schulhaus ein Bildungsanlass?

Wenn Aktivistinnen und Aktivisten ein Schulhaus kapern, wird’s für die Verantwortlichen heikel. Was daraus entsteht, muss aber nicht in jedem Fall eine ernste Krise sein. Besetzungen seien jedoch keine Anlässe für politische Bildung, betont ein Rektor.

Blick auf das Bundeshaus in Bern. Foto: Parlamentsdienste 3003 Bern/Béatrice Devènes
Das Bundeshaus befindet sich in unmittelbarer Nähe des Gymnasiums Kirchenfeld. Der Besuch einer Session gehört deshalb für jede Klasse dazu. Foto: Parlamentsdienste 3003 Bern/Béatrice Devènes

Rektoren dreier Gymnasien mussten in den vergangenen Monaten eine brenzlige Situation meistern: Junge Klimaaktivistinnen und -aktivisten besetzten illegal ihre Schulhäuser. In Basel zeigten sowohl die Schulleitung als auch der Kanton Wohlwollen gegenüber den eingedrungenen jungen Leuten. Auch in Zürich wurde eine Eskalation vermieden. Im Nachgang wurde von bürgerlicher Seite der Rücktritt des Rektors gefordert. Dies, weil der Rektor als ehemaliger SP-Kantonsrat zu wenig neutral sei. So weit kam es dann nicht. In Bern, das drei Monate später an der Reihe war, gab es vergleichsweise wenig Wirbel.

Bedenken des obersten Gymilehrers

Lucius Hartmann, Präsident des Vereins Schweizerischer Gymnasiallehrerinnen und -lehrer, skizzierte im Februar 2023 als Reaktion auf die Besetzungen in Basel und Zürich in der «NZZ am Sonntag» das heikle Terrain: Man hätte klarere Signale aussenden müssen. Nun sei der Eindruck entstanden, dass an den Gymnasien gewisse politische Ansichten eher toleriert oder gar unterstützt würden als andere. «Das ist aus Sicht der politischen Neutralität sehr problematisch», wurde er zitiert. Warum kam es in Bern anders? Im Gespräch mit André Lorenzetti, dem Rektor des betroffenen Gymnasiums Kirchenfeld, kristallisieren sich zwei Gründe heraus. Erstens sah sich der Rektor grundsätzlich vor: Er gehört bewusst keiner Partei an. Zweitens kam die Besetzung drei Monate später als in Basel und Zürich. Die Schule hatte einen Plan, wie sie auf die Provokation reagieren würde.

«Das ist aus Sicht der politischen Neutralität sehr problematisch.»

Ein Bildungsanlass? Eigentlich nicht

Der Standpunkt war jener des Hausherrn: Das widerrechtliche Eindringen in die Räume ist eigentlich ein ungeschickt vorgetragenes Benützungsgesuch für eine bildungsnahe, aber ausserschulische Veranstaltung. Am Morgen des 6. Juni trifft Lorenzetti vor dem Haus die Besetzerinnen und Besetzer. Dabei erläuterte er diese Sichtweise und erinnerte sie daran, dass sie mit dieser Grenzüberschreitung gegen eigene Grundsätze verstossen würden. Das sahen diese ein. Die Schule willigte daraufhin ein, dass in einem Raum Veranstaltungen stattfinden durften. Dies unter der Bedingung, dass der Schulbetrieb normal funktionieren kann und am Nachmittag Schluss ist. Zudem erhielten neben den Klimabewegten der Jungfreisinn und später auch die Juso dieselben Möglichkeiten. Aus der illegalen Aktion wurde so etwas wie politische Bildung aus konkretem Anlass.

«Das Behäbige am demokratischen und föderalistischen System passt mir eigentlich ganz gut.»

Auf die Frage, ob sich eine Besetzung so nutzen lasse, entgegnet Lorenzetti: «Eigentlich nein.» Für ihn war es schlicht der Ausweg aus einer verzwickten Situation. Hartmanns Kritik lässt er für das Gymnasium Kirchenfeld nicht gelten. Denn die Lösung sei ausgewogen gewesen. Konkret sah sie so aus: Wer teilnehmen wollte, durfte das, musste aber einen der fünf frei einsetzbaren Halbtage opfern. Wer keine mehr hatte, musste einen Text verfassen und einreichen. Darin waren unterschiedliche Standpunkte zum Thema zu erörtern. Laut Lorenzetti wurden 13 Texte abgegeben.

Darauf angesprochen, was er denn unter regulärer politischer Bildung versteht, verweist Lorenzetti auf den bernischen Lehrplan für den gymnasialen Bildungsgang. Dort steht: «Die politische Bildung als Teil des Geschichtsunterrichts vermittelt politisches Grundwissen und fördert dadurch das Interesse an politischen Fragen sowie die Fähigkeit zur Meinungsbildung und die Bereitschaft zur aktiven Teilnahme an politischen Vorgängen in der Gegenwart.»

Dass dieser Auftrag mit Aktualität verknüpft werden soll, steht für Lorenzetti ausser Frage. Aktuelle Themen sind für ihn Abstimmungen oder die bevorstehenden nationalen Wahlen. Um die Lust und die Fähigkeit zu debattieren zu fördern, nimmt das Gymnasium am Wettbewerb «Jugend debattiert» des Vereins Young Enterprise Switzerland teil. Ein Detail hat es Lorenzetti sehr angetan: «Die Position, die zu vertreten ist, wird per Los gezogen.» Es gehe also wirklich um das Knowhow des Überzeugens.

Standard ist an seinem Gymnasium der Besuch einer Session des Bundesparlaments – ein Privileg der günstigen Lage quasi vis-à-vis des Bundeshauses. Insgesamt gebe es ein Basisangebot für alle und dann fakultative Vertiefungen für speziell Interessierte, wie in anderen Bereichen auch. Von illegalen Aktionen hält der Rektor auch nach der gut gemeisterten Situation wenig: «Das Behäbige am demokratischen und föderalistischen System passt mir eigentlich ganz gut.»

Der Vorwurf politischer Beeinflussung

Dem pauschalen Vorwurf, Lehrpersonen seien links und beeinflussten ihre Schülerinnen und Schüler, wie sie auch in einer Umfrage von BILDUNG SCHWEIZ geäussert wurde, hält er überzeugt dagegen: Er kenne die politische Ausrichtung der einzelnen Lehrpersonen nicht, weil sich diese im schulischen Kontext nicht manifestierten. Eine politische Beeinflussung könne er zumindest für das Gymnasium Kirchenfeld ausschliessen. Im Kanton Aargau gab es sogar eine Studie dazu, weil Gymnasiasten in ihrer Maturaarbeit diesen Vorwurf erhoben hatten. Die vom Kanton veranlasste Untersuchung fand jedoch keine Anzeichen für einen Unterricht mit politischer Schlagseite.

Für Lorenzetti ist die Besetzungsaffäre abgehakt. Politisch blieb es bei einer folgenlosen Anfrage im Kantonsparlament. Den Hausfriedensbruch zeigte er nicht an. Hingegen erstattete er Anzeige gegen unbekannt wegen der unbewilligten Plakatierung zur Ankündigung der Aktion. Anlass für disziplinarische Massnahmen gegen Schülerinnen und Schüler gab es nicht.

Kommentar zu politischer Bildung von Sandra Locher Benguerel, Mitglied der Geschäftsleitung des Dachverbands Lehrerinnen und Lehrer Schweiz

Autor
Christoph Aebischer

Datum

28.09.2023

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