Schulbesuch in Rotkreuz im Kanton Zug

«Integrative Schule ist permanente Aufklärungsarbeit»

Wie gelingt die Integration von Schülerinnen und Schülern mit Sonderschulstatus in eine Klasse? Entscheidend ist, dass die beteiligten Lehrpersonen als Team funktionieren. Ganz ohne separierte Einzelbetreuung geht es nicht, wie ein Schulbesuch in Rotkreuz zeigt.

Mathematik geht für Arbian (links) und Erjan abseits der Klasse besser. Heilpädagogin Sandra Bänziger betreut die beiden dann individuell. Fotos: Gion Pfander

Erjan zieht die Monsterkarte und verwirft die Hände – sieben Felder zurück! Er zählt vorsichtig und setzt seine Spielfigur auf die 54. «Wie heisst die Zahl?», fragt die Lehrerin. Erjan sagt zuerst 45 und korrigiert sich sogleich selbst: 54.

Nun ist Arbian an der Reihe und hat einen Lauf: Er zieht eine Zahlenkarte nach der anderen vom Stapel und zählt fleissig Feld um Feld, die er vorrücken kann – bis auch ihm das Monster in die Quere kommt. Das einfache Spiel hilft den beiden Viertklässlern, sich im Hunderterraum zu orientieren und ist eine willkommene Abwechslung.

«In Mathematik können sich Erjan und Arbian besser konzentrieren, wenn sie im separaten Raum sitzen.»

Nach dem Spiel ist Konzentration gefragt: Erjan und Arbian lösen Aufgaben im Heft. Sie sitzen in einem separaten Raum, von ihrer Klasse durch eine Glastüre abgetrennt. Diese rechnet nebenan bereits im Millionenraum. «In Mathematik können sich Erjan und Arbian besser konzentrieren, wenn sie im separaten Raum sitzen», sagt Heilpädagogin Sandra Bänziger, die in Risch-Rotkreuz (ZG) in drei Klassen für die Integration zuständig ist. Ansonsten arbeitet sie mit den beiden möglichst oft partizipativ, damit sie Teil der Klasse sind.

In Fächern wie Englisch oder Natur, Mensch und Gesellschaft funktioniert das gut. In Mathematik oder Deutsch hingegen sind die beiden Schüler mit Sonderschulstatus an einem anderen Punkt als die restliche Klasse. Es zeigt sich schnell, dass Erjan und Arbian die enge Betreuung durch die schulische Heilpädagogin brauchen. Nach 15 Minuten selbstständigem Rechnen schwindet die Konzentration. Erjan ist zudem erkältet – das stört ihn. «Sie können sich maximal 30 Minuten konzentrieren», sagt Bänziger.

Für Dorothee Miyoshi, Mitglied der Geschäftsleitung LCH, ist eine Rückkehr zu einer separativen Schule kein gangbarer Weg. Sie fordert in einem Kommentar die Bildungsverantwortlichen auf, die integrative Schule zu stärken.

Da kommt ein Quiz wie gerufen. Zwei Mitschüler haben Fragen zur Klassenlektüre zusammengestellt. Erjan und Arbian haben an ihr Pult im Klassenzimmer gewechselt und sind jetzt Teil des lebhaften Ganzen. Der Sonderstatus wird unsichtbar. «Die Mitschülerinnen und Mitschüler helfen ihnen und unterstützen sie», erläutert Bänziger. Auch wenn die beiden beim Quiz an vielen Fragen scheitern, weil sie das Buch nicht gelesen haben. Das frustriert Erjan, aber auch Scheitern gehört zum Lernprozess: Er wollte es allein probieren.

Eine gefragte Fachperson

Bänziger hat nach 15 Jahren als Primarlehrerin die Ausbildung zur Schulischen Heilpädagogin absolviert und arbeitet seit vier Jahren an der Primarschule in Rotkreuz. Zwölf Lektionen stehen ihr für die vierte Klasse von Erjan und Arbian pro Woche zur Verfügung – vier pro Kind und vier weitere, in denen sie die Klassenlehrerin unterstützt oder auch einmal vertritt. Zudem bietet sie freiwillige Hausaufgaben- und Lerncoachings für alle an. Die Zeit mit der ganzen Klasse ist Bänziger wichtig: «So kann ich eine Beziehung zu allen Kindern aufbauen.»

 

Fachpersonen wie sie sind gefragt. «Wir haben seit 20 Jahren zu wenig Heilpädagoginnen und -pädagogen und nicht einmal die Hälfte der heilpädagogisch tätigen Personen ist entsprechend ausgebildet», sagte kürzlich Dagmar Rösler, Präsidentin des Dachverbands Lehrerinnen und Lehrer Schweiz (LCH), in einem Interview mit dem «Blick». Sie warnt, dass die Belastungsgrenze für die integrative Schule erreicht sei.

«Wir haben seit 20 Jahren zu wenig Heilpädagoginnen und -pädagogen.»

Die sechs Lektionen Heilpädagogik, Logopädie und Psychomotorik, die Schülerinnen und Schülern mit Sonderschulstatus wöchentlich zur Verfügung stehen, findet Bänziger knapp, aber ausreichend. Sie sieht «ihre» Kinder aber nur in bestimmten Zeitfenstern. Sie fände eine permanente Betreuung der Klasse durch zwei Fachpersonen wünschenswert, wie das von verschiedenen Seiten gefordert wird: «Um dem individuellen Gedanken und der Integration gerecht zu werden, bräuchte es eine permanente Doppelbetreuung in der Klasse. Kinder sind heute individueller und lebhafter unterwegs. Gleichzeitig steigt der Dokumentationsaufwand», stellt Bänziger fest.

Auswahl bieten statt Druck ausüben

Trotz des integrativen Modells braucht es wie bei Erjan und Arbian immer wieder Einzelbetreuung in einem separaten Zimmer, um auf die Bedürfnisse der Kinder eingehen zu können. Ein weiteres Beispiel ist eine Sechstklässlerin, die ebenfalls von Bänziger betreut wird: Wegen ihrer Beeinträchtigungen im kognitiven Bereich braucht sie vor allem in Mathematik, Französisch und Deutsch Unterstützung.

«Es ist wichtig für die Schülerin, dass sie mitbestimmen kann.»

Bei ihr zeigt sich, wie individuell die Herausforderungen sind, die Kinder mit Sonderschulstatus mitbringen. Wenn die stille und zurückhaltende Schülerin an ihren Fähigkeiten zweifelt, kann es dazu führen, dass sie sich nicht auf das Lernen und Arbeiten einlässt. Druck hilft da nicht weiter – im Gegenteil, weiss Bänziger. «Ich gebe ihr deshalb oft eine Auswahl. Es ist wichtig für sie, dass sie mitbestimmen kann. Ohne Motivation geht es nicht.»

Das gilt nicht nur für schulischen Stoff, sondern auch für Ämtli, die sie daheim im Haushalt erledigen sollte. Bänziger und das Mädchen gehen den Wochenplan zusammen durch und besprechen, was ansteht, was erledigt wurde oder eben nicht, und welche Unterstützung sie braucht. In einer Projektarbeit hat sich die Sechstklässlerin kürzlich damit befasst, wie die Farben in einem Regenbogen entstehen – und nun erklärt sie Bänziger ihre Erkenntnisse. «Das wäre etwas, das in der Klasse ohne Begleitung nicht möglich wäre», sagt die Heilpädagogin.

Die Schülerin arbeitet während vier Lektionen pro Woche mit Bänziger. Zusätzlich besucht sie eine Lektion Psychomotorik oder erhält Unterstützung durch eine Klassenassistenz. Auch in Fächern wie Zeichnen, Werken oder Natur, Mensch und Gesellschaft braucht die Schülerin Unterstützung. Diese erhält sie auch aus der Klasse: «Andere Kinder helfen ihr sehr gerne», sagt Bänziger.

Trotz allem Teil der Klasse sein

Entscheidend für eine gelungene Integration der «Sonderschülerinnen» und «Sonderschüler» in der Klasse sei, dass die Heilpädagogik nicht als Sondersetting angeschaut werde, sondern als Teil des Ganzen. Bänziger ist zusammen mit der Klassenlehrperson und anderen Beteiligten ein Team und kennt alle Schülerinnen und Schüler. Es gibt einen permanenten Austausch und Bänziger hat das Handy meist griffbereit. «Wenn es irgendwo brennt, dürfen andere Lehrpersonen immer anrufen.»

Zu dieser informellen Beratung gibt es bezahlte Besprechungszeit, in der jede Woche die Klasse und die Kinder mit Sonderschulstatus separat besprochen werden. «Es findet ein regelmässiger Austausch mit allen Beteiligten statt. Ich bekomme so mit, was passiert, wenn ich nicht in der Klasse bin», sagt Bänziger. Eine integrative Schule sei permanente Aufklärungsarbeit – nicht nur gegen aussen, sondern auch im Team.

Umgang mit dem Besonderen lernen

Die Heilpädagogin ist überzeugt, dass die ganze Klasse profitiert, wenn Schülerinnen und Schüler mit Sonderschulstatus integriert werden. «Sie lernen damit umzugehen, dass es Kinder gibt, die unterschiedliche Bedürfnisse haben.» Aber das ist ein aufwendiger Lernprozess, bei dem etwa das Buch «Alle behindert» hilft. Es zeigt auf erfrischende Art, dass jedes Kind irgendwo eine Beeinträchtigung hat, auf seine Weise «besonders» ist.

Die Kinder sollen spüren: Trotz Unterschieden wird zu allen geschaut.

Die Diskussionen mit den Kindern seien spannend, sagt Bänziger. «Indem sie über ihre eigenen grösseren und kleineren Hindernisse berichten, können wir ihnen erklären, dass gewisse Mitschülerinnen und Mitschüler mehr Unterstützung brauchen.» Oder dass einzelne Schüler andere Lernziele, Hausaufgaben oder Prüfungen haben. Wenn das Kinder zunächst unfair finden, liegt es an der Lehrperson, das zu erklären. Letztlich soll die ganze Klasse spüren: Trotz Unterschieden wird zu allen Schülerinnen und Schülern geschaut.

Politische Kontroverse

Im Kanton Basel-Stadt kam vor zwei Jahren eine Volksinitiative zustande, die eine zumindest teilweise Rückkehr zu Kleinklassen fordert, konkret Förderklassen genannt. Momentan wird um einen Kompromiss gerungen. Basel-Stadt setzt die integrative Schule konsequenter um als andere Kantone, in denen es weiterhin separative Angebote gibt.

Im Kanton Zürich werden noch bis am 19. Juli Unterschriften für ein ähnliches Volksbegehren wie in Basel gesammelt. Das Initiativkomitee äusserte sich gegenüber dem «Tages-Anzeiger» zuversichtlich, dass die nötigen 6000 Unterschriften zusammenkommen.

Die kantonalen Sektionen des Dachverbands Lehrerinnen und Lehrer Schweiz haben sich unterschiedlich positioniert. Während in Basel die Sektion im kantonalen Komitee sitzt, macht die Zürcher Sektion nicht mit. 

Die Delegierten der FDP Schweiz haben am 22. Juni ein Positionspapier zur Bildung verabschiedet, das sich unter anderem kritisch zur integrativen Schule äussert. Integration sei zwar erstrebenswert, aber Inklusion um jeden Preis nicht zielführend. Das Positionspapier provozierte schon vor dessen Verabschiedung in den Medien viele Reaktionen, darunter etliche empörte. (ca)

Autor
Jonas Wydler

Datum

01.07.2024

Themen