Frühförderung

In Visp schnuppern Kinder Kindergartenluft

Wegen der Industrie gibt es in Visp viele Kinder mit ausländischen Eltern. Ein von der Pestalozzi-Stiftung ausgezeichnetes Frühförderungsprojekt verbessert so deren Startchancen mit Schnupperstunden im Kindergarten.

Laetitia Heinzmann zeigt einem Kind, wie es eine Schublade an einem bunten Elefanten öffnen kann.
Laetitia Heinzmann zeigt einem Kind, wie es eine Schublade an einem bunten Elefanten öffnen kann. Fotos: Roger Wehrli

Es gibt zwei Wege aus dem Bahnhof Visp im Kanton Wallis: Der eine führt in die kleine, aber feine Innenstadt, der andere führt ins Industriequartier. Dort befindet sich ein Kindergarten, wo Buben und Mädchen aus den umliegenden Quartieren gewissermassen Schnupperstunden besuchen dürfen. Mit diesem Angebot will die schulische Heilpädagogin Laetitia Heinzmann Kindern den Einstieg ins Schulleben erleichtern.

Ihr Projekt «Chancenannäherung durch begleiteten Schuleinstieg» hat den Frühförderungspreis 2024 der Pestalozzi-Stiftung und des Dachverbands Lehrerinnen und Lehrer Schweiz (LCH) erhalten. Es ist für alle Kinder offen. Doch richtet es sich insbesondere an Buben und Mädchen mit Migrationshintergrund und besonderen Bedürfnissen. Die kleinen Teilnehmerinnen und Teilnehmer sind zwischen drei und vier Jahre alt und werden ab dem nächsten Schuljahr den regulären Kindergarten besuchen.

Der Frühförderungspreis für Berggebiete


Die Pestalozzi-Stiftung fördert in Zusammenarbeit mit dem Dachverband Lehrerinnen und Lehrer Schweiz (LCH) die Qualität des Bildungsstandorts Schweiz und die Chancengleichheit von jungen Menschen in Berg- und Randgebieten. Das im Artikel beschriebene Projekt wurde im November 2024 mit dem Frühförderungspreis und der Preissumme von 25 000 Franken ausgezeichnet. Mehr Informationen zum Projekt gibt es auf der zugehörigen Website: schulstartpioniere.ch.

Die mit je 10 000 Franken dotierten Anerkennungspreise wurden für das kreativitätsfördernde Projekt «Art’Mini outdoor» des Vereins Compagnie Digestif in Salgesch und die neue Kinderkrippe Capriola im Albulatal, die zum Verein Kibe Laibella gehört, vergeben.

Dass die Kinder heutzutage überhaupt so jung in die Schule eintreten, liegt an der Einführung von Harmos im Jahr 2007 – also der interkantonalen Vereinbarung über die Harmonisierung der obligatorischen Schule. «Diese Veränderung hatte entscheidende Folgen für den Schuleintritt und war mit ein Grund, weshalb ich mein Frühförderprojekt ins Leben rief», erinnert sich Heinzmann. 

«Die Kinder können bei uns Abläufe im Kindergarten kennenlernen, die bald zu ihrem Alltag gehören.»

Das jüngere Alter zum Schulstart bedeutet auch, dass die Kinder weniger weit entwickelt sind. Aus praktischer Erfahrung weiss die Pädagogin um die Dringlichkeit und Bedeutung, Kinder dieses Alters auf das Kommende vorzubereiten. «Bei uns haben Mädchen und Buben Gelegenheit, Abläufe kennenzulernen, die im Kindergarten schon bald zu ihrem Alltag gehören», sagt Heinzmann. «Das gibt nicht nur den Kindern Sicherheit, sondern auch deren Eltern, die vom neuen Schulsystem manchmal selbst verunsichert sind.»

Abschied nehmen will gelernt sein

Die 34 angemeldeten Kinder haben von Januar bis Juni Gelegenheit, einmal pro Woche in die Welt des Kindergartens einzutauchen. Hierzu werden sie in zwei Gruppen unterteilt, die nacheinander eineinhalb Stunden lang vor Ort sind.

Manchen Kindern fällt der Abschied von den Eltern sehr schwer. Während ein Mädchen, das zum ersten Mal in der Gruppe ist, seelenruhig mit den Puppen spielt, schreit und weint ein Junge beim Abschied von der Mutter, als ob er sein Mami nie wieder sehen würde. Das sind Momente, die dem fünfköpfigen Projektteam viel Fingerspitzengefühl und Professionalität abverlangen – sowohl im Umgang mit dem Kind als auch mit dessen Eltern.

Kann sich ein Kind kaum beruhigen, lassen sich manchmal auch andere von dessen herzerweichendem Weinen anstecken. Dann gilt es, sich besonders liebevoll um die Kleinen zu kümmern und sie so geschickt wie möglich abzulenken. Das gelingt beispielsweise mit spannenden Spielsachen – oder wie am Tag des Besuchs von BILDUNG SCHWEIZ mit einer schönen Geschichte, die Heinzmann mit grosser Gestik vorträgt, nachdem sich alle im Kreis versammelt haben. Schon kurz darauf beruhigen sich selbst die aufgeregtesten Kinder.

Grundregeln des sozialen Miteinanders

Verse, Lieder und Geschichten schaffen im Schnupperkindergarten eine beruhigende Atmosphäre. Da geht der Trennungsschmerz schnell vergessen. Auch die Ruhe und die Gelassenheit von Heinzmann und ihren Kolleginnen tragen dazu bei. Diese und andere Momente lassen immer wieder die Grundsätze von Heinzmanns Projekt durchscheinen. Das wichtigste Ziel ist, dass die Kinder sich mit sich selbst und mit ihrer Umgebung auseinandersetzen können. Nebst den Sinneserfahrungen stehen der Austausch und die Kontaktaufnahme zu den anderen Kindern im Zentrum.

Die meist aus fremdsprachigen Kleinfamilien stammenden Kinder können an diesem Ort das üben, was für das ganze weitere Leben von zentraler Bedeutung sein wird: Kommunizieren, Zuhören, Rücksichtnahme und Durchsetzungsvermögen – die Grundpfeiler eines sozialen Miteinanders. 

Die Pädagoginnen halten geschickt die Balance zwischen Hoch- und Walliserdeutsch.

Ausserdem, und das ist beinahe ebenso wichtig, tauchen sie nach und nach in die hier gebräuchliche Sprache ein. Die Pädagoginnen halten dazu geschickt die Balance zwischen Hoch- und Walliserdeutsch. Mal kommt in einer kleinen Geschichte das eine, mal in einem Liedchen das andere zum Tragen.

Aktiver Umgang mit Herausforderungen

Die Gemeinde Visp ist kein dörfliches Walliser Idyll, sondern ein Industriestandort und wichtigster Arbeitgeber der Region. Das hat in erster Linie mit dem hier ansässigen Pharmazulieferer Lonza zu tun. Die Arbeitnehmenden kommen aus zahlreichen Ländern und verschiedenen sozialen Schichten. 

Die industrielle Entwicklung hat sich in den letzten Jahren markant beschleunigt, was sich auch auf die Zusammensetzung der Bevölkerung auswirkt. Die schulischen Herausforderungen werden dadurch nicht kleiner.

Das hat die Gemeinde frühzeitig erkannt und dementsprechend positiv auf das von Heinzmann eingereichte Frühförderprojekt reagiert. Seit 2017 unterstützt sie es sowohl ideell als auch finanziell. Die Idee: Je besser ausländische Familien mit der hiesigen Gesellschaft und Kultur vertraut gemacht werden, desto einfacher fällt die Integration in das hiesige Schulsystem. 

Das Konzept hat auch die Jury der Pestalozzi-Stiftung überzeugt, weshalb der Hauptpreis nach Visp geht. In der Begründung schreibt die Jury, dass die Initiantinnen des Projekts auf die herausfordernde Situation in der Gemeinde reagieren, indem Kinder – insbesondere solche mit Migrationshintergrund und besonderen Bedürfnissen – bewusst auf den Kindergarten vorbereitet werden. Das verbessere die Bildungschancen dieser Kinder.

Heinzmann und ihr Team sind darum besorgt, den Ansprüchen aller anwesenden Kindern gerecht zu werden. Das gilt auch für einen Jungen, der nicht am Unterricht im Kreis teilnehmen will. Bei seinem Eintreffen steuert er ohne Umwege auf die Malecke zu. 

Dort hat die Maltherapeutin alle Hände voll damit zu tun, zu verhindern, dass der Junge in seinem unkontrollierten Überschwang sämtliche Malkästen und Wasserbecher zu Boden wirft. Mit etwas Geduld gelingt es ihr, das Kind zu beruhigen. Die anderen Mädchen und Buben kriegen davon kaum etwas mit. Sie sind in ihrem Freispiel versunken.

Auch das gemeinsame Znüni lehrt die Kinder, aufeinander einzugehen.

Es ist schön zu beobachten, wie das Knüpfen der Kontakte untereinander voranschreitet. Die vielen verschiedenen Sprachen stellen dabei keine grosse Hürde dar und die Kommunikation erfolgt überwiegend spielerisch. Während die Kinder spielen und malen, bereitet Heinzmann den Znüni vor. Eingenommen am grossen Tisch, wird auch dieser ein Gemeinschaftserlebnis, das die Kinder lehrt, aufeinander einzugehen. Und vor allem schmeckt er einfach ausgezeichnet.

Autor
Roger Wehrli

Datum

23.04.2025

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