Lernwissenschaft

So führt Scheitern zum Ziel

Wer beim Lernen an einer Aufgabe vorerst scheitert, lernt nachhaltiger. Was dahinter steckt, erklärt Manu Kapur im Interview. Der Professor für Lernwissenschaften an der ETH Zürich erforscht einen Mechanismus, der in Fachkreisen als «Produktives Scheitern» bekannt ist.

Porträt von Manu Kapur, Professor für Lernwissenschaften an der ETH Zürich.
Manu Kapur, Professor für Lernwissenschaften an der ETH Zürich, forscht zu Produktivem Scheitern. Fotos: Philippe Baer

BILDUNG SCHWEIZ: Sie erforschen, wie wir aus dem Scheitern lernen können. Wann in Ihrer Karriere sind Sie selbst gescheitert – und haben daraus gelernt?

MANU KAPUR: Besonders in Erinnerung geblieben ist mir eine Abschlussarbeit, die ich gegen Ende meines Bachelorstudiums in Maschinenbau schreiben musste. Das Thema der Arbeit bestand darin, ein ingenieurwissenschaftliches Problem mathematisch anzugehen. Mein Dozent stellte mich dabei vor eine mathematische Aufgabe, die ich lösen sollte. Er lieferte mir dazu über mehrere Monate hinweg Hinweise. Mithilfe seiner Tipps probierte ich in dieser Zeit, die Aufgabe zu lösen – mit wenig Erfolg. Irgendwann wurde ich nervös: Der Abgabetermin der Arbeit stand bevor, aber die Aufgabe war noch immer nicht gelöst. Ich bat meinen Dozenten nochmals um Rat. Da sagte er mir: «Mach dir keine Sorgen. Meine Tipps führen dich alle nicht zum korrekten Resultat – ich wollte, dass du ausprobierst.» Sein Ziel war, dass ich lernte, welche Herangehensweisen nicht funktionieren. So sollte ich das Problem besser verstehen.

Wie haben Sie reagiert?

Ich war zuerst wütend. Dann setzte ich mich aber doch nochmals an die Aufgabe. Es zeigte sich, dass sie mathematisch gar nicht lösbar war. Die Lösung bestand darin, dass ich dazu ein Computerprogramm schreiben musste. Und tatsächlich: Durch das häufige Probieren und die gescheiterten Versuche verstand ich die Thematik nun tatsächlich sehr gut. Die Abschlussarbeit konnte ich schnell fertigstellen.

Diese Methode des Ausprobierens heisst in der Lernwissenschaft «Productive failure» – «Produktives Scheitern». Sie forschen seit mehreren Jahren dazu. Warum funktioniert dieser Ansatz?

Es gibt vier Mechanismen, die beim Produktiven Scheitern wirken: Aktivierung, Bewusstwerden, Aufarbeitung und Auflösung. Das heisst: Zuerst müssen wir vorhandenes Vorwissen im Gehirn aktivieren. Dann wird uns bewusst, dass wir die Aufgabe damit nicht lösen können und dass wir eine Wissenslücke haben. Mit dem Bewusstsein kommt die Motivation, die Lücke zu schliessen und benötigte Fähigkeiten zu erlangen, uns also weiterzuentwickeln. Abschliessend hilft uns eine Lehrperson, alle Teile zusammenzufügen und die Aufgabe zu lösen. Wichtig ist: Ohne den letzten Schritt, also die Hilfestellung durch die Lehrperson, klappt das Produktive Scheitern nicht. Wir brauchen einen theoretischen Input, um das Lernen abzuschliessen.

«Die Lernenden müssen verstehen, dass Frustration normal ist.»

Wie könnte eine Lektion aussehen, in der das Produktive Scheitern zum Tragen kommt?

Unterricht funktioniert aktuell meistens so, dass die Lehrpersonen ihrer Klasse zuerst ein Thema präsentieren. Sie geben dazu theoretische Inputs und lassen die Schülerinnen und Schüler dann üben. Beim Produktiven Scheitern startet die Lehrperson nun aber nicht mit einem theoretischen Input, sondern mit einer Aufgabe in ein neues Thema. Daran können Lernende dann eine Weile herumknobeln. Wichtig ist, dass diese Aufgabe speziell für das Produktive Scheitern gestaltet wurde. Das heisst, sie inspiriert die Lernenden zu verschiedenen Lösungswegen. Die korrekte Lösung allerdings werden sie nicht finden. Und darüber müssen die Schülerinnen und Schüler vorab auch informiert werden. Sie müssen wissen, dass es ums Kreativsein und ums Ausprobieren geht. So lässt sich der Frust mindern, dass die Arbeit nicht zu einer direkten Lösung führt. Nach den Lösungsversuchen folgt der theoretische Teil, in dem die Lehrperson ins Thema einführt. Die Schülerinnen und Schüler werden dieses nun schneller begreifen, weil sie sich selbst schon aktiv damit auseinandergesetzt haben.

Was machen Lehrpersonen, wenn Schülerinnen und Schüler Frust erfahren?

Die Lernenden müssen verstehen, dass Frustration normal ist. Es ist schwierig, beispielsweise ein mathematisches Pro-blem zu lösen, wenn ich nur wenig Vorwissen dazu habe. Bevor die Schülerinnen und Schüler mit dem Lösen der Aufgabe beginnen, sagen Lehrpersonen am besten: Es besteht keine Erwartung an euch, dass ihr die Aufgabe korrekt löst. Es geht um das Erfinderische und dass ihr euch verschiedene Lösungsansätze überlegt. Dies ist ein «safe space», ein sicherer Ort, an dem ihr ausprobieren dürft. Fehler haben hier keine Konsequenzen.

«Produktives Scheitern braucht mehr Zeit, zahlt sich aber später aus.»

Kann diese Lernmethode nicht auch für Lehrpersonen frustrierend sein? Sie kann im Unterricht Zeit kosten.

Wir haben viele Studien durchgeführt, in der Lehrpersonen das Produktive Scheitern als Unterrichtsmethode getestet haben. Tatsächlich gaben die meisten von ihnen bei der späteren Auswertung an, im Unterricht unter Zeitknappheit gelitten zu haben. Dazu gibt es aber Lösungen. Der Trick ist, das Produktive Scheitern nur punktuell als Methode einzusetzen – und nur dort, wo ein tiefes Verständnis eines Themas gefordert ist. Wo Handlungswissen gefragt ist, eignet sich die Methode nicht. Wenn es also auch etwas mehr Zeit kostet, zahlt sich der Aufwand später in Form eines tieferen Lernverständnisses aus. Wir haben über 160 durchgeführte Experimente zum Produktiven Scheitern analysiert und festgestellt, dass der Lerneffekt stark und nachhaltig ist.

In welchen Bereichen kommt Produktives Scheitern als Unterrichtsmethode am besten zum Tragen, und in welchen nicht?

Wir haben die Methode bislang vor allem im MINT-Bereich getestet. Meine Forschung fand hauptsächlich im Mathematikunterricht statt. Dort haben wir Schülerinnen und Schülern Statistik- oder Algebra-Aufgaben vorgelegt. Es zeigte sich, wie bereits erwähnt: Hilfreich ist Produktives Scheitern dort, wo ein tiefes Verständnis eines Themas gefragt ist – beispielsweise eben in der Statistik. Um Zeit zu sparen, raten wir Lehrpersonen, die wichtigsten Aspekte eines Themas herauszupicken. Dazu legen sie den Schülerinnen und Schülern pro Semester drei bis fünf «Productive Failure»-Aufgaben vor.

Eignet sich die Methode auch für andere Schulfächer?

Dazu fehlen uns aktuell die wissenschaftlichen Beweise. Wir vermuten allerdings, dass Produktives Scheitern auch in anderen Schulfächern zu guten Ergebnissen führt. Die Architektur des menschlichen kognitiven Denkens verändert sich nicht, wenn wir von einem Fach zum anderen wechseln.

Welche positiven Rückmeldungen haben Sie von den Lehrpersonen zum Konzept erhalten?

Neben den positiven Lernergebnissen sagten viele Lehrerinnen und Lehrer, dass sie in ihrem Fachbereich ebenfalls dazugelernt hätten. Viele Mathematiklehrpersonen meinten sogar, dass sie die Mathematik durch diese Unterrichtsmethode nun ebenfalls besser verstehen würden.

Woran liegt das?

Die Lehrpersonen müssen sich mit den gescheiterten Versuchen der Schülerinnnen und Schüler auseinandersetzen. Sie müssen erklären können, warum eine Lösung nicht korrekt ist. Daneben müssen sie aber auch erkennen, was die Schülerinnen und Schüler gut gemacht haben. Hinter vielen scheinbar gescheiterten Lösungsversuchen steckt durchaus Potenzial, das zum späteren Verstehen eines Themas beiträgt. Lehrpersonen, die sich auf diese Weise mit einem Thema auseinandersetzen, lernen dazu. Dazu braucht es aber Routine. Wir unterstützen Lehrerinnen und Lehrer auch dabei, die Lösungsversuche ihrer Schulklassen auszuwerten.

Das Interview wurde auf Englisch geführt.

Zur Person

Manu Kapur ist Professor für Lernwissenschaften an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETH). Er leitet zudem das Team der Future Learning Initiative der ETH. Das Projekt untersucht das Lehren und Lernen im Hochschulbereich und möchte dieses weiterentwickeln. Vor seiner Tätigkeit an der ETH Zürich war Manu Kapur als Professor für Psychologie an der Education University of Hong Kong tätig. Zudem arbeitete er am National Institute of Education in Singapur als Leiter des Instituts Curriculum, Teaching and Learning. Neben einem Bachelorstudium in Maschinenbau hat Manu Kapur ein Masterstudium in Angewandter Statistik und im Fach Education absolviert sowie einen Doktortitel in Lernwissenschaften erlangt.

Autor
Caroline Kienberger

Datum

11.12.2023

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