BILDUNG SCHWEIZ: Sie erforschen, wie wir aus dem Scheitern lernen können. Wann in Ihrer Karriere sind Sie selbst gescheitert – und haben daraus gelernt?
MANU KAPUR: Besonders in Erinnerung geblieben ist mir eine Abschlussarbeit, die ich gegen Ende meines Bachelorstudiums in Maschinenbau schreiben musste. Das Thema der Arbeit bestand darin, ein ingenieurwissenschaftliches Problem mathematisch anzugehen. Mein Dozent stellte mich dabei vor eine mathematische Aufgabe, die ich lösen sollte. Er lieferte mir dazu über mehrere Monate hinweg Hinweise. Mithilfe seiner Tipps probierte ich in dieser Zeit, die Aufgabe zu lösen – mit wenig Erfolg. Irgendwann wurde ich nervös: Der Abgabetermin der Arbeit stand bevor, aber die Aufgabe war noch immer nicht gelöst. Ich bat meinen Dozenten nochmals um Rat. Da sagte er mir: «Mach dir keine Sorgen. Meine Tipps führen dich alle nicht zum korrekten Resultat – ich wollte, dass du ausprobierst.» Sein Ziel war, dass ich lernte, welche Herangehensweisen nicht funktionieren. So sollte ich das Problem besser verstehen.
Wie haben Sie reagiert?
Ich war zuerst wütend. Dann setzte ich mich aber doch nochmals an die Aufgabe. Es zeigte sich, dass sie mathematisch gar nicht lösbar war. Die Lösung bestand darin, dass ich dazu ein Computerprogramm schreiben musste. Und tatsächlich: Durch das häufige Probieren und die gescheiterten Versuche verstand ich die Thematik nun tatsächlich sehr gut. Die Abschlussarbeit konnte ich schnell fertigstellen.
Diese Methode des Ausprobierens heisst in der Lernwissenschaft «Productive failure» – «Produktives Scheitern». Sie forschen seit mehreren Jahren dazu. Warum funktioniert dieser Ansatz?
Es gibt vier Mechanismen, die beim Produktiven Scheitern wirken: Aktivierung, Bewusstwerden, Aufarbeitung und Auflösung. Das heisst: Zuerst müssen wir vorhandenes Vorwissen im Gehirn aktivieren. Dann wird uns bewusst, dass wir die Aufgabe damit nicht lösen können und dass wir eine Wissenslücke haben. Mit dem Bewusstsein kommt die Motivation, die Lücke zu schliessen und benötigte Fähigkeiten zu erlangen, uns also weiterzuentwickeln. Abschliessend hilft uns eine Lehrperson, alle Teile zusammenzufügen und die Aufgabe zu lösen. Wichtig ist: Ohne den letzten Schritt, also die Hilfestellung durch die Lehrperson, klappt das Produktive Scheitern nicht. Wir brauchen einen theoretischen Input, um das Lernen abzuschliessen.
«Die Lernenden müssen verstehen, dass Frustration normal ist.»
Wie könnte eine Lektion aussehen, in der das Produktive Scheitern zum Tragen kommt?
Unterricht funktioniert aktuell meistens so, dass die Lehrpersonen ihrer Klasse zuerst ein Thema präsentieren. Sie geben dazu theoretische Inputs und lassen die Schülerinnen und Schüler dann üben. Beim Produktiven Scheitern startet die Lehrperson nun aber nicht mit einem theoretischen Input, sondern mit einer Aufgabe in ein neues Thema. Daran können Lernende dann eine Weile herumknobeln. Wichtig ist, dass diese Aufgabe speziell für das Produktive Scheitern gestaltet wurde. Das heisst, sie inspiriert die Lernenden zu verschiedenen Lösungswegen. Die korrekte Lösung allerdings werden sie nicht finden. Und darüber müssen die Schülerinnen und Schüler vorab auch informiert werden. Sie müssen wissen, dass es ums Kreativsein und ums Ausprobieren geht. So lässt sich der Frust mindern, dass die Arbeit nicht zu einer direkten Lösung führt. Nach den Lösungsversuchen folgt der theoretische Teil, in dem die Lehrperson ins Thema einführt. Die Schülerinnen und Schüler werden dieses nun schneller begreifen, weil sie sich selbst schon aktiv damit auseinandergesetzt haben.