Interview

«In sozialen Berufen sehe ich viel Harmoniebedürfnis»

Team-Coach Barbara Scheidegger berät Schulteams bei Konflikten. Oft ist wegen überkochender Emotionen kein klärendes Gespräch mehr möglich. Aus Erfahrung weiss sie, wie man wieder aus solchen Situationen herausfindet.

Porträtfoto von Barbara Scheidegger.
Seit der Coronapandemie habe die Nachfrage nach Konfliktklärungen zugenommen, sagt Barbara Scheidegger. Fotos: Hanspeter Bärtschi

BILDUNG SCHWEIZ: Sie beraten Schulteams in Krisensituationen. Was sorgt für Konflikte?

BARBARA SCHEIDEGGER: Oft geht es um Entscheidungen. Wer darf entscheiden? Sind es die Lehrerinnen und Lehrer oder die Schulleitung? Unterschiedliche Vorstellungen zur Zusammenarbeit verursachen Spannungen. Braucht es in einer Klasse Sanktionen oder nicht? Vielfach lösen aber einfach Missverständnisse Konflikte aus: Eine Bemerkung, die nicht so gemeint war, verzerrt die Wahrnehmung. Aus dem Tunnelblick entsteht ein Streit.

Haben Konflikte insgesamt zugenommen?

Seit der Coronapandemie hat die Nachfrage nach Konfliktklärungen tatsächlich zugenommen. Viele Schulen sind bis heute noch sehr belastet durch die Zeit, in der man sich nicht genug austauschen konnte. Hinzu kommen äussere Faktoren, wie Integration, anspruchsvolle Eltern oder Kinder, Kinder mit besonderen Bedürfnissen. Nicht vergessen darf man die Pensionierungswelle, die den Fachkräftemangel noch verschlimmert. Die Schulleitungen müssen neues Personal und Stellvertretungen finden. Das braucht Zeit, die ihnen dann fehlt, um sich rechtzeitig um aufkeimende Konflikte zu kümmern.

Zur Person

Barbara Scheidegger ist Dozentin, Coach, Supervisorin, Organisationsberaterin und Mediatorin. Im Rahmen ihrer Anstellung am Institut Weiterbildung und Beratung der Pädagogischen Hochschule der Fachhochschule Nordwestschweiz berät sie Schulen, Teams, Lehrpersonen und Schulleitungen. Ausserdem betreibt sie eine selbstständige Beratungspraxis in Solothurn.

Wann ist es Zeit für ein professionelles Coaching?

Dann, wenn die Beteiligten einen Konflikt nicht mehr allein lösen können. Dann höre ich Aussagen wie: «Wir können nicht mehr zusammenarbeiten. Wir reden nicht mehr miteinander und gehen uns in der Schule so gut wie möglich aus dem Weg. Die Atmosphäre ist schlecht, mir ist nicht mehr wohl.» Das sind drastische Symptome.

«Meine Funktion ist die eines Eisbrechers, der kommt, wenn die Situation eingefroren ist.»

Wie gehen Sie vor?

Konflikte an und für sich sind normal. In sozialen Berufen beobachte ich jedoch generell ein sehr hohes Harmoniebedürfnis. Das führt dazu, dass vieles zu spät thematisiert wird, und dann knallt es bereits. Meine Funktion ist die eines Eisbrechers, der kommt, wenn die Situation eingefroren ist und das Eis gebrochen werden muss. An erster Stelle steht immer die Frage, warum die Situation so eskaliert ist. Zur Klärung der Lage ist es wichtig, alles offen auf den Tisch zu legen. Meist handelt es sich nämlich um ein dahinterliegendes Problem, das den Beteiligten erst gar nicht bewusst ist.

Mit welcher Methode arbeiten Sie?

Ich arbeite nach der Methode der Klärungshilfe, bei der Emotionen nicht sanktioniert, sondern zum Thema gemacht werden. Im ersten Schritt hören sich die Teilnehmenden gegenseitig zu, wie die Situation subjektiv erlebt wird. Durch diesen Perspektivenwechsel kann sich schon viel bewegen. Die brodelnden Themen werden gesammelt und in persönliche, Beziehungs- und Sachthemen geordnet. Danach findet ein von mir moderierter Streitdialog zwischen den Konfliktparteien statt. Dabei offenbaren sich tiefe Gefühle: Aggression, Ohnmacht, Wut, Schmerz, Verletzungen. Das Gespräch ist der Schutzraum, wo der Streit langsam deeskaliert wird, bis die Lage für jeden und jede geklärt ist. In der Lösungsphase bespreche ich mit den Teams, wie sie mit der Situation umgehen können. Meist sind sie überrascht, dass einfache Lösungen gefunden werden können, nachdem sich die Emotionen entladen haben. Abschliessend wird der Klärungsprozess reflektiert und die nächsten Schritte werden vereinbart.

«Nicht immer findet eine Versöhnung statt. Dann braucht es eine Trennung.»

Und dann ist alles gut?

Nein, nicht immer findet eine Versöhnung statt. Ich habe schon verfahrene Situationen erlebt, in denen die Parteien realisierten, dass das Verhältnis zu zerrüttet ist. Dann braucht es eine Trennung. Ich hatte beispielsweise einen Fall zwischen zwei Lehrpersonen, die völlig zerstritten waren. In der Konfliktklärung wurde ihnen klar, dass sie zukünftig nicht mehr zusammenarbeiten können. Das war im Januar. Für die gemeinsame Gestaltung des restlichen Schuljahrs konnten sie, nachdem sich die beiden emotional Luft verschafft hatten, pragmatische Abmachungen treffen. Die Schulleitung war bereit, für den darauffolgenden Sommer eine neue Konstellation einzuplanen.

Wie lange dauert eine solche Schlichtung?

In der Regel einen Tag, wenn mehr als zwei Personen beteiligt sind. In einem Debriefing mit der Schulleitung wird danach besprochen, ob die Schule weitere Unterstützung braucht. Das kann eine Supervision, ein Führungscoaching für die Leitung oder ein Team-Entwicklungstag sein.

Lehrpersonen gelten manchmal als schwer führbar. Ist da etwas dran?

Ja, das beobachte ich auch. Lehrpersonen müssen im Schulalltag gegenüber den Klassen und den Eltern Alphatiere sein. Und sie müssen sich selbst führen. Bei Schulleitungswechseln übernehmen Lehrerinnen und Lehrer nicht selten zusätzliche Verantwortung. Wenn dann eine neue Leitung kommt, kann das Konfliktpotenzial bergen.

Wann ist man eigentlich teamfähig?

Man muss die Bereitschaft mitbringen, sich einzubringen, sich als Person zu zeigen, in eine Kooperation zu treten und zu kommunizieren. Man muss eigene Bedürfnisse und Anliegen aussprechen und Spannungen aushalten können. Auch Selbstreflexion, Kompromissfähigkeit und die Fähigkeit, mit unterschiedlichen Meinungen umgehen zu können, sind wichtig. Ganz grundsätzlich muss man Freude am Menschen haben.

«Konflikte haben etwas Unmittelbares für die Betroffenen.»

Kann eine Konfliktklärung die Schulqualität insgesamt stärken?

Auf jeden Fall. Interessanterweise werde ich oft zuerst für eine Schul- oder Unterrichtsentwicklung angefragt und nicht zur Bearbeitung eines Konflikts. In den Gesprächen zeigt sich dann aber schnell, wo das eigentliche Problem liegt. Beispielsweise hatte ich eine Schule, bei der die Weiterentwicklung stagnierte. Die Schulleitung erwähnte im Vorgespräch eine sehr hohe Fluktuation unter neuen Lehrpersonen. Die langjährigen Lehrpersonen waren überzeugt, sie hätten eine gute Willkommenskultur. Aber im Team war der Wurm drin. In der Konfliktklärung wurde deutlich, dass die neuen Lehrpersonen beklagten, ihre Meinung sei nicht gefragt und sie könnten nichts mitgestalten. Die langjährigen Lehrpersonen erkannten, dass sie sich an vielen Abläufen und Absprachen orientierten, die sie im Laufe der Zeit entwickelt hatten. Sie liessen wenig Raum, um Themen neu zu diskutieren und auszuhandeln. Dies sollte sich nun ändern. Das Beispiel veranschaulicht sehr gut, was passiert, wenn keine Kooperation unter den Lehrpersonen möglich ist. Dann hat dies massive Konsequenzen für den Schulalltag. Nur eine gute Teamkultur sichert die Schulqualität.

Weshalb wurden Sie Team-Coach?

Konflikte interessieren mich, seit ich als Coach arbeite. Sie haben etwas Unmittelbares für die Betroffenen und können ein System zum Erliegen bringen. Ich habe 20 Jahre lang selbst als Lehrerin gearbeitet und weiss, wie wichtig und stärkend es ist, gemeinsam unterwegs zu sein. Als Lehrperson kann man die Arbeit, die einem ja so viel abverlangt, nur dann gut machen, wenn es einem selbst gut geht.

Was treibt Sie an?

Es macht mich glücklich, wenn es mir gelingt, zur Lösung eines Konflikts beizutragen – für ein Stückchen Frieden.

Autor
Brigitte Selden

Datum

22.07.2024

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