Unterrichten mit Sehbeeinträchtigung

«Ich bin eine Lernchance für die Kinder»

Unterrichten mit einer Sehbeeinträchtigung ist schwierig, aber nicht unmöglich. Im Rahmen der aktuellen Sommerserie erzählt Michelle Bernasconi von ihren Herausforderungen im Schulalltag. Sie unterrichtet seit fünf Jahren und setzt dabei auf ihre Stärken. 

Porträtfoto der Lehrerin Michelle Bernasconi
Lehrerin Michelle Bernasconi lebt mit einer Sehbeeinträchtigung. Fotos: Marion Bernet

Sie ist Lehrerin. Aus Leidenschaft. Wie viele Lehrpersonen wollte auch Michelle Bernasconi schon als Kind Lehrerin werden – und sie liess sich auch nicht davon abhalten, als sich ihr Sehvermögen zunehmend verschlechterte. Sie sieht heute nur noch sehr verschwommen, kann aber Kontraste gut unterscheiden. Ihre eigene Schulzeit konnte Bernasconi an der Regelschule absolvieren. Das war nicht zuletzt auch wegen der Digitalisierung möglich. Vorlese Apps und die Möglichkeit, die Schriftgrössen unkompliziert anzupassen, erleichtern Menschen mit Sehbeeinträchtigungen den Zugang zu Texten.

Bernasconi konnte schliesslich die pädagogische Hochschule in Bern besuchen und erfolgreich abschliessen. Unbeirrt könnte man fast sagen. «Ich wusste, dass es herausfordernd wird, aber nicht unmöglich», sagt die 27-Jährige, die nun seit fünf Jahren dritte und vierte Klassen im bernischen Grosshöchstetten unterrichtet.

Umgang mit Zweifeln und Rückschlägen

Trotz ihres positiven Naturells sei es dennoch nicht immer leicht gewesen. «Ich versuche zwar, mich nicht unterkriegen zu lassen. Aber es gibt auch andere Momente», sagt sie. Es sei nicht immer einfach, die Dinge hinzunehmen. Selbstzweifel können aufkommen. In schweren Zeiten habe ihr psychologische Unterstützung geholfen.

«Ich kann trotzdem so viele Dinge tun und erreichen»

BILDUNG SCHWEIZ nimmt sich 2025 dem Thema Barrieren an. Die Sommerserie widmet sich entsprechend Personen aus dem Bildungsbereich, die verschiedenste Hindernisse überwinden mussten: Sommerserie

Bernasconi versucht , sich auf das Positive zu konzentrieren. Rückschläge und Hindernisse könnten auch stärken, sagt sie. Vor allem will sie sich aber nicht auf ihre Sehbehinderung reduzieren und nur darüber definieren. «Mit einer Einschränkung kann man auch erkennen, dass diese nicht alles verunmöglicht. Ich kann trotzdem so viele Dinge tun und erreichen», sagt sie überzeugt von ihrem Potenzial.

Gegenseitigkeit im Team

Nun arbeitet sie seit fünf Jahren in ihrem Traumberuf – und bereut es nicht. Im Schulalltag fühlt sich die junge Lehrerin akzeptiert. Sie habe ein gutes Team, das offen ist für Fragen und Anliegen, berichtet Bernasconi. Sie könne unabhängig arbeiten und entscheide selbst, wann sie Hilfe brauche. «Das Team respektiert meine Selbständigkeit.» Die Position der Klassenlehrerin teilt sie sich mit einer älteren Lehrerin. «Meine Kollegin ist Gold wert. Es ist eine geniale Zusammenarbeit», schwärmt Bernasconi. «Wir ergänzen uns sehr gut.» 

Im Co-Teaching vereinen die beiden Lehrerinnen ihre Stärken. «Ich bin sehr organisiert und die verbale Kommunikation liegt mir sehr. Nicht zuletzt auch, weil ich nicht so gut sehe», sagt die junge Lehrerin. Davon profitiere ihre Kollegin zum Beispiel bei Elterngesprächen und in der täglichen Klassenorganisation. Ihre Teamarbeit lebe zudem von der Mischung neuer Ideen mit Routine und langjähriger Erfahrung. Es ist ein selbstverständliches Geben und ein Nehmen. Und die Klasse? Auch die profitiere. «Ich bin eine Lernchance für die Kinder. Mit mir werden sie rasch selbstständig», sagt Bernasconi.

Für ihre Klasse hat sie das beliebte Amt der Klassenchefs oder Klassenchefin eingeführt. Für zwei Wochen unterstützt das jeweilige Kind die Lehrerin und informiert zum Beispiel jeweils, wenn jemand in der Klasse aufstreckt. Bernasconi vermittelt ihren Schülerinnen und Schülern zudem früh ein Verständnis für Menschen mit Einschränkungen.  

Zusätzliche Augen im Unterricht

Natürlich geschehe es, dass manche Schülerinnen und Schüler ausnutzen wollen, wenn die Lehrerin nicht alles genau sieht. Zum Beispiel in der hintersten Reihe. «Am schwierigsten ist es für mich, den visuellen Überblick über das ganze Klassenzimmer zu behalten. Dafür braucht es von mir 300 Prozent Aufmerksamkeit», erzählt Bernasconi. Das mache es schwierig, einen ganzen Schultag allein zu bestreiten. Es helfe ihr allerdings, wenn die Heilpädagogin oder die Klassenhilfe ebenfalls anwesend sei. 

Im Umgang mit den Eltern sei die Kommunikation besonders wichtig, betont Bernasconi. Sie bekomme da eigentlich viel positives Feedback. «Eine Lehrperson mit Sehbehinderung ist für Eltern sicher nicht selbstverständlich», sagt sie. «Ich verstehe, wenn Eltern wegen ihrer Kinder besorgt sind.» Darauf dürfe man sie auch gerne ansprechen.

«Am besten ist es zu sagen, was man will und was man kann.»

Offenheit kann viel bewirken. Michelle Bernasconi will sich nicht verstecken. Besonders in schwierigen Situationen sei es wichtig, zu den eigenen Überzeugungen und Gedanken zu stehen, betont sie. «Am besten ist es zu sagen, was man will und was man kann.» Das bedeutet für sie aber nicht, dass man auf Teufel komm raus alles durchziehen muss. Wenn Umstände überwältigend werden oder Menschen einem nicht akzeptierten, könne man auch einen anderen Weg einschlagen. «Man muss nicht alles mit sich machen lassen.»

Autor
Patricia Dickson

Datum

06.08.2025

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