Abgewiesener Asylantrag

Warum Schule für Kinder in Rückkehrzentren wichtig ist

Kinder und Jugendliche, die in Rückkehrzentren leben, müssen die Schule besuchen. Das stellt alle vor grosse Herausforderungen. Lehrerin Ursula Fischer besucht als Freiwillige solche Kinder.

Eine Frau sitzt auf dem Sims eines Fensters.
Ursula Fischer unterstützt Kinder in Rückkehrzentren. Foto: Hanspeter Bärtschi

Wenn Ursula Fischer den Weg zum Rückkehrzentrum Enggistein im Kanton Bern hochgeht, schweift ihr Blick oft über die Gegend in die Ferne. Denn der ehemalige Gutshof ist idyllisch gelegen. Sogar der Name der Strasse, an welcher das Haus liegt, drückt dies aus: Alpenpanoramaweg.

Doch die Menschen, die hier wohnen, haben selten einen Blick für die Aussicht übrig. «Sie sind mit sich selbst beschäftigt», sagt Fischer, die regelmässig in Enggistein vorbeischaut. Die Lehrerin engagiert sich in der Aktionsgruppe Nothilfe – einem Zusammenschluss von Freiwilligen, die sich für die Rechte von Menschen in der Langzeitnothilfe einsetzen.

Menschen, die im Rückkehrzentrum am Alpenpanoramaweg wohnen, haben selten einen Blick für die Aussicht übrig.

In dieser Rolle übernimmt sie die Begleitung dieser Menschen, die das System in der Schweiz nicht kennen, beantwortet Fragen oder hilft ihnen ganz praktisch. Sie bringt Kleider, Spiel- und Bastelmaterial vorbei. «Ich begegne ihnen einfach von Mensch zu Mensch», sagt Fischer.

Eine WG auf Zeit und in Not

80 Menschen leben im Rückkehrzentrum Enggistein, davon sind rund 30 Kinder. Sie teilen sich Küche, Wohn- und Schlafräume. Pro Familie steht ein Zimmer zur Verfügung. Es ist eine grosse Wohngemeinschaft auf Zeit – und in Not. Wer hier lebt, hat einen rechtskräftigen, negativen Asylentscheid erhalten und müsste ausreisen. Eigentlich. Viele Bewohnerinnen und Bewohner mit einem Wegweisungsentscheid möchten die Schweiz aber nicht verlassen – aus unterschiedlichen Gründen.

Wer einen Wegweisungsentscheid erhalten hat, ist von der Sozialhilfe ausgeschlossen und erhält nur noch Nothilfeleistungen. Die Ausgestaltung der Nothilfeleistungen sowie die Höhe der Beträge liegt in der Kompetenz der einzelnen Kantone. Nothilfe umfasst Nahrung, Hygiene, Kleidung, Unterkunft und medizinische Grundversorgung. Insgesamt beziehen schweizweit etwa 2500 Personen Nothilfe, davon sind rund 700 Kinder und Jugendliche. Gemäss einer Mitteilung des Bundes leben mehr als die Hälfte von ihnen bereits länger als ein Jahr, viele seit mehr als vier Jahren in der Schweiz.

Fördermöglichkeiten fehlen

Fischer hat bis letzten Sommer in einem Sonderschulheim gearbeitet. «Die Fördermöglichkeiten, die für die Kinder an dieser Schule geschaffen worden sind, haben mich immer sehr beeindruckt», sagt sie. Umso mehr beschäftige es sie, wenn sie sehe, wie wenig Möglichkeiten Kinder in Rückkehrzentren hätten.

«Schulen springen in eine Lücke und fangen vieles auf.»

«Aufgrund der fehlenden finanziellen Ressourcen können Kinder in der Nothilfe kaum an Förderaktivitäten teilnehmen, die ausserhalb des Rückkehrzentrums stattfinden», sagt Fischer. Sie ist deshalb froh, dass Kinder im schulpflichtigen Alter die Schule besuchen können. «Die Schulen springen hier in eine Lücke und fangen vieles auf. Sie ist für diese Kinder oft der einzige heile Ort.»

Diese Aussage deckt sich auch mit der Erkenntnis aus der aktuellen Publikation der eidgenössischen Migrationskommission mit dem Titel «Das Nothilferegime und die Rechte des Kindes»: «Der Schule kommt eine zentrale Funktion bei der Integration, aber auch bei der sozialpädagogischen Betreuung zur Förderung der gesunden Entwicklung des Kindes zu», heisst es darin.

Beim Schulbesuch von Kindern und Jugendlichen aus Rückkehrzentren handelt es sich sowohl um ein Recht wie aber auch um eine Pflicht: Die Bundesverfassung garantiert jeder in der Schweiz lebenden minderjährigen Person das Recht auf Grundschulunterricht, unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus. Die Schule ist gleichzeitig für alle Kinder obligatorisch.

Grosse Herausforderungen für die Schulen

Die Kinder aus dem Rückkehrzentrum Enggistein besuchen alle die Schulen der Schulgemeinde Worb. In anderen Rückkehrzentren werden Kinder und Jugendliche aber auch intern beschult, bevor sie ausserhalb des Zentrums an einer Schule in eine Regelklasse integriert werden.

Die Herausforderungen bei der Beschulung der Kinder aus den Rückkehrzentren ist gross. Das Dilemma dabei: Einerseits haben diese Kinder ein Recht auf Bildung und den damit verbundenen Schulbesuch. Andererseits lässt der abgelehnte Asylantrag und die damit verbundene Nothilfesituation kaum eine Unterstützung der Familien zu, die unter anderem für eine Förderung der Kinder und Jugendlichen wichtig wäre.

«Diese Kinder bräuchten eine umfassende Begleitung, um sich auf das Lernen einlassen zu können.»

«Diese Kinder und Jugendlichen bringen einen grossen Rucksack an Belastungen mit sich und sind psychisch nicht unversehrt», sagen Tae Woodtli und Oliver Rüesch, Schulleiterin Zyklus 1 und Schulleiter Zyklus 3 der Schulgemeinde Worb unisono. Daneben gibt es weitere Probleme: fehlende Sprachkenntnisse etwa. Oder auch der Umstand, dass viele dieser Kinder «schulungewohnt» seien, wie Woodtli ausführt. «Sie bräuchten eine umfassende Begleitung, um sich auf das Lernen einlassen zu können.»

Die Eltern seien zudem oft nicht in der Lage, ihre Kinder angemessen zu unterstützen. «Sie haben andere Sorgen und sind sich aus ihren Herkunftsländern auch nicht gewohnt, dass die Schularbeit nicht mit dem Schulschluss beendet ist», sagt Woodtli. Wegen des Aufenthaltsstatus ist es möglich, dass die Kinder und Jugendlichen von heute auf morgen das Land verlassen müssen. «Dies hat auch schon dazu geführt, dass sich Kinder nicht mehr auf eine Freundschaft mit einem Kind aus dem Rückkehrzentrum einlassen wollten aus Sorge darum, dass diese jederzeit beendet sein könnte», erzählt Woodtli.

Im Zyklus 3 kommen weitere Probleme hinzu: «Die Jugendlichen aus dem Rückkehrzentrum stehen niveaumässig oft an einem ganz anderen Ort als die anderen Schülerinnen und Schüler», sagt Rüesch. Die grösste Herausforderung sei aber die Planung der Zukunft: «In der Oberstufe befassen sich die Jugendlichen mit ihrer Zukunft und der Berufswahl.» Für die Schülerinnen und Schüler aus dem Rückkehrzentrum sei eine solche Zukunftsplanung nicht möglich: «Das ist für diese sehr frustrierend», stellt Rüesch fest.

«Die Rückkehrfähigkeit der Jugendlichen wird nicht erhalten, indem sie ohne Beschäftigung ausharren müssen.»

Nach der Schule folgt die Leere

Eine solche Situation erlebt Ursula Fischer zurzeit gerade bei einer Familie mit: «Ihr Kind wird im Sommer aus der Schule kommen. Eine Berufsausbildung wird aber nicht möglich sein.» Denn: Jugendliche mit abgewiesenem Asylantrag können keine Lehre machen. Möglich ist es, ein zehntes Schuljahr zu absolvieren. Harrt die Familie aber weiter in ihrer Rückkehrsituation aus, stellt sich spätestens danach die Frage, was nun mit dem Jugendlichen geschieht. 

Aus Fischers Sicht ist das eine unbefriedigende Situation. «Die Eltern wollen oder können nicht ausreisen, also bleiben auch ihre Kinder da. Die Rückkehrfähigkeit der jungen Menschen wird aber nicht erhalten, indem sie ohne Beschäftigung ausharren müssen.» Im Gegenteil: «Wichtig wäre, sie könnten spezifische Kompetenzen erwerben, die ihnen auch bei einer Rückkehr dienlich wären.» Dies ist auch das Fazit der Publikation der eidgenössischen Migrationskommission: Es gelte, im Interesse der Kinder und der Gesellschaft, die Bildungs-, Arbeits-, Integrations- und Rückkehrfähigkeit der Heranwachsenden zu erhalten.

Für Fischer ist klar: Sie will sich so oder so weiterhin für die Familien in der Nothilfe einsetzen. Vor allem auch den Kindern und Jugendlichen zuliebe. Freiwillig. Von Mensch zu Mensch.

Autor
Mireille Guggenbühler

Datum

06.06.2025

Themen