Schule zwischen Inklusion und Kleinklassen

«Flippt ein Kind aus, ist das auch in einer Kleinklasse schwierig»

Den Wunsch nach Kleinklassen kann Elisabeth Moser Opitz nachvollziehen. In gewissen Fällen sei eine Separation vertretbar. Insgesamt sieht die Professorin für Sonderpädagogik aber keine Alternative zur schulischen Integration.

Interview-Porträt von Elisabeth Moser Opitz.
Die Professorin für Sonderpädagogik Elisabeth Moser Opitz ist vom integrativen Unterricht überzeugt. Sie versteht jedoch auch die Sorgen und Herausforderungen, die im Alltag entstehen. Fotos: Philipp Baer

BILDUNG SCHWEIZ: Haben Sie schon einmal daran gezweifelt, ob die inklusive Schule der richtige Weg ist?

ELISABETH MOSER OPITZ: Wenn ich die Forschungsergebnisse anschaue, dann ganz klar nein. Mit Blick auf diese Resultate bin ich überzeugt, dass die inklusive Schule der richtige Weg ist. Schülerinnen und Schüler mit Schwierigkeiten lernen auf diese Weise mehr. Dafür gibt es verschiedene Gründe, etwa dass sie auch von ihren Mitschülerinnen und Mitschülern lernen. Zudem ist das Anspruchsniveau in den Regelklassen höher und die Kinder werden stärker gefordert. Das wirkt sich auch auf die berufliche Zukunft aus: Schülerinnen und Schüler, die integrativ geschult wurden, erreichen später höhere Berufsabschlüsse. Ich verstehe aber, dass manchmal Zweifel an den Rahmenbedingungen oder einer bestimmten Umsetzungsform der inklusiven Schule aufkommen, auch, weil die Rahmenbedingungen je nach Kanton unterschiedlich sind.

In Befragungen sinkt die Zustimmung: Eltern sind besorgt, Lehrerinnen und Lehrer überfordert.

Eltern machen sich verständlicherweise Sorgen, wenn sich in einer Klasse Schülerinnen oder Schüler mit Schwierigkeiten befinden, insbesondere wenn diese den Unterricht stören. Dort ist es wichtig, die Eltern darauf hinzuweisen, dass sich vor allem Nachteile für leistungsschwache Lernende ergeben. Die Überforderung der Lehrpersonen hängt nach meiner Erfahrung davon ab, welche Schwierigkeiten ein integriertes Kind hat. Es macht einen Unterschied, ob Kinder mit Lernschwierigkeiten oder Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten in der Klasse sind. Kinder mit einer Lernschwierigkeit sind vielleicht unkonzentriert und benötigen mehr Zeit beim Lernen, stören aber den Unterricht nicht unbedingt. Bei Lernenden mit Verhaltensauffälligkeiten kommt es oft vor, dass sie den Unterricht durcheinanderbringen. Das kann für Lehrpersonen sehr belastend sein.

Zur Person

Elisabeth Moser Opitz ist Professorin für Sonderpädagogik (Schwerpunkt Bildung und Integration) an der Universität Zürich. Sie hat Heilpädagogik, Pädagogik und Psychopathologie studiert. Vor ihrer Tätigkeit als Dozentin war sie zuerst als Primarlehrerin und später als Schulische Heilpädagogin tätig. Neben dem integrativem Unterricht gehören zu ihren Forschungsinteressen unter anderem Rechenschwäche und die mathematische Förderung von Kindern mit intellektueller Beeinträchtigung.

In mehreren Kantonen wird die Rückkehr zu Kleinklassen gefordert – also mehr Separation. Was halten Sie davon?

Für Kinder mit Lernschwierigkeiten wüsste ich nicht, was der Vorteil von Kleinklassen wäre. Anders ist es bei Kindern mit Verhaltensauffälligkeiten, wenn soziale Kompetenzen fehlen. Schwierig sind vor allem Kinder, die aggressiv sind und den Unterricht stören. Allerdings wäre es wenig hilfreich, sie längerfristig in einer Kleinklasse mit Mitschülerinnen und Mitschülern mit denselben Problemen unterzubringen: In einer Gemeinschaft, in der alle die gleichen Schwierigkeiten haben, können sie kein positives Verhalten lernen. Sie profitieren viel stärker von einer Regelklasse. Trotzdem gibt es ganz klar Situationen, in denen eine Separation unabdingbar ist und die Lehrpersonen und die Klassen entlastet werden müssen, da mache ich mir keine Illusionen.

«Es gibt Situationen, in denen eine Separation unabdingar ist.»

Welche Massnahmen können Lehrpersonen in solchen Momenten ergreifen?

Es gibt kein allgemeingültiges Rezept. Der Umgang mit störendem Verhalten ist immer eine Herausforderung, ob in einer Regelklasse, einer Kleinklasse oder in einer Sonderschule. Wenn ein Kind in einer Kleinklasse mit 14 Schülerinnen und Schülern ausflippt, ist das genauso schwierig wie in einer Regelklasse mit 20 Kindern. Es braucht besondere Massnahmen. Eine Möglichkeit sind Time-out-Lösungen oder Aufenthalte in Schulinseln. Das sind betreute Angebote ausserhalb der Klasse, wo die Lernenden die Möglichkeit erhalten, sich zu beruhigen. Wichtig ist vor allem, dass die Massnahmen temporär sind und für die betroffenen Schülerinnen und Schüler weiterhin die Möglichkeit besteht, Peer-Kontakte mit sozialen Vorbildern zu haben. Hinsichtlich des Umgangs mit Lernschwierigkeiten finde ich wichtig, dass den Lehrpersonen vermittelt wird, dass sie mit ihrem Unterricht genug tun und kleine Klassen nicht zu mehr Lernerfolg führen.

Was müsste man weiter unternehmen, damit die Vorteile der inklusiven Schule zum Tragen kommen?

Auch hier ist es schwierig, ein Rezept anzugeben, weil unterschiedliche Faktoren eine Rolle spielen. Zusätzliche Unterstützung durch Heilpädagoginnen und Heilpädagogen und weiteren Fachpersonen ist unabdingbar. Hinsichtlich des Umgangs mit störendem Verhalten ist es wichtig, dies als Aufgabe der ganzen Schule und nicht als Aufgabe von einzelnen Lehrpersonen zu sehen. Es kann zudem helfen, auf Best-Practice-Beispiele zu schauen. Es herrscht manchmal die Vorstellung, dass Integration ein neues Konzept wäre. Dabei gibt es Kantone, die schon Ende der 1980er-Jahre integrative Modelle etabliert haben.

Die Ausgaben für die Schule steigen laufend und dennoch reichen die Ressourcen nicht. Was läuft falsch?

Das ist schwierig zu sagen, weil es von Kanton zu Kanton unterschiedlich ist. Was man sagen kann: Je mehr separierte Angebote es gibt, desto mehr wird ausgesondert. Ausserdem steigen die Ausgaben, je mehr separative Angebote es parallel zu integrativen gibt. Wichtig ist somit die Frage, wie man die Ressourcen einsetzt. Hier eine allgemeine Aussage zu machen, möchte ich mir aber aufgrund der grossen kantonalen Unterschiede nicht anmassen.

Es gibt Fakten, die aufhorchen lassen: Ab einer bestimmten Anzahl integrierter Schülerinnen und Schüler leiden zuerst diese und später auch der Rest der Klasse.

Genau, gemäss einer ökonomischen Studie kann sich ein Anteil von ungefähr 20 Prozent von Kindern mit Schwierigkeiten auch negativ auswirken. Was ich spannend finde: Die Situation wirkt sich nicht auf alle Lernenden gleich aus. Für Kinder mit guten Leistungen scheint es keine Rolle zu spielen. Je niedriger die Leistungen, desto grösser die negativen Auswirkungen. Ausserdem zeigt sich dieser negative Effekt nicht in allen Klassen. Die Studie kam zum Schluss, dass der Nutzen des integrativen Unterrichts am Ende grösser ist als die Nachteile. Gerade Erkenntnisse dieser Studie zeigen, dass es nicht sinnvoll ist, Lernende mit ähnlichen Schwierigkeiten in derselben Klasse zu unterrichten. Dann besteht die Gefahr, dass sich das Verhalten potenziert.

«Das integrative Modell in der Schweiz entstand aus demografischen Gründen.»

Wo steht die Schweizer Volksschule bei der Inklusion beziehungsweise bei der Inklusion im Vergleich mit anderen Ländern?

Gemäss einer internationalen Statistik werden nur 60 Prozent aller Kinder mit Schwierigkeiten in die Regelschule integriert. In anderen Ländern sind es bedeutend mehr. Ich bezweifle jedoch die Aussagekraft dieser Statistik. Es kann sein, dass in manchen Ländern zwar viele Kinder integriert werden, diese jedoch keinerlei Unterstützung durch Fachpersonen erhalten – oder zumindest weniger als in der Schweiz. Integration hängt übrigens auch von der Demografie ab. In dünn besiedelten Gebieten wird eher integriert. Demografische Entwicklungen waren auch der Grund, weshalb das integrative Modell in der Schweiz überhaupt entstand.

Inwiefern?

Gegen Ende der 1980er-Jahren gingen die Schülerzahlen stark zurück. Klassen mussten aufgelöst werden. Das Ziel war, möglichst viele Kinder an der Regelschule zu behalten – auch solche mit Schwierigkeiten. Denn deren Eltern hatten sich geweigert, ihre Kinder in weit entfernten Orten zur Schule zu schicken. Integration entstand deshalb zuerst in Randregionen wie der Innerschweiz.

Haben Sie als Forscherin noch Kontakt zum Unterrichtsgeschehen?

Ich habe noch viel Kontakt zu ehemaligen Studierenden. Zudem habe ich Mitarbeitende und Studierende, die unterrichten. Sie bringen Beispiele aus ihrem Schulalltag mit, die wir diskutieren. Im Rahmen unserer Projekte führen wir häufig auch Interviews mit Lehrpersonen, die von ihren Herausforderungen im Unterricht berichten.

Zum Abschluss: Können Sie uns von einem mutmachenden Beispiel erzählen?

Kürzlich habe ich per Zufall eine Dokumentation über eine Gruppe von Personen gesehen, die an einem Umweltprojekt beteiligt war. Die Person, die vor der Kamera Auskunft gab, war ein ehemaliger Schüler von mir. Er wurde integrativ unterrichtet. Als Kind war er massiv verhaltensauffällig und verweigerte monatelang die Mitarbeit, lief immer wieder aus dem Unterricht weg und hat die Lehrpersonen und mich extrem gefordert. Zu sehen, dass er seinen Weg gemacht hat, war sehr schön.

LCH erneuert Positionspapiert zur inklusiven Schule

Der Dachverband Lehrerinnen und Lehrer Schweiz hat im Mai 2023 ein überarbeitetes Positionspapier zur inklusiven Schule publiziert. Es ist unter dem Titel «Vielfalt braucht Vielfalt» auf der Website des LCH abrufbar: www.lch.ch/publikationen/positionspapiere

Autor
Caroline Kienberger

Datum

27.09.2023

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