INTERVIEW

«Jünger eingeschulte Kinder haben mehr Probleme»

Müssen Kinder zu früh zu viel leisten, kann das zu Lernproblemen führen. Das sagt Psychologe und Lerncoach Fabian Grolimund. Die Schule sollte Kinder stattdessen langsam daran heranführen, sich selbst zu steuern.

Lerncoach Fabian Grolimund
Lerncoach Fabian Grolimund hatte als Kind selbst Aufmerksamkeitsprobleme. Fotos: Philipp Baer

BILDUNG SCHWEIZ: Sie sind Lerncoach und beraten Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Wie kam es dazu?

FABIAN GROLIMUND: Als ich noch Vorlesungen an der Universität hielt, bemerkte ich, dass viele Studierende Prüfungsängste hatten. Ich wollte ihnen dabei helfen, sie zu überwinden. Darum bot ich Beratungen an. Ein weiterer wichtiger Grund für meinen Werdegang ist, dass ich in der Vergangenheit starke Aufmerksamkeitsprobleme hatte und ein Jahr länger im Kindergarten blieb. Deshalb war ich stets auf gute Lehrpersonen und guten Unterricht angewiesen. Ich hatte zum Glück beides. Ich lernte den Wert einer guten Begleitung durch die Schulzeit kennen. Zudem half es, dass meine Eltern selbst Lehrpersonen waren.

Eltern, die selbst Lehrpersonen sind – welche Rolle spielten sie für Sie?

Wichtig war, dass sie mir einerseits die Zeit für das zusätzliche Kindergartenjahr gegeben haben. Andererseits haben sie mich beim Aufarbeiten unterstützt, besonders beim Lesen. Im ersten Schuljahr habe ich mich nämlich geweigert, irgendetwas zu lesen. Doch meine Eltern konnten mir ohne Druck dabei helfen, aufzuholen.

Was sollten denn Eltern vermeiden, um ihre Kinder nicht beim Lernen zu hemmen?

Ich sehe hier vor allem zwei potenzielle Probleme. Das eine entsteht, wenn Eltern zu wenig Anteil am schulischen Leben ihrer Kinder haben. Kinder könnten dann zum Beispiel regelmässig mit zu wenig Schlaf im Unterricht erscheinen. Ich finde es deshalb wichtig, dass Eltern zu Hause gute Rahmenbedingungen schaffen, Interesse zeigen und auch mal bei ihren Kindern nachfragen, wie es in der Schule geht.

Was ist das zweite Problem?

Erziehungsberechtigte können auch zu sehr ins schulische Leben oder ins Lernen des Kindes verstrickt sein. Viele Eltern, die sich bei uns beraten lassen, haben fast täglich Konflikte mit ihren Kindern wegen der Hausaufgaben. Sie berichten etwa davon, wie das Kind die Hausaufgaben nur in ihrem Beisein erledigt. Die Schwierigkeit ist, dass man Selbstständigkeit von den Kindern nicht einfach eines Tages einfordern kann. Man muss sie in diese Richtung begleiten.

Zur Person

Fabian Grolimund ist Psychologe und Co-Leiter der Akademie für Lerncoaching. In dieser Funktion berät er Kinder, Jugendliche, Eltern und Lehrpersonen zu verschiedenen Fragen rund ums Thema Lernen. Zuvor war er unter anderem als Dozent an der Universität Freiburg angestellt.

«Es gibt Kinder, die haben einfach mehr Mühe, gewisse Dinge zu lernen.»

Kinder, bei denen zu Hause alles stimmt, haben also weniger Lernprobleme?

Nein, es gibt auch andere Ursachen für Probleme. Zum Beispiel haben Lernstörungen jeweils eine genetische Komponente. Dabei spielt keine Rolle, ob sie ein Aufmerksamkeitsdefizit (ADS), eine Hyperaktivitätsstörung (ADHS), eine Lese-, Rechtschreib- oder Rechenschwäche haben. Es gibt Kinder, die haben einfach mehr Mühe, gewisse Dinge zu lernen. Wenn sie nicht in ihrem Tempo lernen können und im Unterricht stets überfordert sind, wird es schwierig.

Wie lässt sich das verhindern?

Ich sehe derzeit oft Kinder, denen wichtige Grundlagen fehlen. Da in der Grundschule ein ziemlich grosser Stoffbereich abgedeckt werden soll, geht es relativ schnell voran und es bleibt weniger Zeit, um wichtige Grundlagen zu automatisieren. Hat jemand aber eine Lernschwäche, braucht es sehr viele Durchgänge, bis etwas gemeistert ist. Wenn in der Folge beim Lesen, Schreiben und Rechnen kein gutes Fundament vorhanden ist, kann man nicht darauf aufbauen. Dabei sind das drei der wichtigsten Fähigkeiten, die in der Grundschule vermittelt werden sollten.

Welches sind die anderen?

Meiner Meinung nach sollten mit Schülerinnen und Schülern ab der Oberstufe unbedingt die wichtigsten Lernstrategien trainiert werden. Ab dann müssen sie selbstständig auf Prüfungen lernen können. Eine andere wichtige Fähigkeit, die über alle Schulstufen hinweg aufgebaut werden muss, ist die Selbststeuerung. Dabei geht es etwa darum, wie Schülerinnen und Schüler Aufgaben angehen sollen. Wie gehen sie mit Frust oder Langeweile um? Wie können sie sich über eine längere Zeit auf etwas konzentrieren? Wie können sie sich selbstständig einen Inhalt erarbeiten? Ich finde, in der Schule läuft grundsätzlich vieles gut oder geht in die richtige Richtung. Doch beim Vermitteln von Kompetenzen zur Selbststeuerung besteht noch deutlicher Nachholbedarf. Hier sollte mehr geübt und weniger verlangt oder vorausgesetzt werden. Gerade in diesem Bereich werden zu viele Kinder überfordert.

«Die Kompetenzorientierung des Lehrplans 21 ist gut, aber es werden schlichtweg zu viele Kompetenzen gelistet.»

Welches ist Ihrer Meinung nach die wichtigste dieser fünf Kompetenzen?

Ich finde Lesen die wichtigste Fähigkeit. Dafür sollte genug Zeit aufgewendet werden. Eigentlich müssten sogar die Eltern ins Boot geholt und für die Wichtigkeit dieser Kompetenz sensibilisiert werden. Aber ich weiss, dass viele Lehrpersonen auch so schon gestresst sind, um allen Aufgaben nachzukommen. Gemäss Lehrplan 21 sollen ja über 300 Kompetenzen vermittelt werden. Ich finde die Kompetenzorientierung des Lehrplans gut, aber es werden schlichtweg zu viele Kompetenzen gelistet. Ich hoffe, dass künftige Reformen den Lehrplan entschlacken, vereinfachen und Prioritäten setzen.

Es heisst, Kinder seien heute häufiger abgelenkt als früher. Wie sehen Sie das?

Kinder werden heute mit Informationen überflutet. Sie haben Zugang zu allem, was sie interessiert. Das macht es auch schwerer, sich auf eher trockene, repetitive Aufgaben einzulassen. Einige Lehrpersonen oder Eltern versuchen deshalb, alles spielerisch zu gestalten. Doch eigentlich sollten die Kinder langsam an die Fähigkeit herangeführt werden, sich längere Zeit auf etwas zu konzentrieren und dranzubleiben zu können. Das muss man in kleinen Schritten üben.

Machen Sie das auch in Ihren Beratungen?

Regelmässig. Die meisten Beratungen führen wir aufgrund von Lernschwierigkeiten wegen ADS und ADHS. Betroffene Kinder haben Mühe mit der Selbststeuerung. Dazu gehören unter anderem Impulskontrolle sowie das Planen und Organisieren. Heute werden solche Fähigkeiten aber schon in der Grundschule erwartet. Das ist nicht unproblematisch: Je stärker jüngere Kinder in diesem Bereich überfordert werden, desto eher bekommen sie später Schwierigkeiten. Das frühe Einschulungsalter erschwert die Situation noch: Heute liegt es bei vier Jahren – einem Alter, in dem einige Kinder noch Windeln tragen. Aber die Erwartungen an sie sind fast gleich hoch wie früher, als das Einschulungsalter noch höher war.

«Jünger eingeschulte Kinder haben in der Schule mehr Probleme.»

Das Einschulungsalter verschärft die Probleme?

Es gab in diesem Zusammenhang eine grössere Studie in den USA mit 18'000 Schülerinnen und Schülern. Man hat sie in eine jüngere und eine ältere Gruppe unterteilt. Als sie ins Schulsystem eingetreten sind, war die ältere Gruppe durchschnittlich nur wenige Monate älter als die jüngere. Es wurde geprüft, wie viele ADS-Diagnosen im Verlauf der Zeit gestellt werden. Bei der jüngeren Gruppe gab es bei über acht Prozent eine entsprechende Diagnose. Bei der älteren Gruppe waren es nur rund fünf Prozent. Auch mehrere Studien aus dem deutschsprachigen Raum zeigen, dass jünger eingeschulte Kinder mehr Probleme haben. Schon kleine Altersdifferenzen können grosse Unterschiede bedeuten.

Wie können Lehrpersonen bei Bedarf ihren Unterricht besser gestalten?

Ich finde es hilfreich, wenn Lehrpersonen nach dem Motto «weniger ist mehr» Prioritäten setzen. Dabei können sie sich fragen: Angenommen, ich treffe Schülerinnen oder Schüler in fünf Jahren wieder: Was sollten sie aus meinem Unterricht noch wissen und können? Welche Beziehung sollten sie zu meinem Fach aufgebaut haben? Ausgehend von den Antworten kann der Unterricht geplant werden. Viele Lehrkräfte merken dabei: Ich vermittle vieles, von dem ich weiss, dass die Schülerinnen und Schüler es sowieso gleich wieder vergessen – und habe deswegen zu wenig Zeit für das Wesentliche. Wenn ich weiss, wo ich hin will, kann ich das korrigieren.

Gibt es noch einen Tipp für den Umgang mit Schülerinnen und Schülern?

Es bewirkt viel, wenn Lehrpersonen Schülerinnen und Schüler fragen, wie sie sich beim Lernen fühlen und wie sie mit etwaigen Schwierigkeiten umgehen. Dann merken die Kinder, dass es in Ordnung ist, über unangenehme Gefühle beim Lernen zu sprechen und dass die Lehrperson ihnen da durchhilft. Es ist beispielsweise sehr entlastend, wenn Kinder wissen: Beim Vortragen sind die meisten ein bisschen nervös. Das darf so sein – und ich habe eine Klasse und eine Lehrkraft, die mich unterstützen und bei denen ich mich sicher fühlen und etwas wagen kann.

Autor
Kevin Fischer

Datum

22.04.2024

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